2023/02: Social Media in der Beratung
Mediengestützte sozialprofessionelle Beratung im Allgemeinen und sozialpädagogische Beratung im Speziellen haben durch die Covid-19-Pandemie neue Aufmerksamkeit erlangt. Beratungsangebote wie das Krisentelefon und die Telefonseelsorge sowie seit den 1990er-Jahren die Onlineberatung, die in der Regel per Chat oder E-Mail erfolgt, waren und sind stark nachgefragt. Um den Zugang zu Beratungsangeboten niedrigschwellig zu halten, werden zunehmend auch Soziale Medien und Messenger-Dienste in die sozialprofessionelle Beratung eingebunden. Dass das Wissen aus dem Feld der Telefon- und Onlineberatung aber nur bedingt auf die Nutzung Sozialer Medien in der Beratung übertragen werden kann, zeigen die Beiträge des Themenschwerpunkts dieser merz-Ausgabe.
aktuell
Luisa Giebler: Sprachliche Bildung mit Digitalen Bilderbüchern
Digitale Bilderbücher eignen sich ebenso zur sprachlichen Bildung in der frühkindlichen Erziehung wie analoge. Das zeigt die aktuelle Studie ‚Digitale Bilderbücher in der alltagsintegrierten sprachlichen Bildung‘ des Deutschen Jugendinstituts (DJI). Im Projekt wurde untersucht, wie digitale Bilderbücher im Kitaalltag integriert werden können. Dabei stellte sich heraus, dass verschiedene Sprachförderungsmöglichkeiten, wie Vorlesefunktionen oder mehrsprachige Optionen, intensiv anregende sprachliche Interaktionsmöglichkeiten bieten. Außerdem ermöglichen digitale Bilderbücher im Gegensatz zu analogen Büchern mehr Kindern die Teilnahme. Die Studie zeigt, dass die teilnehmenden pädagogischen Einrichtungen jeweils unterschiedliche Einstellungen gegenüber der Integration digitaler Medien in den Kitaalltag haben. Alle Einrichtungen sind sich jedoch einig im Hinblick auf den gesenkten Kostenfaktor durch digitale Bilderbücher und deren vielfältige Teilnahme- und Interaktionsmöglichkeiten.
Ziel der Studie war es, mögliche Berührungsängste mit digitalen Medien auf Seiten der pädagogischen Fachkräfte zu minimieren und den Prozess der Digitalisierung im Kitaalltag zu begleiten. Die Studie soll Einblick in die Praxis ge-währen und Chancen sowie Potenziale einer frühkindlichen digitalen Medienbildung aufzeigen. Zur Erfassung der Daten wurden leitfadengestützte Interviews mit pädagogischen Fachkräften, Gruppendiskussionen und video-gestützte Beobachtungen durchgeführt.
Das Forschungsprojekt wurde von Mai bis Dezember 2022 in Zusammenarbeit mit vier pädagogischen Einrichtungen durchgeführt. Es wurde qualitativ untersucht, welche Chancen und Herausforderungen der Einsatz digitaler Bilder- bücher in Kitas mit sich bringt. Das Projekt wurde gefördert vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.
www.dji.de/digitalebilderbuecher
Beitrag aus Heft »2023/02: Social Media in der Beratung«
Autor: Luisa Giebler
Beitrag als PDFEinzelansichtSwenja Wütscher: Stichwort: ChatGPT
Ein ironisches Gedicht über Verkehrsregeln, die Erklärung des Satz des Pythagoras in einfacher Sprache oder die Berichtigung eines Programmiercodes – der kostenfreie Chatbot ChatGPT hat für (fast) alle, auch komplexe Fragen oder Probleme eine Lösung. Das Sprachmodell GPT-3 von OpenAI ist die Grundlage des Multitalents, welches auf der Deep-Learning-Technologie basiert. Dabei werden Algorithmen aus mehrschichtigen Netzwerken mithilfe riesiger Datenmengen trainiert, im Fall von ChatGPT mit Textmassen aus dem Internet. Und so kann die KI, wie gewünscht, menschenähnliche Konversationen führen und eine breite Palette an Wissen und Fähigkeiten anbieten. Mit erstaunlichen, teils hochgradig kreativen Ergebnissen.1 Wohlgemerkt, mit Fehlern. Zum einen wurde der Chatbot bisher nur mit Informationen bis Ende 2021 gefüttert, dann endet sein Wissensstand. Zum anderen kann die KI beispielsweise nicht hinterfragen, kritisch denken oder auf unvorhergesehene Situationen reagieren. Antworten liefert ChatGPT dennoch immer stolz.
Als virtueller Assistent hat die KI ein hohes Potenzial, nicht nur für die Bildung. Unter anderem als kreativer Ideengeber, als Textgenerator, als echte Konkurrenz zu Suchmaschinen, für automatisierte Antworten oder Übersetzungen ... aber auch als Manipulator oder Verbreiter von Fake-News mit Datenschutzlücken und Big-Brother-Manier.
Beitrag aus Heft »2023/02: Social Media in der Beratung«
Autor: Swenja Wütscher
Beitrag als PDFEinzelansichtLuisa Giebler: Jugendmedienschutzindex 2022
77 Prozent der Eltern sind über Risiken im Internet besorgt, wie der Jugendmedienschutzindex 2022 zeigt. Damit sind die Sorgen über Online-Risiken im Vergleich zu 2017 größer geworden. Am meisten sind Eltern hinsichtlich der Kon-
taktrisiken im Internet sowie belastender Inhalte besorgt (je 33 % und 32 %, die mindestens eine Sorge nennen). Bei den befragten Kindern und Jugendlichen, die mindestens eine Sorge nennen, bezieht sich die größte Sorge auf das Verhalten anderer Heranwachsender; meist explizit mit dem Begriff „Mobbing“ benannt (34 %). Außerdem zeigen sich Unterschiede in den Sorgen der Eltern von Mädchen und Jungen: Die Sorge im Hinblick auf Kontakte mit Unbekannten im Internet ist bei Eltern von Mädchen deutlich höher (48 %) als bei denen von Jungen (11 %). Die zeitliche Onlinenutzung hingegen bereitet Eltern von Jungen mehr Sorgen als Eltern von Mädchen (je 28 % und 8 %). 45 Prozent der Heranwachsenden wurden selbst schon einmal online belästigt, doch nur 26 Prozent schätzen dies auch als Risiko bei Gleichaltrigen ein. Im Vergleich zu 2017 geben weniger Kinder und Jugendliche an, dass sie wissen, an wen sie sich bei negativen Erfahrungen im Internet wenden können. Der Wert ist von 79 auf 60 Prozent gesunken.Für die Studie wurde die Befragung zum Jugendmedienschutzindex 2017 wiederholt. Die Studie lief im Auftrag der Freiwilligen Selbstkontrolle Multimedia-Diensteanbieter (FSM e. V.), durchgeführt vom JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis und dem Leibnitz-Institut für Medienforschung | Hans-Bredow-Institut (HBI). Im Frühjahr 2022 wurden 805 Kinder und Jugendliche im Alter von 9 bis 16 Jahren und je ein Elternteil befragt, der sich für die Onlinenutzung des Kindes zuständig fühlt.
www.jugendmedienschutzindex.de
Beitrag aus Heft »2023/02: Social Media in der Beratung«
Autor: Luisa Giebler
Beitrag als PDFEinzelansichtLisa Melzer: ARD/ZDF–Onlinestudie 2022
95 Prozent der Gesamtbevölkerung nutzen inzwischen das Internet, 80 Prozent sogar täglich. Annähernd alle 14- bis 29-Jährigen sind täglich online, bei den Über-70-Jährigen sind es erstmals mehr als die Hälfte (51 %). Zu diesen und
weiteren Ergebnissen kommt die ARD/ZDF-Onlinestudie 2022.Durch den erheblichen Zuwachs bei der Internetnutzung liegt es nahe, dass auch die Nutzungsintensität entsprechend gestiegen ist. So zeigt sich, dass Medieninhalte oder Streams im Internet mit durchschnittlich 160 Minuten pro Tag intensiver genutzt werden (+ 24 Minuten). Über die Altersgruppen hinweg liegt die Online-Bewegtbildnutzung (inklusive YouTube, Mediatheken und Streamingdiensten) besonders weit vorn: 51 Prozent der Bevölkerung nutzen mindestens monatlich ein entsprechendes Angebot (+ 15 %). Der Konsum von Audio- (42 %) oder Textinhalten (45 %) lag 2022 etwa gleich auf, mit einer Steigerung zum Vorjahr (+ 10 %).
Neue Entwicklungen lassen sich mit Blick auf die Nutzung Sozialer Medien feststellen. Hier wuchs die Zahl derjenigen, die mindestens wöchentlich Soziale Netzwerke nutzen, von 47 auf 50 Prozent. Bei mindestens wöchentlicher Nutzung liegt Facebook (35 %) vor Instagram (31 %), mit Abstand folgen TikTok (14 %) und Snapchat (13 %). Mit Blick auf Messenger-Dienste wird Whatsapp weiterhin altersgruppenübergreifend am meisten genutzt (68 %), Telegram und Signal können einen leichten Zuwachs von drei auf fünf Prozent verzeichnen.
Überraschende Ergebnisse liefert die Studie im Hinblick auf die Frage, wie verbreitet digitale Auszeiten bei den Befragten sind. So geben 15 Prozent an, die Nutzung ihrer digitalen Geräte oder Medien regelmäßig einzuschränken,
17 Prozent haben es immerhin schon mehrmals ausprobiert. Vor allem bei den Unter-30-Jährigen ist die digitale Auszeit verbreitet: Zwei Drittel haben bisher mindestens einmal ihre Medienzeit bewusst eingeschränkt.Die Grundlagenstudie wurde im Auftrag der ARD/ZDF-Forschungskommission durchgeführt und bildet jährlich die Entwicklung der Internetnutzung in Deutschland ab. Im Jahr 2022 wurden 1.500 repräsentativ ausgewählte deutschsprachige Personen ab 14 Jahren telefonisch sowie über ein Onlinepanel befragt.
www.ard-zdf-onlinestudie.de
Beitrag aus Heft »2023/02: Social Media in der Beratung«
Autor: Lisa Melzer
Beitrag als PDFEinzelansichtKati Struckmeyer: Kinderrechtliche Potenziale der Digitalisierung
Wenn es um die Risiken der Mediennutzung Heranwachsender geht, wird in Diskussionen oft einseitig eine Schutzperspektive eingenommen. Zu wenig benannt und diskutiert werden die Bedeutung digitaler Technologien für Chancengerechtigkeit, (Demokratie-)Bildung, Mitbestimmung, Inklusion, Zugehörigkeit und Wohlbefinden, sowie für die Bewältigung von Entwicklungsaufgaben und die Stärkung von Resilienz. Das Deutsche Kinderhilfswerk (DHKW) hat daher im Februar ein Positionspapier veröffentlicht, das auf den Fachbeiträgen des Online-Dossiers ‚Teilhaben! Kinderrechtliche Potenziale der Digitalisierung‘ basiert.
Im Papier wird in elf Handlungsempfehlungen beschrieben, welche Potenziale durch das digitale Umfeld für die Umsetzung von Kinderrechten entstehen und welche Maßnahmen notwendig sind, damit diese umgesetzt werden können. Zuerst wird geklärt, was (digitale) Teilhabe von Kindern und Jugendlichen überhaupt ist. In den folgenden Handlungsempfehlungen geht es zum Beispiel um die partizipative Weiterentwicklung der digitalen Medien- und Spielelandschaft, um Meinungsäußerung im digitalen Umfeld, Kinder- und Jugendmedienschutz sowie inklusive Zu-gänge und altersgerechte Teilhabeoptionen. Die Empfehlungen sollen – analog zum Dossier – laufend erweitert und überarbeitet werden.
Beitrag aus Heft »2023/02: Social Media in der Beratung«
Autor: Kati Struckmeyer
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thema
Daniela Cornelia Stix/Susanne Eggert: Editorial: Wo guter Rat nicht teuer ist
Menschen suchen in der Regel Rat, wenn sie in einer herausfordernden Situation oder Problemlage selbst keine geeigneten Lösungsmöglichkeiten sehen:
„Also betrifft das Überlegen die Dinge, die zumeist begegnen, die ungewiss sind, wie sie herauskommen, und bei denen unbestimmt ist, wie man handeln soll. Bei den großen Sachen nehmen wir Berater dazu, da wir uns selbst misstrauen und uns nicht für fähig halten, allein zu entscheiden.“ (Aristoteles, Eth. Nic 1112b, zit. n. DBSH 2002, S. 6)
Die hinzugezogenen Berater*innen sind dabei in ihrer Form so alt wie vielfältig. Neben der besten Freundin und dem guten Nachbarn im Privaten gibt es spezifische sozialprofessionelle und therapeutische Angebote. Auch die Medien bieten zahlreiche Möglichkeiten, sich in herausfordernden Situationen Rat einzuholen. Ratgeberliteratur, Rollenvorbilder in Serien und YouTube-Tutorials stellen hier unzählige massenmediale Angebotsformen dar. Nicht zuletzt werden (Massen-)Medien genutzt, um den Zugang zu individueller Beratung zu erleichtern. Insofern erscheint es konsequent, in dieser Ausgabe die Chancen von Social Media und Messengern für die Beratung aufzugreifen. Doch zuvor soll das Spektrum von (medialen) Ratgebern und Beratung differenziert werden.
Der Rat aus den Massenmedien
Der sicherlich bekannteste mediale Ratgeber ist das 1788 erschienene Buch Über den Umgang mit Menschen von Adolph Knigge. Wenngleich Knigge damals eine eher soziologische Aufklärungsschrift im Sinn hatte (Quelle Wikipedia), gilt uns das Buch heute vor allem als Benimm-Ratgeber. Das erste explizite Ratgeberbuch veröffentlichte der Schotte Samuel Smiles 1859. Mit seinem Titel Self-Help brachte er einen bis heute andauernden Prozess der boomenden Ratgeberliteratur ins Rollen, der sich unter anderem darin zeigt, dass der Spiegel eine eigene Bestsellerliste für die Kategorie ‚Ratgeber Leben & Gesundheit‘ führt. Die aktuell größte Bekanntheit dürften die Aufräum-Ratgeber von Marie Kondō erlangt haben. Wem Bücher zu teuer und zu dick sind, die*der findet auch in Zeitschriften Rat. Ein Beispiel zum Thema Gesundheit und Sexualität ist Dr. Sommer aus der Jugendzeitschrift BRAVO.
Der Zeitschriftenmarkt ist thematisch breit gestreut und wenngleich die Zeitschriften nicht als Ratgeber per se gelten, bieten doch die meisten ihren Leser*innen eine gewisse Orientierung und umfassen darüber hinaus in der Regel eine Kategorie, in der Fragen der Leser*innen beantwortet werden. Rat findet sich also nicht nur in Medien, die als solche deklariert sind. Ein weiteres Beispiel dafür sind Filme und Serien. Viele Menschen nehmen Schauspieler*innen bzw. von ihnen verkörperte Rollen als Vorbilder für bestimmte Lebenssituationen. Vorausgesetzt, dass diese lebensnah sind und ein diverses Rollenangebot umfassen. In der Serie GZSZ beispielsweise sind immer wieder queere Handlungsstränge integriert und im Sommer 2020 konnten die Zuschauer*innen den Outing-Prozess von Moritz Bode erleben. Jay Shetty formuliert dies sehr treffend: „So we’re often thrown into relationships with nothing but romantic movies and pop culture to help us muddle through“. Shatty ist der Autor des Ratgebers 8 Rules of Love, mit dem er im Jahr 2023 auf World Tour ist. Den Zuschauer*innen verspricht er im Rahmen seiner Show „a journey of finding, keeping, and even letting go of love. Including live meditations, experiments, and demonstrations“. Hier bekommt das Ratgeben also nochmal eine ganz neue interaktive massenmediale Form. Wer es audiovisuell etwas passiver mag, schaut sich Videos auf Tiktok, Instagram oder YouTube an. Dass sowohl Marie Kondō als auch Dr. Sommer inzwischen im Internet vertreten sind, ist keine Frage. Nicht nur auf YouTube hat Marie Kondō mit @MarieKondoTV einen eigenen Kanal und wer „aufräumen + kondo“ bei YouTube eingibt, findet nahezu unendliche viele weitere Videos, in denen erklärt wird, warum Ordnung für die Psyche wichtig ist, wie man ausmistet und wie Dinge richtig verstaut werden. Dr. Sommer ist natürlich ebenfalls mit @DrSommerTV auf YouTube vertreten und beantwortet auf der Webseite www.bravo.de gesundheit in klassischer Manier ‚Spannende Sex-Fragen‘. Die Selbstbeschreibung lautet hier: „Das Team ist beratend tätig und unterstützt bei Themen wie Pubertät, sexuelle Identität, Beziehungen, physische und psychische Gesundheit, Liebe, Sexualität und Entwicklung. Dennoch ersetzt unsere Beratung nicht den Besuch bei Facharzt, Anwalt oder Psychologen [sic!]. Hast du eine Frage an unser Team? Schreib uns unter: drsommerteam@bravo-family.de“.
Hinter dem massenmedialen Rat stehen einerseits Lai*innen mit entsprechender Erfahrung oder solche, die sich ihr Wissen autodidaktisch angeeignet haben und dieses weitergeben wollen. Andererseits finden sich hier auch Professionelle, also Praktiker*innen, die ihre Praxiserfahrungen weitergeben wollen oder Wissenschaftler*innen, die ihre Erkenntnisse einer breiten Gruppe zukommen lassen wollen und daher auf populärwissenschaftlicher Ebene öffentlich agieren.
Individuelle Beratung
Individuelle Beratung kann ebenfalls als Lai*innen- oder professionelle Beratung stattfinden und bietet auf unterschiedlichen Ebenen der Kommunikation und mittels unterschiedlicher Techniken (z. B. zuhören, Verständnis zeigen, Perspektiven darlegen, Ratschläge erteilen, pragmatische Tipps geben, Sachverhalte erklären, Informationen bereitstellen, psychotherapeutisch intervenieren) Erkenntnispotenzial, Orientierungsangebot und Hilfestellung für die persönlichen Herausforderungen. Laut Nando Belardi haben jedoch gesellschaftliche Veränderungen sowie ansteigende Komplexität und Unsicherheit eine Zunahme des professionellen Beratungsbedarfs bewirkt (vgl. Belardi 2011, S. 41). Zugleich stellt Belardi eine „Therapeutisierung der Gesellschaft“ fest (ebd., S. 43), weshalb im Folgenden zunächst eine Abgrenzung von Lai*innen- und professioneller Beratung bedeutsam erscheint, bevor auf die Merkmale sozialprofessioneller Beratung eingegangen wird.
Individuelle Beratung in Form der Lai*innen-beratung findet nahezu überall in Gesprächen zwischen Freund*innen, Kolleg*innen oder Familienmitgliedern statt. Außerdem nehmen häufig Menschen in Dienstleistungsberufen wie Taxifahrer*innen, Friseur*innen, Physiotherapeut*innen oder Bartender*innen beratende Rollen für Menschen ein. Lai*innen-beratung ist somit eine alltägliche zwischenmenschliche und lebensweltlich eingebettete Kommunikationsform und umfasst das Erteilen von Ratschlägen, die Klärung von Problemen oder Anregungen zur Auflösung von Krisensituationen. Insbesondere in den zuvor genannten Dienstleistungsberufen erstreckt sich die Beratungshandlung meist nur auf Aspekte wie das Zuhören, Verständnis zeigen und Mut geben (ebd., S. 36). Die Beratenden können, müssen aber nicht, Erfahrung mit ähnlichen oder gleichen Problemlagen haben. Durch die Verbalisierung und den Austausch wer- den ein Problem oder eine herausfordernde Situation erhellt, die eigenen Ressourcen erkannt und möglicherweise neue Handlungsoptionen aufgedeckt. An ihre Grenzen kommt die Lai*innenberatung bei komplexen Situationen, denn die erteilten Handlungsvorschläge sind subjektiv und von den Sichtweisen und Interessen der Beratenden geprägt und nicht zwangsläufig zum Besten der Ratsuchenden. Mediale Formen der Lai*innenberatung finden beispielsweise in Internetforen und Chats statt. Hier treffen sich Gleichgesinnte, um miteinander Probleme oder Fragen zu erörtern. Unter Apfeltalk treffen sich beispielsweise Mac-Nutzer*innen und unter Ubuntuusers beraten und unterstützen sich Nutzer*innen des entsprechenden Linux-Betriebssystems. Durch Nachrichtenmeldungen haben einige spezifische Foren wie Suizid- oder Abnehm-Foren traurige Bekanntheit erlangt. In diesen Foren haben sich die Teilnehmer*innen gegenseitig hinsichtlich der effizientesten Selbstmord- oder Abnehmmethoden beraten.
Die professionelle individuelle Beratung muss in die psychotherapeutische und die sozialprofessionelle Beratung unterteilt werden. Im psychotherapeutischen Setting kann statt von Beratung auch von einer (Heil-)Behandlung ge- sprochen werden. Sie findet in psychotherapeutischen Praxen oder Kliniken statt. Die Ratsuchenden sind dementsprechend Patient*innen und die Beratenden sind ausgebildete psychologische oder medizinische Psychotherapeut*innen oder Kinder- und Jugendpsychotherapeut*innen. Der Zugang für die Patient*innen ist relativ hochschwellig und erfolgt über Ärzt*innen, Beratungsstellen oder durch eigenes Bemühen um einen Therapieplatz. Abhängig vom Vorliegen eines ärztlichen Gutachtens erfolgt die Finanzierung über Krankenkassen. Die Behandlung umfasst meist einen längeren, vielfach Jahre dauernden Zeitraum. Während in der Sozialen Arbeit auch Kontakte zu anderen Einrichtungen hergestellt und gegebenenfalls verschiedene Maßnahmen koordiniert werden, ist der*die Psychotherapeut*in die einzige professionell mit der*dem Patient*in arbeitende Person und die Form der Hilfeleistung besteht ausschließlich im Gespräch.
Hier soll es um die sozialprofessionelle Beratung im Kontext Sozialer Arbeit gehen. Sie stützt sich auf fundiertes fachliches Wissen, auf spezifische Theorien sowie auf Methoden der Kommunikation und Interaktion. Damit zielt sie auf einen aktiven Verständigungsprozess, der sich durch Nachfragen auszeichnet und oberflächliche Interpretationen und eine vorschnelle subjektive Sicht auf die Situation vermeidet (vgl. DBSH 2002, S. 6). Die sozialprofessionelle Beratung ist folglich gekennzeichnet „durch ihre systematische, kontrollierte Erkenntnisgewinnung und ein erlerntes, strukturiertes Vorgehen“ (Straumann 2001, S. 81). Der Umgang mit den vielfältigen Beratungsinhalten und -situationen setzt bei den Sozialarbeiter*innen folglich eine hohe fachliche Kompetenz sowie professionelle Flexibilität voraus, denn jede Beratungssituation erfordert die gleiche professionelle und sowohl in die Breite als auch in die Tiefe gehende Vorgehensweise, um den in der Regel komplexen Gegenstandsbereich adäquat im Sinne einer „ganzheitlichen Hilfe“ (DBSH 2002, S. 5) zu erfassen. Das Ziel sozialprofessioneller Beratung ist „eine situationsadäquate, kommunikativ vermittelte und vereinbarte Unterstützungshandlung zur Verbesserung der Einsichts-, Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit von Einzelnen, Gruppen und Institutionen“ (vgl. DBSH 2002, S. 3). Die sozialprofessionelle Beratung umfasst mit der Leistungsberatung, der organisatorischen Beratung und der sozialpädagogischen Fallberatung, drei Beratungsformen. Die Leistungsberatung wird meist von Verwaltungsfachangestellten oder Sozialfachwirt*innen ausgeübt und umfasst vorwiegend das Informieren, das Auskunft geben sowie gegebenenfalls eine Wegweiserfunktion. Bei der organisatorischen Beratung handelt es sich genau genommen nicht um individuelle Beratung, sondern tendenziell eher um gruppenbezogene Beratungsgespräche, wie sie bei der Supervision, in Teamsitzungen, in Gremien, bei Hilfeplankonferenzen oder in Stadtteilkonferenzen. stattfinden. Unter sozialpädagogischer Beratung wird die fallspezifische Beratung verstanden, bei welcher sich Einzelne oder mehrere mit einem sozialpädagogischen Anliegen an die Sozialarbeiter*innen wenden. Sozialpädagogische Beratung sollte laut Belardi „den Betroffenen helfen, unerwünschte, aber eigentlich normale und manchmal sogar notwendige Probleme menschlicher Existenz zu meistern“ (Belardi 2011, S. 39). Häufig findet eine Beratung auf zwei Ebenen statt: Zum einen auf der Ebene, in der es um die Bearbeitung und Bewältigung einer akuten Aufgabe oder herausfordernden Situation geht. Zum anderen soll die*der Rat-suchende auf der zweiten, der pädagogischen Ebene befähigt werden, zukünftige herausfordernde Situationen weitgehend selbst lösen zu können. Daher bewegen sich Sozialarbeiter*innen bei der sozialpädagogischen Beratung auf einem Grat zwischen ‚systematische Lösung/Entscheidung vorgeben‘ und ‚Lösung selbst finden‘ bzw. ‚Entscheidung selbst treffen‘ lassen. Bei der Lösungs- und Entscheidungsfindung gilt es zu unterstützen, indem Handlungsalternativen aufgezeigt, Wissen vermittelt, Orientierung gegeben und Alternativen aufgezeigt werden. Unterstützung ist auch wichtig, wenn es darum geht, die Ursachen und Hintergründe zu erforschen und einzuordnen. Belardi weist dabei mit Nachdruck darauf hin, dass grundsätzlich eine Defizitorientierung zu vermeiden ist: „Die Ratsuchenden haben bis jetzt ihr Leben ohne fremde Hilfe gemeistert. Diese Fähigkeiten heißt es zu verstärken und nicht erst einmal in Frage zu stellen.“ (Belardi 2011, S. 45).
Im Vordergrund sollten daher die Eigenbemühungen, Kompetenzen und Ressourcen der*des Ratsuchenden stehen, die unterstützt, gefördert und erweitert werden können, indem kleine realisierbare Teilschritte gemeinsam mit dem*der Ratsuchenden erarbeitet werden (vgl. Belardi 2011, S. 45) oder Informationen gegeben und Kontakt zu anderen Hilfestellen vermittelt werden. Basis sind in jeder Hinsicht eine kooperative und vertrauensvolle Beziehung und ein offenes Gespräch, das die*den Ratsuchenden zu einer bewussten Wahrnehmung der Situation bringt und die dazu führt, dass er*sie seine*ihre Verhaltensmuster, Wahrnehmungen, Gefühle, Gedanken, Einstellungen verändert. Die sozialpädagogische Beratung zeichnet sich dadurch aus, dass sie viele unterschiedliche und sich ergänzende Aspekte umfasst und keinen ausschließenden Charakter hat, sich also inhaltlich nicht nur auf einen Aspekt konzentriert (vgl. Belardi 2011, S. 34). Mediengestützte sozialprofessionelle Beratung im Allgemeinen und sozialpädagogische Beratung im Speziellen hat durch Corona neue Aufmerksamkeit erlangt. Beratungsangebote wie das Krisentelefon und die Telefonseelsorge sowie seit den 1990er-Jahren die Onlineberatung, die in der Regel per Chat oder E-Mail erfolgt, waren und sind stark nachgefragt. Um den Zugang zu Beratungsangeboten niedrigschwellig zu halten, werden zunehmend auch Social Media und Messenger in die sozialprofessionelle Beratung eingebunden. Dass das Wissen aus dem Feld der Telefon- und Onlineberatung aber nur bedingt auf die Nutzung von Social Media in der Beratung übertragen werden kann, zeigen die Beiträge des Themenschwerpunkts dieser Ausgabe.
Nichtmenschliche AI-Based Beratung
In aller Munde ist derzeit die auf künstlicher Intelligenz basierende Software ChatGPT (siehe Wütscher 2023 in dieser Ausgabe, S. 5) des US-Unternehmens OpenAI. Ein der Software implizierter Chatbot erzeugt in kürzester Zeit Texte unterschiedlicher Textsorten (u. a. Text- zusammenfassungen, Dankschreiben, Reden, Bewerbungen, Seminararbeiten, Projektkonzepte). Darüber hinaus soll ChatGPT in der Lage sein, nahezu menschliche Antworten auf Fragen aller Art zu verfassen und komplexe Sachverhalte einfach zu erklären. Allerdings zeigte der erste Test (eine Zusam-menfassung eines von mir selbstverfassten Buches zu erstellen) noch deutliche Schwächen. Es scheint plausibel, dass diese darin begründet liegen, dass der Inhalt des Buchs zwecks Analyse zunächst ins Englische übersetzt und dann für die Antwort/Zusammenfassung rückübersetzt wurde, weshalb beispielsweise statt des in sozialarbeiterischen Kontexten gebräuchlichen Begriffs „Einrichtungen“ nun „Unternehmen“ genutzt wird. Ein zweiter und dritter eigens für dieses Editorial gemachter Versuch, löste zunächst eine Warnmeldung aus. Die Antwort auf die Aussage, „mein Freund hat Schluss gemacht“, umfasste vier Sätze, die einem bestimmten Schema folgten: (1) verstehendes Verständnis inklusive Zusammenfassung der Anfrage, (2) Empathiebekundung, (3) Ratschlag, (4) Verabschiedung. Die ChatGPT-Antwort auf meine dritte Anfrage stellt sich ähnlich dar (siehe Abb.). Dass der Chatbot damit an seine Grenzen stößt bzw. die dahinterstehenden Verantwortlichen damit bewusst möglichen Schadenspflichtansprüchen vorbeugen wollen, ist nachvollziehbar. Positiv ist dennoch, dass ChatGPT den Ratsuchenden zunächst durch die Empathiebekundungen das Gefühl vermittelt, wahr-und ernstgenommen zu werden. Und es stellt sich die Frage, ob dies Sozialprofessionellen in ihrem stressigen Alltag auch immer so gut gelingt ... Im Hinblick auf die technologischen Entwicklungen daher als Schlusssatz ein altes Sprichwort leicht abgewandelt: „Kommt Zeit, kommen neue Beratungsformen.“
Die Themenbeiträge
Die Nutzung von Messengern ist vermutlich für die meisten Leser*innen ein alltägliches Phänomen und Teil ihrer medialen Alltagspraktiken, insofern eröffnet Petra Riesau, die sich in ihrem Beitrag mit den Besonderheiten und Herausforderungen der Messengerberatung beschäftigt, einen alltagsnahen Einstieg in das Thema. Anschließend analysiert Marc Witzel in Form einer theoretischen Annäherung Social Media als Räume für Beratung. Im Fokus steht die Gestaltung digitaler sozialpädagogischer Orte als professionelle Herausforderung. Wie sich das konkret in der Praxis gestaltet, beschreibt Julian Erdmann am Beispiel der Digital Streetwork. Wobei er den Blick auf die Grenzen/-losigkeit und die damit einhergehenden Entgrenzungen lenkt. Nachdem mit den ersten Beiträgen die besonderen Rahmenbedingungen für Beratungssettings mit Social Media beleuchtet werden, gehen die beiden folgenden Beiträge auf die Perspektiven der am Beratungsprozess direkt involvierten Personen ein: Laura Best hat die Akzeptanz der Videoberatung aus der Kli-ent*innen-Perspektive untersucht und stellt ihre Erkenntnisse zusammengefasst vor. Inse Böhmig und Jessica Ranitzsch beschreiben, warum es eine Kunst ist, digitale*r Berater*in zu sein und welche Fähigkeiten und Kompetenzen es dazu braucht. Den Abschluss der Themenbeiträge bildet ein Interview mit Warc Weinhardt, in dem er die zukünftigen Möglichkeiten und Perspektiven der (digitalen) Beratung diskutiert.
Abgerundet wird das Thema durch die Vorstellung des Instituts für E-Beratung an der TH Nürnberg und ein themenorientiertes Glossar. Wir wünschen viel Spaß beim Lesen und hoffen, mit dem Themenschwerpunkt einige Denkanstöße liefern zu können.
Literatur
Belardi, Nando (2011). Beratung. Eine sozialpädagogische Einführung. Weinheim/München: Beltz Juventa.
Deutscher Berufsverband für Soziale Arbeit e. V. (DBSH) (2002). Qualitätsbeschreibung Sozialprofessionelle Beratung. Berlin. www.dbsh.de/media/dbsh-www/downloads [Zugriff: 15.03.2023]
Straumann, Ursula (2001). Professionelle Beratung: Bausteine zur Qualitätsentwicklung und Qualitätssicherung. Kröning: Asanger.
1Der Beitrag bezieht sich auf die Publikation: Stix, Daniela C. (2021). Praxishandbuch. Beraten mit Social Media.
Digitale Soziale Arbeit mit Jugendlichen. Weinheim: Beltz Juventa.Beitrag aus Heft »2023/02: Social Media in der Beratung«
Autor: Daniela Cornelia Stix, Susanne Eggert
Beitrag als PDFEinzelansichtPetra Risau: Messenger – das Beratungsformat der Zukunft? Besonderheiten und Herausforderungen
Durch die Digitalisierung haben sich die Kommunikationskanäle in den letzten Jahren zunehmend ausdifferenziert. Dabei hat sich die Nutzung von Messengerdiensten im Alltag zu einer der beliebtesten Kommunikationsformen entwickelt und damit auch ihren Einzug in die Beratung gefunden. Doch was macht den Messenger so besonders, für wen ist dieser geeignet und was sollten Beratungsfachkräfte beim Einsatz berücksichtigen?
Literatur
Beißwenger, Michael (2020). Internetbasierte Kommunikation als Textformen-basierte Interaktion: ein neuer Vorschlag zu einem alten Problem. In: Marx, Konstanze/Lobin, Henning/Schmidt, Axel (Hrsg.), Deutsch in Sozialen Medien. Interaktiv – multimodal – vielfältig. Berlin/München/Boston: de Gruyter,
S. 291–318. DOI: 10.1515/9783110679885-015 [Zugriff: 07.01.2023].Engelhardt, Emily M. Engelhardt/Piekorz, Katharina (2022): Einführung in die Onlineberatung per Messenger. In: e-Beratungsjournal. Zeitschrift für Onlineberatung & computervermittelte Kommunikation, 18 (1), S. 18–33. DOI: 10.48341/3xv3-8186.
Engels, Sylvia/Risau, Petra (im Erscheinen): Wie mit Messenger beraten? Ein Überblick über Rahmenbedingungen für Interventionen in der Messengerberatung.
Gahleitner, Sike, Brigitta/Preschl, Bettina (2016). Professionelle Beziehungsgestaltung über das Internet: Geht denn das überhaupt? Überlegungen zu einem methodenübergreifenden Wirkfaktor. In: Resonanzen – E-Journal für biopsychosoziale Dialoge in Psychosomatischer Medizin, Psychotherapie, Supervision und Beratung, 4 (2), S. 108–129.
Hintenberger, Gerhard (2021). „Kannst du hören, was ich geschrieben habe?“ Interaktionsorientiertes Schreiben als Intervention in der Onlineberatung. Präsentation des Vortrags beim 15. Fachforum Onlineberatung am 20.09.2021. fachforum-onlineberatung.de [Zugriff: 18.02.2023]
Knatz, Birgit/Schumacher, Stefan (2019). Mediale Dialogkompetenz: Umgang mit schwierigen Gesprächssituationen am Telefon und im Chat. Wiesbaden: Springer VS.
Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (mpfs) (2022). JIM 2022. Jugend, Information, Medien. Basisuntersuchung zum Medienumgang 12- bis 19-Jähriger in Deutschland. Stuttgart. www.mpfs.de/fileadmin/files/Studien/JIM/2022/JIM_2022_Web_final.pdf [Zugriff: 09.01.2023]
Stix, Daniela Cornelia (2021). Praxishandbuch Beraten mit Social Media. Digitale Soziale Arbeit mit Jugendlichen. Weinheim/Basel: Beltz.
Beitrag aus Heft »2023/02: Social Media in der Beratung«
Autor: Petra Risau
Beitrag als PDFEinzelansichtSarah Lorenz: Glossar
BLENDED COUNSELING Das Blended Counseling beschreibt eine hybride Beratungsform von Online- und Offline-Angeboten (Stix 2022, S. 23). Vereinfacht gesagt, wird die digitale Beratung mit der klassischen Face-To-Face-Beratung verknüpft bzw. kombiniert.
DIGITALE BERATUNG Die digitale Beratung – häufig auch als Online-Beratung oder Internetberatung betitelt – bezeichnet die interaktive, internetbasierte psychosoziale Beratung zwischen einem*r Ratsuchenden und dem*r Online-Berater*in. Das heißt, die Beratung geschieht online. Zentrales Medium ist das Internet (Gehrmann 2014, S. 66). Erfolgen kann dies mithilfe verschiedener digitaler Tools, wie zum Beispiel per E-Mail, Chat oder über Foren.
DIGITALE TRANSFORMATION Die digitale Transformation beschreibt den technologischen Wandel (Beranek/Hammerschmidt et al. 2018, S. 9). Vereinfacht gesagt, bezeichnet es den Prozess des Einzugs digitaler Medien in den Alltag von Menschen, der nahezu alle gesellschaftlichen Bereiche beeinflusst bzw. tangiert.
DIGITALES BERATUNGSSETTING Unter dem digitalen Beratungssetting werden allgemein die Rahmenmerkmale der Umgebung, Atmosphäre und ‚Räumlichkeit‘, in der die digitale Beratung stattfindet, verstanden.
FACE-TO-FACE-BERATUNG Unter der Face-to-Face-Beratung wird die klassische Methode der psychosozialen Beratung in Präsenz, das heißt, in direkter Interaktion vor Ort auch ‚Angesicht-zu-Angesicht‘ (Stix 2022, S. 23), verstanden. Sie bezeichnet allgemein eine soziale Interaktion zwischen einem*r ratsuchenden Klient*in und Berater*in, die gekennzeichnet ist durch Freiwilligkeit, zeitliche Begrenztheit und Situativität. Ziel dabei ist die Vermittlung von Wissen, Orientierung und Lösungskompetenz, sowie das gemeinsame Erarbeiten von Fertigkeiten, um letztlich aktuelle Probleme und Fragen zu bewältigen (vgl. Brem-Gräser 1993, S. 15)
IMMERSION bezeichnet das Eintauchen in und Erleben von einer virtuellen Realität (VR). Das heißt, der Fokus ist voll und ganz auf die VR gerichtet, wobei die eigene Person und die reale Umgebung ‚verloren gehen‘. Für die Beratung und Begleitung von Klient*innen in der Sozialen Arbeit kann die Herstellung einer immersiven Umgebung von potenziellem Mehrwert sein, da der Fokus nicht nur auf das Medium der virtuellen Realität gelenkt wird. Vielmehr können komplexe Wirkungszusammenhänge und Prozesse verstanden werden. Es geht also auch darum, was mit und in der virtuellen Realität gemacht wird bzw. welcher zusätzliche sinn- und gewinnbringende Beitrag entsteht.
REPLIKA, WYSA, DEPREXIS Die vollmediale, algorithmische Beratung, welche ohne menschliche Fachkraft und mithilfe von (Gesundheits-)Apps durchgeführt wird, gewinnt zunehmend an Bedeutung. Replika, Wysa und Deprexis sind erste Beispiele, die bereits in der Praxis eingesetzt werden.
VIDEOBERATUNG ist eine Form der digitalen Beratung. Die Kommunikation zwischen räumlich getrennte*r Berater*in und Ratsuchenden findet dabei synchron über ein Videoübertragungssystem statt, welches bei Bedarf um textbasierte Kommunikation ergänzt werden kann (Engelhardt/Gerner 2017)
VIRTUAL-REALITY-/AUGMENTED-REALITY-TECHNOLOGIEN (VR/AR) Mithilfe von VR-Technologien wird versucht, eine virtuelle Welt zu kreieren, die möglichst echt und intensiv erlebt wird. Häufig werden dafür spezielle Brillen und Helme mit Displays eingesetzt (Stix 2022, S. 154). Die AR-Technologie wird oftmals für die Erweiterung der Realität genutzt, das heißt, Gegenstände werden lebensecht eingeblendet. Besonders VR-Technologien weisen ein großes Potenzial für Beratung und Begleitung von Klient*innen der Sozialen Arbeit auf.
Literatur
Beranek, Angelika/Hammerschmidt, Peter/Hill, Burkhard/Sagebiel, Juliane (2018). Einführung: Big Data, Facebook, Twitter & Co. Soziale Arbeit und digitale Transformation. In: Hammerschmidt, Peter/Sagebiel, Juliane/Hill, Burkhard/Beranek, Angelika (Hrsg.), Big Data, Facebook, Twitter & Co. und Soziale Arbeit. Weinheim/Basel: Beltz, S. 9–32.
Brem-Gräser, Luitgard (1993). Handbuch der Beratung für helfende Berufe. München/Basel: Ernst Reinhardt.
Engelhardt, Emily M./Gerner, Verena (2017). Einführung in die Onlineberatung per Video. In: e-beratungsjournal.net – Fachzeitschrift für Onlineberatung und computervermittelte Kommunikation, 13 (1), S. 18–29.
Gehrmann, Hans-Joachim (2014). Onlineberatung – zwischen Wachstum und Ernüchterung. In: Bauer, Petra/Weinhardt, Marc (Hrsg.), Perspektiven sozialpädagogischer Beratung. Empirische Befunde und aktuelle Entwicklungen. Weinheim/Basel: Beltz, S. 65–81.
Stix, Daniela Cornelia (2022). Praxishandbuch Beraten mit Social Media. Digitale Soziale Arbeit mit Jugendlichen. Weinheim/Basel: Beltz.
Beitrag aus Heft »2023/02: Social Media in der Beratung«
Autor: Sarah Lorenz
Beitrag als PDFEinzelansichtMarc Witzel: Die Gestaltung sozialpädagogischer Orte im virtuellen Raum. Fragen aus einer sozialpädagogischen Perspektive
Sozialpädagogische Orte stellen eine spezifische Art dar, den Raumbezug Sozialer Arbeit zu denken. Sie weisen über die materielle Dimension von lokalen Orten hinaus und sind anschlussfähig an Konzepte des relationalen Raums. In diesem Beitrag frage ich nach den spezifischen Gestaltungsaspekten, die für die Gestaltung digitaler sozialpädagogischer Orte im Allgemeinen und für die Beratung im Besonderen bedeutsam sind.
Literatur
Beranek, Angelika (2018). Zwischen Algorithmen und Wertediskurs. In: Beranek, Angelika/Hammerschmidt, Peter/Sagebiel,Juliane/Hill, Burkhard (Hrsg.), Big Data, Facebook, Twitter & Co. und Soziale Arbeit. Weinheim/Basel: Beltz, S. 155–177.
Boyd, Danah (2011). White Flight in Networked Publics: How Race and Class Shaped American Teen Engagement with MySpace and Facebook. In: Nakamura, Lisa/Chow-White, Peter A. (Hrsg.), Race after the Internet. New York: Routledge, S. 203–222.
Klein, Alexandra (2007). Soziales Kapital Online: Soziale Unterstützung im Internet. Eine Rekonstruktion virtualisierter Formen sozialer Ungleichheit. Dissertation. Bielefeld: Universität Bielefeld.
Löw, Martina (2020). In welchen Räumen leben wir? Eine raumsoziologisch und kommunikativ konstruktivistische Bestimmung der Raumfiguren Territorialraum, Bahnenraum, Netzwerkraum und Ort. In: Reichertz, Jo (Hrsg.), Grenzen der Kommunikation – Kommunikation an den Grenzen. Weilerswist: Velbrück, S. 149–164.
Löw, Martina/Sturm, Gabriele (2019). Raumsoziologie: Eine disziplinäre Positionierung zum Sozialraum (Sozialraumforschung und Sozialraumarbeit). In: Kessl, Fabian/Reutlinger, Christian (Hrsg.), Handbuch Sozialraum. Wiesbaden: Springer VS, S. 3–21.
Sander, Tobias (2014). Soziale Ungleichheit und Habitus als Bezugsgrößen professionellen Handelns: Berufliches Wissen, Inszenierung und Rezeption von Professionalität. In: Sander, Tobias (Hrsg.), Habitussensibilität. Wiesbaden: Springer VS, S. 9–36.
Stix, Daniela Cornelia (2021). Praxishandbuch Beraten mit Social Media. Digitale Soziale Arbeit mit Jugendlichen. Weinheim/Basel: Beltz.
Tillmann, Angela (2010). Medienwelt (Lehrbuch). In: Reutlinger, Christian/Fritsche, Caroline/Lingg, Eva (Hrsg.), Raumwissenschaftliche Basics. Wiesbaden: VS-Verlag, S. 149–157.
Unger, Alexander (2010). Virtuelle Räume und die Hybridisierung der Alltagswelt. In: Grell, Petra/Marotzki, Winfried/Schelhowe, Heidi (Hrsg.), Neue digitale Kultur- und Bildungsräume. Wiesbaden: Springer VS, S. 99–117.
Winkler, Michael (1988). Eine Theorie der Sozialpädagogik. Stuttgart: Klett.
Winkler, Michael (2013). Kritische Soziale Arbeit – Anmerkungen zu Möglichkeiten und Grenzen einer Idee. In: Hünersdorf, Bettina/Hartmann, Jutta (Hrsg.), Was ist und wozu betreiben wir Kritik in der Sozialen Arbeit? Wiesbaden: Springer VS, S. 145–164.
Zillien, Nicole (2009). Digitale Ungleichheit: Neue Technologien und alte Ungleichheiten in der Informations- und Wissensgesellschaft. Wiesbaden: Springer VS.
Beitrag aus Heft »2023/02: Social Media in der Beratung«
Autor: Marc Witzel
Beitrag als PDFEinzelansichtJulian Erdmann: Digital Streetwork: Grenzenlose Jugend(Sozial-)Arbeit im grenzenlosen Raum des Internets?
Im Rahmen von Digital Streetwork werden Jugendliche und junge Erwachsene auf verschiedenen Online-Plattformen aufgesucht, beraten und begleitet. Die Fachkräfte, die in diesem Arbeitsfeld tätig sind, bewegen sich bei ihrer Arbeit innerhalb von drei zentralen Spannungsfeldern. Dabei werden Ansätze zur Bearbeitung der damit verbundenen neuartigen Herausforderungen deutlich.
Literatur
Bollig, Christiane/Keppeler Sigi (2015). Virtuell-aufsuchende Arbeit in der Jugendsozialarbeit. In: Kutscher, Nadia et al. (Hrsg.), Mediatisierung (in) der Sozialen Arbeit. Baltmannsweiler: Schneider, S. 93–114.
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ)/Bundesministerium für Gesundheit (BGM) (2021). Bericht der Interministeriellen Arbeitsgruppe „Gesundheitliche Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche durch Corona“. Berlin. www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/5_Publikationen/Gesundheit/Berichte/IMA_Kindergesundheit_Abschlussbericht_BMG-BMFSFJ.pdf [Zugriff: 20.01.2023]
Diebäcker, Marc (2020). Städtewachstum und Gentrifizierung: Die Verräumlichung sozialer Ungleichheit und die Transformation öffentlicher Räume. In: Diebäcker, Marc/Wild, Gabriele (Hrsg.), Streetwork und Aufsuchende Soziale Arbeit im öffentlichen Raum. Wiesbaden: Springer VS, S. 23–38.
Dinar, Christina/Heyken, Cornelia (2017). Digital Streetwork. Pädagogische Interventionen im Web 2.0. Berlin. www.amadeu-antonio-stiftung.de/w/files/pdfs/digital_streetwork_web.pdf [Zugriff: 20.01.2023]
Erdmann, Julian/Brüggen, Niels (2023). Digital Streetwork. Bericht der wissenschaftlichen Begleitung des Modellprojekts in Bayern im Jahr 2022. München: JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis. www.jff.de/veroeffentlichungen/detail/digital-streetwork-bericht-der-wissenschaftlichen-begleitung [Zugriff: 09.03.2023]
Hagemeier, André/Stuiber, Adrian (2020). Ein erweiterter Ansatz der aufsuchenden Jugendarbeit und Radikalisierungsprävention. Berlin. www.streetwork.online/_files/ugd/28792d_75efd1c027d24fb79ecbb21483f8a2c9.pdf [Zugriff: 20.01.2023]
Kato, Takahiro A./Tateno, Masaru/Shinfuku, Naotaka/Fujisawa, Daisuke/ Teo, Alan R./Sartorius, Norman/Akiyama, Tsuyoshi Ishida, Tetsuya/Choi, Tae Young/Singh Balhara, Yatan Pal/Matsumoto, Ryohei/Umene-Nakano, Wakako/Fujimura, Yota/ Wand, Anne/Chang, Jane Pei-Chen/Chang, Rita Yuan-Feng/Shadloo, Behrang/Ahmed, Helal Uddin/Lerthattasilp, Tiraya/Kanba, Shigenobu (Hrsg.) (2012). Does the ‘hikikomori’ syndrome of social withdrawal exist outside Japan? A preliminary international investigation. In: Soc Psychiatry Psychiatric Epidemiology, 47, S. 1061–1075. DOI: 10.1007/s00127-011-0411-7.
Landesarbeitsgemeinschaft Mobile Jugendarbeit/Streetwork Baden-Württemberg e. V. (Hrsg.) (2019). Digital.Total?! Handreichung. Zum Umgang mit Social Media in der Mobilen Jugendarbeit. Stuttgart. www.lag-mobil.de/wp-content/uploads/2020/01/digital.total_handreichung_2019l_online.pdf
[Zugriff: 20.01.2023]Lippke, Sonia/Keller, Franziska/Derksen, Christina/Kötting, Lukas/Ratz, Tiara/Fleig, Lena (2022). Einsam(er) seit der Coronapandemie: Wer ist besonders betroffen? – psychologische Befunde aus Deutschland. In: Prävention und Gesundheitsförderung, 17 (1), S. 84–95. DOI: 10.1007/
s11553-021-00837-w.Neuburg, Florian/Kühne, Stefan/Reicher, Fabian (2020). Soziale Netzwerke und Virtuelle Räume: Aufsuchendes Arbeiten zwischen analogen und digitalen Welten. In: Diebäcker, Marc/Wild, Gabriele (Hrsg.), Streetwork und Aufsuchende Soziale Arbeit im öffentlichen Raum. Wien: Springer VS, S. 167–184.
Stieler, Mara/Zauter, Sigrid (2022). Digital Streetwork. Aufsuchende Arbeit mit und in Sozialen Medien. In: Forum Sozialarbeit + Gesundheit, 4, S. 28–31.
Sturzenhecker, Benedikt/Deinet, Ulrich/Icking Maria (2022). Projekt Neustart der offenen Kinder- und Jugendarbeit in der Corona-Zeit. Köln. www.lvr.de/media/wwwlvrde/jugend/jugendfrderung/kinderundjugendarbeit/dokumente_70/Broschre_Jugendarbeit_in_Corona-Zeiten.pdf [Zugriff:
20.02.2023Beitrag aus Heft »2023/02: Social Media in der Beratung«
Autor: Julian Erdmann
Beitrag als PDFEinzelansichtLaura Best: Videoberatung aus Klient*innen-Perspektive
Neben vielen Vorteilen der Videoberatung als Format der Onlineberatung gibt es kritische Aspekte, die in der Entscheidung für oder gegen diese Beratungsform sowie in der konkreten Ausgestaltung der Beratung Beachtung finden sollten. Der Artikel stellt Herausforderungen und Vorteile der Videoberatung aus der Sicht der Inanspruchnehmenden anhand qualitativer Interviews vor.
Literatur
Benke, Karlheinz (2021). Praxishandbuch Digitale Beratung. Methoden, Interventionen und Standards der psychosozialen Beratung online. Karlheinz Benke.
Buschle, Christina/Meyer, Nikolaus (2020). Soziale Arbeit im Ausnahmezustand?! Professionstheoretische Forschungsnotizen zur Corona-Pandemie. In: Soziale Passagen 12, S. 155–170.
Emanuel, Markus/Weinhardt, Marc (2019). Professionalisierung von Fachkräften im Kontext von Digitalisierung. In: Rietmann, Stephan/Sawatzki, Maik/ Berg, Mathias (Hrsg.), Beratung und Digitalisierung. Zwischen Euphorie und Skepsis. Wiesbaden: Springer, S. 205–216.
Engelhardt, Emily M. (2018). Lehrbuch Onlineberatung. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht.
Engelhardt, Emily M. (2021). Onlineberatung – Beratungskompetenzen in einer digitalen Welt. In: Erbring, Saskia/Fischer, Jörg (Hrsg.), Zukunft der Beratung. 5. Sonderband Sozialmagazin. Weinheim und Basel: Beltz Juventa, S. 165–174.
Engelhardt, Emily M./Engels, Sylvia (2021). Einführung in die Methoden der Videoberatung. In: E-Beratungsjournal, 17 (1), S. 9–27.
Engelhardt, Emily M./Gerner, Verena (2017). Einführung in die Onlineberatung per Video. In: E-Beratungsjournal, 13 (1), S. 18–29.
Kasten, Anne/Lampert, Andreas (2021). Blickpunkt Online-Beratung. Erwartungen, Themen und Zugänge aus der Sicht von Berater_innen. In: Erbring, Saskia/Fischer, Jörg (Hrsg.), Zukunft der Beratung. 5. Sonderband Sozialmagazin. Weinheim und Basel: Beltz Juventa, S. 175–186.
Knatz, Birgit/ Dodier, Bernard (2021). Mailen, chatten, zoomen. Digitale Beratungsformen in der Praxis. Stuttgard: Klett Cotta.
Römer, Cindy/Mundelsee, Lukas (2021). Einstellung gegenüber Online-Beratung. Eine Umfrage unter Berater:innen, Coaches und Therapeut:innen. In: Coaching Theorie und Praxis, 7(1), S. 173–184.
Beitrag aus Heft »2023/02: Social Media in der Beratung«
Autor: Best Laura
Beitrag als PDFEinzelansichtSteckbrief: Institut für E-Beratung | Sigrid Zauter und Robert Lehmann
Seit über zehn Jahren beforscht und entwickelt das Institut für E-Beratung die Onlineberatung zu Themen der psychosozialen, Bildungs- oder auch Gesundheitsberatung. Im Rahmen der Digitalisierung bildet Onlineberatung einen wichtigen Baustein für ein niedrigschwelliges und zukunftsorientiertes Beratungsangebot für Menschen in besonderen Lebenslagen. Gegründet wurde das Institut an der Technischen Hochschule Nürnberg Georg Simon Ohm von Prof. Richard Reindl. Die methodische Fundierung der Onlineberatung war das erste Anliegen des neuen Instituts. So wurde zunächst eine erste studentische Zusatzausbildung begründet und wenig später das erste Hochschulzertifikat Onlineberatung. Beide Kurse sind bis heute sehr gut nachgefragt.
Die technischen Formen der Beratung haben sich im Laufe der Zeit verändert. Heute haben ein reflektiver, längerer Mailaustausch und ein lebendiges Forum Konkurrenz bekommen von schnelleren Kurztexten über Messenger. Vor allem in der Coronakrise ist der Videochat beliebt geworden. Jede Beratungsmethode verlangt Zusatzwissen und besondere Kompetenzen. Das Feld der Onlineberatung ist inzwischen von einer großen Vielfalt an wissenschaftlichen Publikationen und Weiterbildungsangeboten geprägt. Sowohl in der Forschung als auch bei der Entwicklung hochwertiger Weiterbildungsangebote setzt das Institut für E-Beratung bis heute Maßstäbe in der deutschsprachigen Fachcommunity. Mit der Vielfältigkeit der Beratungsmethoden sind die Übergänge zwischen den Methoden wichtiger geworden. So passen viele Beratungsstellen ihre Beratungskonzepte an und integrieren digitale Angebote in den Beratungsalltag. Diese neue Entwicklung wird am Institut in einer verstärkten Nachfrage nach Workshops zum Aufbau ‚technischer Beratungskonzepte‘ deutlich. Zwar entwickelte das Institut mit der EBS – E-Beratungssoftware eine umfassende und datensichere Softwarelösung, die solche fachlichen Transformationsprozesse ermöglichen kann, mindestens ebenso wichtig ist jedoch, dass aus der fachlichen Perspektive der Sozialen Arbeit ein stimmiges Konzept zur Integration digitaler und analoger Unterstützungsangebote und -methoden entwickelt wird.
Hinzu kommt die digitale aufsuchende Arbeit als neuer Forschungsschwerpunkt. Streetwork im Netz ist aufsuchende Soziale Arbeit in Internetforen und über Social Media Kanäle, ergänzt durch geschützte Online-Kanäle für datensichere Beratung. Empirisch fundierte Erkenntnisse zu wirksamen Methoden
und sinnvollen Haltungen der Fachkräfte in diesem neuen Bereich sind ein wichtiges Ziel der Forschungstätigkeit des Instituts. Um den gewinnbringenden Austausch zwischen Wissenschaft und Praxis sicherzustellen, fließen die Forschungsergebnisse zeitnah in Fort- und Weiterbildungsangebote ein.Professor Robert Lehmann hat als neuer akademischer Leiter einen weiteren Schwerpunkt in die Institutsarbeit eingebracht: Künstliche Intelligenz (KI) in der Sozialen Arbeit. KI verändert in den nächsten Jahren alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens, auch die Praxis der Sozialen Arbeit. In der Lebenswelt der Klient*innen ist sie bereits voll angekommen. Um hier handlungsfähig zu bleiben, ist es notwendig gerade auch aus der Perspektive der Sozialen Arbeit belastbare Wissensbestände aufzubauen. Die Aktivitäten des Instituts zielen darauf, die Chancen und Risiken von KI in Feldern der Sozialen Arbeit zu verstehen (z. B. KAIMo [1]) und außerhalb kommerzieller Interessen selbst zu gestalten (z. B. CASoTex [2] und E-Beratungsdatensatz [3]). Weiterhin werden die experimentellen Prototypen als Entlastungsangebote (Chatboterstellung [4], Empowering Learning [5], Smart Hospital [6]) in die psychosoziale Arbeit integriert. Ein umfangreiches KI Gutachten über die Einsatzmöglichkeiten von Künstlicher-Intelligenz-Software in aufsuchenden, digitalen Angeboten der Migrationsberatung liefert einen Überblick über die Entwicklungstendenzen und die Möglichkeiten zur Förderung des verantwortungsvollen Einsatzes von KI im Bereich der Migrationsberatung in Deutschland.
Kostenfrei zugänglich für die Fachwelt der Sozialen Arbeit stellt das Institut über die virtuelle Hochschule Bayern ein umfangreiches Bildungsangebot im Kurs ‚KI und Soziale Arbeit‘ bereit, um schnell und hochwertig über den Stand der Forschung zu diesem Thema zu informieren und eine profunde Einschätzung der Potenziale aus der Perspektive der Sozialen Arbeit zu ermöglichen. Das Institut forscht auch in den kommenden Jahren weiter zu Trends, Wirkung und Qualität von Onlineberatung und technischen Innovationen, die die Praxis der Sozialen Arbeit unterstützen können, coacht soziale Träger bei der Implementierung von Onlineberatung und unterhält einen breiten Qualifizierungsbereich. Jeden September veranstaltet das Institut das Fachforum Onlineberatung, in der sich Fachkräfte zu aktuellen Entwicklungen in der Branche austauschen.
• [1] FORSCHUNGSPROJEKT: Kann ein Algorithmus im Konflikt moralisch kalkulieren?
• [2] FORSCHUNGSMETHODE: Computergestützte Analyse Sozialwissenschaftlicher Texte mit Hilfe maschineller Lernverfahren
• [3] FORSCHUNGSPROJEKT: Erstellung eines öffentlichen Datensatzes für die Untersuchung maschineller Lernverfahren in der psychosozialen Online-Beratung
• [4] DREI FORSCHUNGSPROJEKTE: Der virtuelle Klient, Digitale Assistenz in der psychosozialen Beratung, Interactive Artificial Intelligence
• [5] FORSCHUNGSPROJEKT: Empowering Learning – Ermöglichung adaptiven Lernens in der beruflichen Weiterbildung
• [6] FORSCHUNGSPROJEKT: Smart Hospital: Ambulante Onlinebegleitung bei Harnleitersteinen
Beitrag aus Heft »2023/02: Social Media in der Beratung«
Autor: Sigrid Zauter, Robert Lehmann
Beitrag als PDFEinzelansichtJessica Ranitzsch/Inse Böhmig: Von der Kunst, digitale*r Berater*in zu sein
Was braucht es, um in Zeiten der digitalen Transformation zukunftsfähig zu beraten? Der Artikel gibt theoretische und beratungspraktische Impulse zur Kunst, digitale*r Berater*in zu sein. Dabei geht es um neue Anforderungen an Beratende und an die organisationale Ebene. Denn neben eigenen Kompetenzen sind digitale Berater*innen auf gute Rahmenbedingungen angewiesen, um ihr Potenzial voll entfalten und der veränderten Lebenswelt der Ratsuchenden gerecht werden zu können.
Literatur
Camenzind, Gina/Hörmann, Martina (2021). Systemisch, flexibel, nahe an der Lebenswelt. Blended Counseling. In: ausgesucht.bs. – Magazin des Gesundheitsdepartements Basel Stadt, S. 10–14.
Carstensen, Tanja (2016). Social Media in der Arbeitswelt: Herausforderungen für Beschäftigte und Mitbestimmung. Bielefeld: transcript.
Deutschsprachige Gesellschaft für psychosoziale Online-Beratung (2020). Standards zur Anerkennung von Online-Berater*in, Online-Supervisor*in, Online-Coach. Berlin. www.dg-onlineberatung.de/anerkennungs-standards [Zugriff: 06.01.2023]
Engelhardt, Emily M. (2018). Lehrbuch Onlineberatung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Engelhardt, Emily M./Hörmann, Martina (2022). Blended Counseling – Grundlagen, Aktuelles und Diskurslinien. In: Zeitschrift für systemische Therapie und Beratung, 40 (2), S. 72–78.
Engelhardt, Emily M./Reindl, Richard (2016). Blended Counseling – Beratungsform der Zukunft? In: Resonanzen – E-Journal für biopsychosoziale Dialoge in Psychosomatischer Medizin, Psychotherapie, Supervision und Beratung, 4 (2), S. 130–144.
Beitrag aus Heft »2023/02: Social Media in der Beratung«
Autor: Jessica Ranitzsch, Inse Böhmig
Beitrag als PDFEinzelansichtGespräch mit Marc Weinhardt, Professor für Sozialpädagogik an der Universität Trier: Zukunft der Beratung
Welche Kriterien sind für die Auswahl von Tools zur Online Beratung ausschlaggebend? Welchen Stellenwert hat die Suchtproblematik bei der Nutzung von Sozialen Medien in der Beratung? Und mit Blick in die Zukunft: Sind Beratungssituationen auch mit Unterstützung von AR, VR und KI denkbar? Diesen und anderen Fragen gehen Daniela Stix und Marc Weinhardt in ihrem Gespräch nach.
Beitrag aus Heft »2023/02: Social Media in der Beratung«
Autor: Marc Weinhardt
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spektrum
Christina Schachtner: Transnationale Räume und mediale synthetische Praktiken
Mit dem Konzept skopische Medien, das um akustische Medien erweitert wird, widmet sich der Text den globalen medialen Praktiken von Migrant*innen. In deren grenzüberschreitender Kommunikation wird unter anderem Distantes hör- und sichtbar gemacht, es zeigen sich neue Formen von Präsenz, es werden verschiedene Zeit- und Raumzonen miteinander verknüpft, kurz, es entstehen synthetische Wirklichkeiten. Im Kontext dieser Wirklichkeiten bilden sich neue Sozialformen wie ein neuer Typus von Familie: die Weltfamilie. Die digitale Durchdringung neuer Sozialformen sorgt dafür, dass diese gesamtgesellschaftliche Brisanz gewinnen.
Literatur
Appadurai, Arjun (2013). The Future as Cultural Fact. Essays on the Global Condition. London/New York: Verso.
Beck, Ulrich/Elisabeth Beck-Gernsheim (2011). Fernliebe. Lebensformen im globalen Zeitalter. Berlin: Suhrkamp.
Knorr Cetina, Karin/Reichmann, Werner/Woermann, Niklas (2017). Dimensionen und Dynamiken synthetischer Gesellschaften. In: Krotz, Friedrich/ Despotović, Cathrin/Kruse, Merle-Marie (Hrsg.), Mediatisierung als Metaprozess. Transformationen, Formen der Entwicklung und die Generierung von Neuem. Wiesbaden: Springer VS, S. 35–57.
Knorr Cetina, Karin (2012). Skopische Medien: Am Beispiel der Architektur von Finanzmärkten. In: Krotz, Friedrich/Hepp, Andreas (Hrsg.), Mediatisierte Welten. Forschungsfelder und Beschreibungsansätze. Wiesbaden: Springer VS, S. 167–195.
Mleihi, Rania (2018). Die Gefühle eines Tages. In: Huber, Katja/Kleemann, Silke/Schley, Fridolin (Hrsg.), Wir sind hier. Geschichten über das Ankommen. München: Allitera Verlag, S. 52–55.
Pries, Ludger (1998). Transnationale Soziale Räume. Theoretisch-empirische Skizze am Beispiel der Arbeitswanderungen Mexiko-USA. In: Beck, Ulrich (Hrsg.), Perspektiven der Weltgesellschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 55–86.
Römhild, Regina (2011). Globale Heimat. Der Alltag junger Migranten in den Widersprüchen der Einwanderungsgesellschaft. In: Bukow, Wolf Dietrich/ Heck, Gerda/Schulze, Erika/Yildiz, Erol (Hrsg.), Neue Vielfalt in der urbanen Stadtgesellschaft. Wiesbaden: Springer VS, S. 21–32.
Tschernokoshewa, Elka (2015). Die Hybridität von Minderheiten. Vorm Störfaktor zum Trendsetter. In: Yildiz, Erol/Hill, Marc (Hrsg.), Nach der Migration. Postmigrantische Perspektiven jenseits der Parallelgesellschaft. Bielefeld: transcript, S. 65–87.
Tschernokoshewa, Elka (2005). Geschichten vom hybriden Leben. Begriffe und Erfahrungswege. In: Tschernokoshewa, Elka/Pahor, Marija Jurić (Hrsg.), Auf der Suche nach hybriden Lebensgeschichten. Theorie, Feldforschung, Praxis. Münster: Waxmann, S. 9–42.
Wulf, Christoph (2006). Anthropologie kultureller Vielfalt. Interkulturelle Bildung in Zeiten der Globalisierung. Bielefeld: transcript.
Beitrag aus Heft »2023/02: Social Media in der Beratung«
Autor: Christina Schachtner
Beitrag als PDFEinzelansichtAnke Hildebrandt/Friederike Siller: Qualität in digitalen Kindermedien – Das Seitenstark-Gütesiegel
Mit einem neuen Gütesiegel setzt Seitenstark ein Zeichen für qualitativ hochwertige digitale Inhalte und damit auch für eine sichere Onlinewelt für Kinder. Angebote, die Kinder fördern und stärken und damit einen Beitrag zu einem guten Aufwachsen mit Medien leisten, sollen mit einer Auszeichnung gewürdigt und sichtbar gemacht werden.
Beitrag aus Heft »2023/02: Social Media in der Beratung«
Autor: Anke Hildebrandt, Friederike Siller
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medienreport
Nicole Lohfink/Markus Achatz: Filmfestival inmitten gesellschaftlicher Krisen - Berlinale 2023
Nach zwei coronabedingt veränderten Jahren wollten die Internationalen Filmfestspiele in Berlin wieder durchstarten und mit dem Motto ‚Let’s get together‘ zu alter bzw. neuer Form finden. Filmteams reisten aus aller Welt an und waren bei den Premieren anwesend. Besonders politisch wollte die Leitung unter Mariëtte Rissenbeek und Carlo Chatrian deutliche Zeichen setzen und insbesondere die Kunst – und den Film als Mittel der Kunst – in ihrer gesellschaftlich wichtigen Rolle hervorheben. Politische Krisen spiegelten sich sowohl in der Eröffnung als auch im Programm der Sektionen wider: beginnend mit dem Krieg in der Ukraine, über die schwierige Situation im Iran, bis hin zum Schicksal der Kurd*innen und der Belagerung von Sarajewo im Balkankrieg der 1990er-Jahre. Das aktuelle Zeitgeschehen kam bereits zum Festivalauftakt mit einer Live-Video-Zuschaltung des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyi direkt in die Kinosäle. Kriegsgeschehen und gesellschaftliche Umbrüche sowie grundlegende gesellschaftliche Fragen dominierten das Festival. Das Angebot zeigte vielfach Widersprüchlichkeiten, Brüche und harte Realitäten auf. Geradezu als ‚Gegenbilder‘ zum Gewohnten waren einige Filme eine Demonstration von Sprachlosigkeit, indem sie Botschaften mal gänzlich und mal in Passagen ohne Worte transportierten.
SPRACHLOSIGKEIT ALS MITTEL DER KOMMUNIKATION
Survival of Kindness von Rolf de Heer
„Nach dem Verlust der Vernunft kommt das Überleben der Freundlichkeit“ titelt der Film aus dem BERLINALE WETTBEWERB. Stille und Sprache als etwas Befremdliches dominieren hier. Eine absurd anmutende Welt, in der gesprochene Worte nicht verständlich, Geräusche jedoch wichtige Orientierungspunkte für das Überleben sind und ganz offenkundig Feindschaft vorherrscht. Die Protagonistin beginnt ihre Reise in Gefangenschaft und das Publikum folgt ihr bei ihrem Ringen um Freiheit auf ihrem Weg zurück in ihre Heimat, zu einer Zukunft, in der die Freundlichkeit noch existiert. In langen, intensiven Bildern durchwandert die Figur dabei die Umgebung, erlebt kurze zwischenmenschliche Begegnungen, entwickelt Achtsamkeit und Überlebenskunst. Die Bedrohung ist allgegenwärtig, ihre Hautfarbe ist der Verräter und kann nur mit Schminke und einer Gasmaske oberflächlich verborgen werden. Nur kurz erleben die Zuschauenden mit ihr so etwas wie eine Idylle, wenn sie etwa inmitten unberührter Natur an einem See sitzend ihr Gesicht in die Sonne hält. Das Ziel entpuppt sich als eine in eine Industrie-Wüste verwandelte Stadt in Feindeshand, die Heimat ist verloren und symbolisch verbrennt die Protagonistin eine Spielzeug-Flagge – ein Abschied. Erneut entkommt sie und macht sich auf den Weg. Nur einmal im Film kommt es zu einem echten Austausch von Worten zwischen der Protagonistin und einem anderen Mädchen. Beide sprechen unterschiedliche Sprachen, es gibt keine Untertitel für die Zuschauenden; somit sitzen alle im gleichen Boot. Es wird in dieser Szene deutlich, dass es auch ein Verständnis über Worte hinaus gibt. Der Rückweg der Protagonistin wird nicht mehr von steter Wachsamkeit überschattet. Am Ende sind es die unerfüllten Sehnsüchte und Vorstellungen, die das Geschehen steuern und noch ein letztes Mal Widerstand leisten. Survival of Kindness ist ein bildgewaltiger Film, der durch die Kameraführung und den Umgang mit Audio eine magnetisierende Dystopie entwirft und gleichzeitig den Fokus auf das Ungesagte und dessen ungeahnte Möglichkeiten lenkt.Im toten Winkel von Ayşe Polat
Der Film der kurdisch-deutschen Regisseurin Ayşe Polat (aus dem Nebenwettbewerb ENCOUNTERS) macht die sechsjährige Melek, die kaum spricht, deren Blick aber durch Mark und Bein geht, zu einer Schlüsselfigur einer Geschichte über Schicksal und Traumata kurdischer Familien in der Türkei. Im Thrillerformat erzeugt Polat mehrere filmische Ebenen: zum einen als Actionkrimi zwischen wütenden Attentaten, geheimnisvollen Überwachungen und Mystery-Elementen. Melek scheint hellseherische Fähigkeiten zu besitzen und weiß Dinge, die sie mit ihren sechs Jahren eigentlich nicht wissen kann. Zum anderen der Film-im-Film durch das Drehen einer Dokumentation der deutschen Filmemacherin Simone im Nordosten der Türkei. Drittens das Doku-Material, das Portrait der kurdischen Frau Hatice, die ihren Sohn verloren hat. Seit dieser vor rund 25 Jahren nicht mehr nach Hause gekommen ist, kocht Hatice jeden Freitag eine Suppe für ihn und verteilt sie im Dorf. Die Schaffung ‚imaginärer Denkmäler‘ ist der Antrieb für Simones Dokumentation und basiert gleichzeitig auf der wahren Begebenheit, dass insbesondere in den 1990er-Jahren eine Vielzahl an jungen Kurd*innen spurlos verschwand. Bis heute demonstrieren die sogenannten ‚Samstagsmütter‘ in Istanbul, um auf ihr Schicksal aufmerksam zu machen. Mit komplexen Perspektivwechseln zwischen den Fronten, geisterhaften Szenarien und nüchternen Überwachungsaufnahmen im ‚Blickwechsel‘ mit Melek, die als einzige die Kameras schon längst entdeckt hat, ist Ayşe Polat ein raffinierter Film gelungen. Sie schildert die Paranoia von Überwachung und Verfolgung und präsentiert gleichzeitig ein authentisches Sozialdrama.VERLUST UND MEER
Sica von Carla Subirana
Die Grenze zwischen Dokumentation und Fiktion interessiert auch die spanische Regisseurin Carla Subirana. Ihr Spielfilm Sica (Weltpremiere bei GENERATION 14plus) wurde an der Küste Galiciens mit Lai*innen aus der Region gedreht. Die 14-jährige Sica hat ihren Vater verloren, der mit einer Fischer-Crew im Meer ertrunken ist. Ständig sucht sie das Meeresufer nach ihm ab. Es heißt, es blieben sieben Tage, bis das Meer seine Opfer zurückbringe. Wenn sie bis dahin nicht kämen, tot oder lebendig, behalte das Meer sie für immer. Nach dem tragischen Ereignis muss Sica sich im Ort auf neue Art behaupten und ein schwerer Zyklon steht bevor. Die Story bewegt sich zwischen der Naturgewalt der Costa del Morte und dem Mikrokosmos eines ärmlichen Fischerdorfs. Ein ruhiger, teils poetischer Film mit beeindruckenden Hauptdarstellerinnen (Sica und ihre Mutter), der streckenweise die zwischenmenschlichen Beziehungen Sicas tiefer hätte inszenieren können.Zeevonk von Domien Huyghe
Die Symbolhaftigkeit des Meeres durchzieht auch Zeevonk (Meeresleuchten), den Eröffnungsfilm und ein Highlight im GENERATION Programmsegment Kplus des belgischen Filme-
machers Domien Huyghe. Auch hier ist ein Fischerboot auf dem Meer verschollen und die 12-jährige Lena und ihre beste Freundin Kaz haben ihre Väter darin verloren. In den ersten
Minuten werden Lenas unbeschwerte Kindheit und ihre Liebe zum Meer und zu ihrem Vater eingeführt, ehe in einem jähen Szenenwechsel die Trauerfeier auf See den tragischen Tod der Seeleute ins Zentrum rückt. Lena sieht einen riesigen schwarzen Schatten unter dem Boot tauchen und ist überzeugt, dass ein Seeungeheuer für den Tod des Vaters verantwortlich ist. Auf dem Grat zwischen Kindheit und Erwachsenwerden erscheint Lena die mystische Variante des Monsters greifbarer, als den realen Tod des Vaters zu akzeptieren. Der Film konzentriert sich stark auf die Hauptprotagonistin, die beinahe wie im Wahn an der Idee der bösen Kreatur festhält. In diesem Sinne wird Zeevonk zu einer Fabel. Lenas Handeln wird egozentrischer und ungerecht gegenüber anderen, die ebenfalls mit Trauer und Verlust umgehen müssen. Dabei behält die Inszenierung Lenas Mutter, Geschwister sowie auch die beste Freundin Kaz und deren Familie immer im Auge. Das Meer in seiner Symbolik bleibt die unergründliche Konstante: mächtig, unbezähmbar, aber auch Lebensgrundlage der Fischerfamilien. Das Drehbuch haben Regisseur Domien Huyghe und seine Schwester Wendy gemeinsam geschrieben und den Verlust des eigenen Vaters in jungen Jahren autobiographisch einfließen lassen. Zeevonk ist ein eindrücklicher Jugendfilm, der verstärkt wird durch die schauspielerische Leistung von Saar Rogiers (Lena), den Soundtrack und die tolle Kameraarbeit von Anton Mertens.TRAUERBEWÄLTIGUNG UND SINNSUCHE
Samsara von Lois Patiño
Der Abschied von geliebten Menschen, das Leben nach dem Tod, was passiert mit der Seele des Menschen ... In Samsara sind diese Fragen zentral und das Publikum darf das Sterben und die Wiedergeburt auf ungewöhnliche Weise begleiten. Eine alte Frau bereitet sich auf ihren Tod vor und ein Junge liest ihr gemäß eines Ritus’ aus einem Buch mit buddhistischen Lehren vor. In Gesprächen zwischen den beiden erfahren die Zusehenden etwas über den buddhistischen Übertritt, wie er in Laos verstanden wird; über den Weg sowie über die Wünsche der alten Frau für ihre Wiedergeburt. Als es soweit ist, kommt der Übertritt und für die Kinobesucher*innen ist es eine ungewöhnliche, experimentelle auditiv-visuelle Erfahrung. Ein spiritueller Film, der zugleich die Seh-
gewohnheiten und die spirituelle Erwartung und Erfahrung des Publikums nutzt und damit spielt.Dancing Queen von Aurora Gossé
Mina hat Spaß am Lernen, einen besten Freund, eine coole Großmutter und verständnisvolle Eltern. Als ein neuer, tanzbegeisterter Schüler auftaucht, ist sie voller Aufregung. Sie beginnt ebenfalls zu tanzen, koste es, was es wolle und wird dabei immer von ihrer Großmutter bestätigt. In ihrer Begeisterung weckt Mina auch bei ihrem besten Freund die Tanzfreude, verliert sich aber auch in ihren und den Ansprüchen anderer an sie. Auch hier ist ihre Großmutter diejenige, die Orientierung gibt. Am Ende macht Mina das Beste aus den Erfahrungen und gewinnt an Vielfalt, Nähe, Freundschaft und der Liebe zum Tanz. Der Film beleuchtet Themen des Erwachsenwerdens wie Eigen- und Fremd-Wahrnehmung, die Suche nach den eigenen Wünschen, das Streben nach äußerlichen Idealen, aber auch das Überwinden von Schwächen und Ängsten und die Wichtigkeit von Bezugspersonen, die Halt geben können. IhreOma hilft Mina beim Ausprobieren ihrer heimlichen Leidenschaft, bestärkt sie im Scheitern und im Dazugewinnen. Vor allem bestärkt sie Minas Weg der Selbstfindung. In klarer Erzählstruktur und mit viel Situationskomik entwickelt sich Minas Geschichte und die Liebe zur Großmutter kommt in einer bodenständigen Poetik zum Ausdruck. Ein Wohlfühl-Film mit glaubwürdiger Botschaft.KAMMERSPIEL MIT KAKTUS
Adolfo von Sofía Auza
Ein Kaktus ist nicht schön, aber sehr robust. Anders als die beiden jungen Filmfiguren, die sich an einer abgelegenen Bushaltestelle irgendwo im Nirgendwo begegnen. Momo sitzt mit ihrem Skateboard auf der einen Straßenseite. Am Bushäuschen auf der anderen Seite zischt ein Bus vorbei – der letzte für heute. Hugo hat ihn verpasst. Damit beginnt die Story von Adolfo der mexikanischen Regisseurin Sofía Auza. Die beiden unterhalten sich – zunächst über die Straße hinweg. Momo will zu einer Geburtstagsparty und ist gerade aus einer Rehaklinik zurück. Hugo hat einen Kaktus in der Hand und ist auf dem Weg zur Beerdigung seines Vaters. Alles, was er ihm vermacht hat, ist ein Zettel mit der Bitte, für Adolfo ein neues zu Hause zu finden: Adolfo ist der Kaktus. Wir begleiten Momo und Hugo durch die Nacht bis zum ersten Bus. Sofía Auza hat großartige Dialoge geschaffen. Die Ästhetik aus Licht, Farben und dem quadratischen Bildformat ist faszinierend. Ein Kammerspiel mit zwei sehr starken Charakteren und einer heimlichen Hauptrolle: dem Kaktus Adolfo. Die Geschichte ist warmherzig, manchmal sehr lustig und im nächsten Moment wieder nachdenklich und traurig. Sie könnte überall auf der Welt spielen. Im Zentrum stehen die Gefühle, Gedanken und Sehnsüchte der beiden Jugendlichen und die global gültige Sensibilität macht Adolfo zu einem ganz besonderen Film. Verdient erhielt er den Gläsernen Bären für den besten Film der 14plus-Jugendjury.LEBEN(S)GESCHICHTE
Ha'mishlahat (Delegation) von Asaf Saban
Auf Klassenfahrt – Freundschaften werden erforscht, neu gebildet, Grenzen ausgetestet. Nur geht es auch darum, Gedenkstätten des Holocaust zu besuchen und in geschichtliche Gräuel einzutauchen, die beinahe unvorstellbar sind. Ein Zeitzeuge reist mit, um aus erster Hand zu berichten, die Lehrer*innen haben klare Vorstellungen, wie sich dem Thema genähert werden soll; auch, welche Wirkung bei den Schüler*innen erwünscht ist. Die persönlichen Themen der Jugendlichen finden dazwischen statt. Ein Thema, das zunächst schwere Erwartungen weckt, wird hier mit der Unmittelbarkeit der Erfahrungen Jugendlicher verknüpft. Ein Freundes-Trio steht dabei im Mittelpunkt. Aus verschiedenen Perspektiven werden erste Liebe, Facetten von Freundschaft und die Auseinandersetzung mit einer zutiefst persönlichen Verfolgungsgeschichte thematisiert. Dabei suchen die Jugendlichen nach ihrer eigenen Weise, mit dem Geschehen umzugehen. So werden mit einem dramaturgischen Kniff Erwartungshaltungen unterlaufen und ein anderer Blickwinkel eröffnet sich. Der verwunderte Blick auf politisches Gebaren eines der Protagonisten, als er Verursacher und alleiniger Ehrengast einer Impromptu-Gedenkfeier wird, lässt auch das Publikum neu hinsehen und seine Suche besser nachvollziehen. Schauspielerisch stark zeichnen sich die Erfahrungsschritte in den Gesichtern der Protagonist*innen ab. Ein einfühlsamer Film über die jugendliche Welt und die Orientierungssuche unabhängig von den Erwartungen Erwachsener. Ein nachdrücklicher Film auch angesichts dessen, dass der israelische Produzent Yoav Roeh beim Screening auf die aktuelle, prekäre politische Lage in Israel hingewiesen hat.Beitrag aus Heft »2023/02: Social Media in der Beratung«
Autor: Nicole Lohfink, Markus Achatz
Beitrag als PDFEinzelansichtLisa Melzer: Exit the Fake
Brockhaus (2023). Exit the Fake. Serious Game zum Thema ‚Fake News‘, kostenpflichtig1 (nur auf Nachfrage).
www.brockhaus.de/info/schulen/escape-gameFake-Profile, Propaganda, Gerüchte und Verschwörungen: Die Grenze zwischen Wahrheit und Lüge scheint im digitalen Zeitalter immer undurchsichtiger zu werden. In welchem Ausmaß besonders junge Menschen von Desinformationen im Netz betroffen sind, legt eine Studie der Vodafone Stiftung von 2020 nahe: So begegnen etwa 76 Prozent der 14- bis 24-Jährigen in Deutschland mindestens einmal pro Woche Falschnachrichten über Websites, Soziale Netzwerke oder Messenger-Dienste. Das ist ein Anstieg von 50 Prozent innerhalb von zwei Jahren. Alarmierend ist außerdem, dass mehr als die Hälfte der Befragten Fake News nicht nur mit dem Internet, sondern zunehmend auch mit klassischen Medien wie Presse, Radio oder Fernsehen in Verbindung bringt. Doch wie können junge Menschen dabei unterstützt werden, Desinformationen zu erkennen und richtig einzuordnen? An dieser Stelle setzt das neue Serious Game Exit the Fake von Brockhaus an. Den Rahmen des Spiels bildet die Geschichte rund um Marie und Kemal, die als Content-Creator mit ihrem Kanal Die Wahrsager über die Auswirkungen des Klimawandels aufklären und Umweltskandale aufdecken. Als sie schließlich Opfer eines Hacker-Angriffs werden und ihnen die Veröffentlichung eines gefälschten Deepfake-Videos angedroht wird, sind sie auf die Unterstützung ihrer Community angewiesen, um ihren Kanal zu retten. Jede Spieleinheit umfasst verschiedene Rätsel und Aufgaben, mit denen die Spieler*innen schrittweise einen vierstelligen Code erarbeiten, den sie benötigen, um die Sicherheitsschleusen zu knacken und die Veröffentlichung des gefälschten Videos zu verhindern. Im Laufe des Spiels werden die Spieler*innen schrittweise darüber aufgeklärt, wie sie Fake News, Verschwörungstheorien und Troll-Kommentare leichter identifizieren und zuverlässig von seriösen, vertrauenswürdigen Informationen unterscheiden können. Außerdem werden ihnen konkrete Werkzeuge und Instrumente an die Hand gegeben, mit denen ihre Kenntnisse und Fähigkeiten zur kritischen Einordnung,
Überprüfung und Bewertung von Quellen geschult werden können. Untermalt werden die Lerneinheiten durch animierte Erklärvideos, in denen die Protagonist*innen Marie und Kemal das Spielgeschehen kommentieren, Wissen über Absichten, Mechanismen und Wirkungen von Desinformationen vermitteln und die Spieler*innen zur Erprobung kreativer Strategien und Umgangsweisen mit Falschmeldungen anregen. Zu jedem Themenkapitel werden zudem Erklärtexte zu den in der Geschichte verwendeten Schlüsselbegriffen zur Verfügung gestellt, die ein differenziertes Verständnis der verschiedenen Formen von Fake News und deren Risikopotenzial ermöglichen. Mit diesem Zusatzmaterial können sich Spieler*innen intensiver mit einzelnen Thematiken und Interessensschwerpunkten befassen, was zur Reflexion des Gelernten anregt. Exit the Fake ist in erster Linie für Schüler*innen der siebten bis zehnten Klasse konzipiert und eignet sich vor allem für den Einsatz in Unterrichtsfächern wie Deutsch, Politik oder Sozialkunde. Vorausgesetzt werden lediglich Grundkenntnisse im Umgang mit digitalen Medien und dem Internet. Aufgrund der einfachen Bedienung und intuitiven Spielmechanik bietet das Game auch außerhalb schulischer Settings vielfältige Anwendungsmöglichkeiten, um bei Jugendlichen ein Verständnis für komplexe Phänomene wie den Klimawandel zu schaffen und ein kritisches Bewusstsein für die damit einhergehenden gesellschaftlichen Herausforderungen herzustellen. Eine wesentliche Besonderheit von Exit the Fake ist die gelungene Kombination aus Lern- oder Unterhaltungssoftware, da es Spieler*innen sowohl Möglichkeiten zum Wissens- bzw. Kompetenzerwerb als auch zum Erfahren von Selbstwirksamkeit bietet. Damit stellt es eine geeignete Ergänzung zu traditionellen Lehr- bzw. Unterrichtsmethoden dar, um unterschiedliche Entscheidungs-
möglichkeiten und Lösungswege auszuprobieren und zu erleben, welche Konsequenzen sich aus dem eigenen Handeln ergeben. Insgesamt zielt Exit the Fake somit auf die Förderung wichtiger Zukunftskompetenzen ab, die für einen verantwortungsbewussten Umgang mit digitalen Medien von hoher Bedeutung sind. Mit Blick auf die Ermöglichung eines inklusiven Spielerlebnisses wäre es jedoch wünschenswert, weitere Bedienungshilfen und/oder erweiterte Einstellungsoptionen zur Verfügung zu stellen, um das Tool für heterogene Zielgruppen mit unterschiedlichen Bedarfen zugänglich zu machen und es ihnen zu ermöglichen, das Spielerlebnis nach ihren Bedürfnissen anzupassen.1 Für Interessierte besteht die Möglichkeit, ein unverbindliches Angebot anzufordern und die Inhalte 14 Tage lang kostenlos zu testen. Das Spiel ist zudem Teil des Medienkompetenz-Pakets von Brockhaus für die Sekundarstufe I, welches neben dem Serious Game weitere Materialien zur Medienkompetenzförderung von Heranwachsenden umfasst.
Beitrag aus Heft »2023/02: Social Media in der Beratung«
Autor: Lisa Melzer
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publikationen
Claus Tully: Lehren aus der Pandemie
Der Untertitel Lehren aus der Pandemie ist treffend gewählt. Der Rezensent hat selbst in Seminaren auf die Möglichkeiten von Online Teaching hingewiesen, um sich dann mit Einsetzen der Coronakrise selbst als Akteur und Nutzer dieser Technologie zu erleben. Krisen, wie die von Corona, zwingen dazu Vertrautes und Neues zu reflektieren. Das von Ralf Lankau herausgegebene Buch behandelt unter anderem Lehren und Lernen im digitalen Zeitalter, sowie digitalen Distanzunterricht als Beitrag sozialer Spaltung. Im Zentrum des Bandes steht die Reflexion, was Schulen und Gesellschaft aus der Pandemie lernen können. In den Einzelbeiträgen wird die Rolle von Medien im Schulsystem reflektiert und gefragt, inwieweit sich die Schule weiter für den Einsatz von Medien öffnen soll. Wäre der Übergang zu hybriden Formen des Unterrichts mit einem Wechsel von on- und offline strategisch günstiger als die Rückkehr zum vertrauten Unterricht im Klassenraum? Was meint off- und online hier bzw. deren systematische Kombination in Form von Hybridunterricht? Hybridunterricht bedeutet eine Hintereinanderreihung von „Präsenz -und Distanzphasen“, und er gilt „insbesondere Wirtschaftsvertretern als das Modell der Zukunft“ (S. 17). Was sind die Merkmale des Distanzunterrichts? „Lernplattformen, Lernprogramme und Learning Analytics, die im Zuge des digitalen Unterrichts im Homeschooling und danach eingesetzt werden, versprechen scheinbar objektivierte Ergebnisse. Und verhindern vermeintlich subjektive oder willkürliche Bewertungen durch die Lehrenden“ (S. 39). Faktisch fand Folgendes statt: Lernbeziehungen wurden modifiziert. Statt der Beziehung zwischen Schüler*innen und Lehrenden übernahmen Eltern die „Organisation der Lernzeit“ (S. 91). Online Teaching erfolgte gegebenenfalls qua fehlenden zeitlichen Vorlaufs als etwas, das an mehrstündig stattfindende Videokonferenzen erinnerte. „Erschwerend hinzu kommt die Isolation der einzelnen Schülerinnen und der Lehrperson“ (S. 39). Da Jugendliche auch ihre gesamte Freizeit digital verbracht haben, wurden in einschlägigen Studien extrem hohe Bildschirmzeiten ermittelt. Worum geht es wenn wir von der Schule sprechen? Es geht (1) um die Biografie von Kindern und Jugendlichen, (2) um die Schule als sozialen Ort des Austauschs, (3) um den Ausgleich von sozialen Unterschieden, (4) um Medien und deren Sideeffects bei der Wissensvermittlung, gestützt von Didaktik und gerahmt von Schulwirklichkeit. Jede Form der Mediennutzung bedarf einer sie stützenden Didaktik, das Nebeneinander von Präsenz- und Online-Unterricht hat das praktisch und unabweisbar erfahrbar gemacht. Didaktik und Lerninhalt dürfen dem Medieneinsatz nie nachrangig sein. In der Pandemie war das so, aber das war ja nicht intendiert. Biografien der Heranwachsenden sind aus der Sicht der Schule Lernbiografien und für die gilt der Grundsatz: erst real, dann analog und zuletzt digital (S. 18; S. 175 ff.). Notwendiger Weise ist die Schule Ort des sozialen Austauschs.
Empirische Untersuchungen beleuchten den Lebensraum, weshalb Schüler*innen immer zuerst ansprechen, wen sie dort treffen und erst an zweiter Stelle, was sie alles lernen1. Der Entwicklungsprozess Heranwachsender muss also mitgedacht werden. Im Buch wird deshalb auf Piaget, Erikson und die Jugendforschung verwiesen. In der Krise war häufiger von Kindern aus sozial schwachen Verhältnissen und mangelhafter Ausstattung an Computern, schnellem Internet, Druckern, Scannern und mehr die Rede. Darüber hinaus ging es um die Mühen eines Lernalltags in zu engen Wohnungen. Zudem fehlt in solchen Familien auch oft die Kompetenz, bei der Vermittlung des Lehrstoffs zu unterstützen. Es ist kein Zufall, dass in Problemsituationen Medien weiterhelfen sollen. Medien eröffnen prinzipiell die Chance zu neuen Spielräumen, zu selbstbestimmter, eigenmotivierter, problemlösender und vom eigenen Lerntempo bestimmter Aneignung. Dies jedoch verstärkt Ungleichheit, statt sie zu eliminieren. Wenn Ungleichheit sichtbar ist, soll die Schule ausgleichen. Und wie sieht die Zukunft aus? Medien werden künftig eine wachsende Rolle in der Bildung spielen. Edwin Hübner führt in seinem Beitrag in die Herausforderungen für eine Pädagogik im Zeitalter des Metaverse ein. Es gilt wach zu sein für Veränderungen durch neue Technologien. Kinder können damit vermutlich umgehen, dennoch brauchen sie die Auseinandersetzung mit der realen Welt. Gerade die Generation, die viel Zeit im Metaverse verbringen wird, braucht eine Pädagogik, die hilft, Kindheit und reale Welt damit zu verbinden. Was sind die Lehren aus der Pandemie? Gewünscht ist eine Transformation der Bildungseinrichtungen, es gibt eine gewisse Unzufriedenheit mit dem Stand der Schule, gefordert werden mehr Dynamik und mehr Spiegelung im Realen. Die Erfahrung einer weitreichenden Technisierung hat offengelegt, woran es mangelt, aber auch, dass es darauf zu achten gilt, dass Technik nicht zum Universalschlüssel aller Bildungsprozesse deklariert wird. Technik garantiert keine Teilhabe und keine Motivation. Studien belegen: nicht die technische Kodierung von Lerninhalten bestimmt die Nutzung von Medien, vielmehr geht es um eine „sinnvolle Einbindung in den sinnvoll strukturierten Präsenzunterricht und als Ergänzung in Selbstlernphasen“ (S. 215). Gelernt werden soll selbstbestimmt und selbstorganisiert, dazu braucht es Anleitung und Hilfestellung. Bildung bleibt absehbar an Menschen gebunden, ihr Kern ist Beziehungsarbeit, die als Dreieck von Pädagogik, Lehrperson und Unterricht zu denken ist.
1Wahler, Peter/Tully, Claus J./Preiß, Christine (2008). Jugendliche in neuen Lernwelten. Selbstorganisierte Bildung jenseits institutioneller Qualifizierung. Wiesbaden: Springer VS.
Lanka, Ralf (Hrsg.) (2023). Unterricht in Präsenz und Distanz. Lehren aus der Pandemie? Weinheim: Beltz Juventa. 232 S., 24,00 €.
Beitrag aus Heft »2023/02: Social Media in der Beratung«
Autor: Claus J. Tully
Beitrag als PDFEinzelansichtEric van der Beek: Die Mandate medienpädagogischer Professionalität
Die Medienpädagogik ist ein vielfältiges Arbeitsfeld, in dem eine Vielzahl professioneller Akteur*innen in Praxis, Forschung und Transfer tätig sind. Die Bedingungen ihres professionellen Handelns verändern sich stetig. Im trans- und interdisziplinären Feld der Medienpädagogik stellt sich daher die Frage, wie übergreifende Maxime der Professionalität formuliert werden können.
Im Sammelband Umrisse einer Pädagogik des 21. Jahrhunderts im Kontext der Digitalisierung suchen 20 Autor*innen in 16 Beiträgen Antworten. Die Artikel sind in Arbeitsgruppen des GEW Bundesforums Bildung in der digitalen Welt entstanden und eröffnen eine Bandbreite aktueller theoretischer und praktischer Überlegungen in diversen Handlungsfeldern der Medienpädagogik. Dazu werden theoretische, ethische und praktische Herausforderungen der Digitalisierung unter dem Primat der Pädagogik formuliert und explizit Forderungen an die Politik abgeleitet. Die Beiträge durchzieht deutlich eine politische Dimension. Die Hürden des föderalen Bildungssystems werden aufgegriffen und Forderungen an Bund und Länder abgeleitet. Diese umfassen unter anderem die Finanzierung und Verstetigung medienpädagogischer Bildungsangebote, die Verbesserung digitaler Teilhabemöglichkeiten und die Demokratisierung der (digitalen) Bildung in der Medienpädagogik. Es wird aber auch das politische Mandat der Medienpädagogik zur Medienkompetenzförderung deutlich. Besonders sichtbar wird dieses Mandat in den Beiträgen über die schulischen Handlungsfelder. Hier setzen sich die Autor*innen kritisch mit der KMK-Strategie Bildung in der Digitalen Welt und ihren Implikationen auseinander.
Die Beiträge zeigen außerdem auf, dass sich in medienpädagogischen Handlungsfeldern durch die digitale Transformation vielfältige theoretische und ethische Fragen eröffnen. Kapitel 2 wendet sich der bildungstheoretischen Ebene zu. Es wird diskutiert, inwiefern sich die Voraussetzungen des Lernens durch die Integration digitaler Technologien in Lernsettings verändern, wie die wachsenden Orientierungsanforderungen an Subjekte in fragilen Medienumgebungen adressiert werden können und welche medienpädagogischen Kompetenzen in einer Kultur der Digitalität zu entwickeln sind. Weitere Beiträge wenden sich der ethischen Dimension zu und diskutieren beispielsweise die Ausbreitung kapitalistischer Strukturen und Datafizierung im Bildungsbereich. Um den Herausforderungen zu begegnen, wird das Primat der Pädagogik angesichts digitaler Spaltung und ungleicher Teilhabechancen in der demokratischen Gesellschaft kritisch diskutiert.
Neben der politischen Dimension und den disziplinären Verortungen eröffnen die Buchbeiträge tiefe Einblicke in die vielfältigen Handlungsansätze der Medienpädagogik. Hier rücken insbesondere die in Kapitel 3 dargestellten Praxisfelder in den Fokus. Bereits in der Krippe und im Kindergarten ist es beispielsweise relevant, mediale Bildungsprozesse und die kritisch-reflexive Auseinandersetzung von Kindern mit Alltagstechnologien zu fördern. Die Schulsozialarbeit eröffnet inklusive und demokratische Räume, in denen sie Heranwachsende bei der souveränen und selbstbestimmten Aneignung von Medien unterstützt. Betrachtet man das Feld der Erwachsenenbildung, sind medienpädagogische Angebote bisher rar gesät. Dabei ist Medienbildung als Teil der beruflichen Aus -und Weiterbildung für die Arbeitswelt hoch relevant. Auch für ältere Menschen werden bisher nur wenige Angebote bereitgestellt.
Das Buch zeigt, dass eine Vielzahl unterschiedlicher Akteur*innen im Feld der Medienpädagogik tätig ist. Alle erheben den Anspruch, die digitale Transformation mitzugestalten – und tun dies auch. Die vielfältigen Perspektiven und die politischen Forderungen, die daraus abgeleitet werden, bleiben jedoch disparat. Ein Orientierungsangebot, das Feld der Medienpädagogik zu ordnen, die politischen Forderungen zu bündeln und sie als gesellschaftliche Akteurin zu adressieren ist das aus der Sozialen Arbeit bekannte Trippelmandat1 professionellen Handelns: Übergreifend wird in den Beiträgen deutlich, dass die Medienpädagogik durch Bund und Länder erstens ein politisches Mandat zur Förderung der Medienkompetenz aller Zielgruppen erhält. Zweitens zeigen die Buchbeiträge, dass die Medienpädagogik ein Mandat durch ihre Adressat*innen erhält, sich für eine gelingende digitale Teilhabe innerhalb bestehender gesellschaftlicher Strukturen einzusetzen. Das dritte Mandat entsteht aus der theoretisch und ethisch begründeten Fachlichkeit der Medienpädagogik, die sich angesichts ihrer politischen Dimension und des digitalen Wandels stets weiterentwickelt.
Über eine solche Bestimmung medienpädagogischer Fachlichkeit ist es möglich, die Disziplin und Profession der Medienpädagogik als eine gesellschaftliche Akteurin und strategische Partnerin der GEW weiterzuentwickeln. Ziel ihres professionellen Handelns ist die Sicherstellung digitaler Teilhabe aller durch den souveränen und selbstbestimmten Umgang mit Medien und Partizipationsmöglichkeiten am digitalen Wandel zu eröffnen.
1Definition von Ronald Lutz unter www.socialnet.de/lexikon/Tripelmandat [Zugriff: 10.03.2023]Schorb, Bernd/Bensinger-Stolze, Anja/Schell, Fred/Dusse, Birgita/Antritter, Wolfgang (Hrsg.) (2022). Umrisse einer Pädagogik des 21. Jahrhunderts im Kontext der Digitalisierung. München: kopaed. 208 S., 18,00 €.
Beitrag aus Heft »2023/02: Social Media in der Beratung«
Autor: Eric van der Beek
Beitrag als PDFEinzelansichtKati Struckmeyer: Betz, Joachim/Schluchter, Jan-René (Hrsg.) (2023). Schulische Medienbildung und Digitalisierung im Kontext von Behinderung und Benachteiligung. Weinheim/ Basel: Beltz Juventa. 414 S., 48,00 €
Mit diesem Werk setzen die Herausgeber Impulse für Konzepte und Modelle der Medienbildung mit Menschen mit Behinderungen im Kontext von Schule und Unterricht. Dabei stehen unter anderem die Verbindungslinien von medien-, sonder- und inklusionspädagogischen Ansätzen für das Handlungsfeld Schule im Fokus, die bisher wenig erschlossen sind. Der Band ist in vier Schwerpunkte aufgeteilt: Behinderung – Bildung – Wissenschaft, Orientierungen im Horizont einer Diversität von Behinderung, Übergreifende Perspektiven im Horizont einer Diversität von Behinderung und Professionalisierung auf Ebene der Lehrer*innenbildung. Mit dieser Ausrichtung legen die Herausgeber eine Bestandsaufnahme aktueller – und gewachsener – Diskurse im Schnittfeld von Digitalisierung, Medienbildung mit Menschen mit Behinderungen und Inklusion/Inklusiver Bildung dar und zeigen hierbei Perspektiven für Theorie und Praxis auf. Die Bearbeitung digitaler Ungleichheiten entlang von Behinderung und ihre Entfaltung in der Gesellschaft spielen dabei eine große Rolle. Hervorzuheben ist das erste Kapitel ‚Zwischen Klassismus und Ableismus – wie Wissenschaftssprache Ableismus produziert‘ von Andrea Schöne, Journalistin und Speakerin. Sie wirft grundlegende Fragen auf, welche Leser*innen nachhaltig beschäftigen dürften: „Wer darf forschen und wer nicht? Welche behinderten Menschen haben Zugang zu höherer Bildung? Wie stark sind Ableismus und Klassismus miteinander verbunden und bedingen sich gegenseitig sogar?“ (S. 14). Weitere interdisziplinäre Autor*innen zeigen auf, wo Handlungsbedarf besteht und ein Umdenken erforderlich ist, aber auch welche beispielhaften Projekte, Initiativen und Forschungsarbeiten es schon gibt. Der Band ist ein Grundlagenwerk für alle pädagogisch Tätigen, denn Inklusion ist in der UN-Behindertenrechtskonvention festgeschrieben. Es muss aber noch viel getan werden, damit sich das auch im Alltag widerspiegelt.
Beitrag aus Heft »2023/02: Social Media in der Beratung«
Autor: Kati Struckmeyer
Beitrag als PDFEinzelansichtHeinrike Paulus: Noppenberger, Anke/Bohnstedt, Antje (2023): Henry: Handy gut, alles gut? Bilderbuchgeschichten. München: Don Bosco Medien. Bildkarten und Begleitheft, 18,00 €.
Ein eigenes Smartphone besitzen inzwischen etwa sieben Prozent der Kinder im Alter von sechs und sieben Jahren. Rund 54 Prozent sind es bei den Zehn- bis Elfjährigen. Am Beispiel von kleinen, bunten Monstern, etwa Henry und seinem Schokoladen-Handy, wird in der kindgerechten Bildergeschichte erzählt, wie „übermäßiger Spielekonsum auf Kosten des Schlafes, der Aufmerksamkeit und der Leistungsfähigkeit gehen kann“ (S. 7). Die ansprechend illustrierten, großformatigen dreizehn Bildkarten sollen Gesprächsanlässe über den Medienkonsum stiften und zum Erzählen animieren. Sie eignen sich für die pädagogische Arbeit mit Kindern zwischen fünf und zehn Jahren in Kindertagesstätten, Grundschulen oder Familien. Aufgegriffen werden durch die dargestellten Erlebnisse der Monster unter anderem Ängste, die ausgelöst werden, wenn die Kinder mit erschreckenden Inhalten aus dem Internet konfrontiert werden. Ebenso wird auf ein Medienverhalten eingegangen, das sozialen Druck oder Mobbing entstehen lässt oder gar zu einer exzessiven Nutzung führt. Gleichzeitig werden Möglichkeiten für einen maßvollen und bewussten Medienumgang aufgezeigt, damit das Smartphone nicht zum ‚Zeitfresser‘ wird. Im Begleitheft widmet sich Sozialpädagogin und Erzieherin Anke Noppenberger in zwei Schwerpunktkapiteln den Chancen und Gefahren von Smartphones in Kinderhänden. Dabei nimmt sie Bezug auf einschlägige wissenschaftliche Studien und Fachliteratur, was sie auch für medienpädagogische Anfänger*innen oder Lai*innen verständlich erläutert. Der präventive Charakter der pädagogischen Handreichung zeigt sich über die kleine Monster-Geschichte hinaus durch eine Palette von kreativen Ideen. Sie sollen unkompliziert und unterhaltsam das Üben mit dem ersten mobilen Endgerät und den Alltag damit erleichtern: Sei es durch einen altersgerecht verständlichen Vertrag, um die Nutzungsdauer des Handys zu regeln, oder das Gestalten einer Ruhebox für das Gerät während der medienfreien Zeit.
Beitrag aus Heft »2023/02: Social Media in der Beratung«
Autor: Heinrike Paulus
Beitrag als PDFEinzelansichtKatharina Stengl: Schwelgengräber, Wiebke (2022). Wer sehen will, muss spüren. Wiesbaden: Springer VS. 162 S., 22,99 €
Jede*r kennt das wohlige Gefühl, welches das Happyend eines Films hinterlässt, oder den Schauer, der bei Horrorfilmen über den Rücken läuft. Wie kommt es, dass wir trotz des Wissens, dass Filme inszeniert sind, solche starken Gefühle empfinden? Warum berühren uns manche Filme und Serien, während andere uns kaltlassen? Diese und noch mehr Fragen stellt sich Wiebke Schwelgengräber in ihrem Sachbuch Wer sehen will, muss spüren. Das Werk basiert auf eigenen Erfahrungen der Autorin und vereint in neun Kapiteln die Fachdisziplinen Psychologie und Philosophie. Sie nennt sowohl positive als auch negative Aspekte des Schauens von Filmen und Serien. Ein Beispiel ist das Bingewatching von Serien, das sowohl als Flucht- als auch als Stresserlebnis betrachtet werden kann. Das Schauen von Filmen und Serien kann uns auch dabei helfen, sich leiblicher Regungen im Alltag bewusst zu werden und diese besser zu verstehen. Sie spielen in der Publikation eine große Rolle, da sie eine Vielfalt körperlicher Regungen darstellen und neben den fünf Sinnen auch das Empfinden von Schmerz oder das Pochen des Herzens miteinbeziehen. Die ersten vier Kapitel handeln von den verschiedenen leiblichen Regungen und Empfindungen, die wir beim Schauen von Filmen und Serien wahrnehmen. Im fünften Kapitel befasst sich die Autorin mit der Flucht vor dem Alltag durch Film und Serien. Es folgen Ideen darüber, wie Filme und Serien uns beeinflussen und verändern, wenn sie vorbei sind. Das letzte Kapitel bietet den Leser*innen einen kleinen Ratgeber für das bewusste Sehen von Filmen und Serien. Medienpädagog*innen können die Erkenntnisse und Erfahrungen aus dem Fachbuch für Forschungsarbeiten und Projekte nutzen und weiterentwickeln. Zudem ist die Publikation für alle interessant, die gerne regelmäßig Filme oder Serien schauen. Sie bietet Erklärungen über die Hintergründe des Film- und Serienschauens und Begründungen zu unseren Gefühlen.
Beitrag aus Heft »2023/02: Social Media in der Beratung«
Autor: Katharina Stengl
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kolumne
Sina Stecher: Kennt jemand bindungstheoretische Ansätze zu Technik? – Ich frag’ für ’ne Freundin...
Tamagotchi, Furby, Pou – die Faszination für Technik, die gleichzeitig umsorgt werden kann, war irgendwie schon immer mein Ding. Ich hätte nicht gedacht, dass ich eine ähnlich tiefe Bindung zu meinem Staubsaugerroboter habe. Als er mit in meine Wohnung zog, habe ich ihm ein Nestchen gebaut bzw. seine Ladestation mit Strom und ausreichend Platz versorgt, drückte seinen einzigen Knopf und daraufhin zog er los, um die Wohnwelt zu erkunden. Etwas planlos und zuweilen hilflos, aber immerhin nützlich und irgendwie niedlich. Er gebraucht fleißig seinen Bumper, seine kleine Stoßstange, um wahlweise gegen Möbel, Mauern oder seine Menschen zu fahren – immer wieder. Da er rot ist, erinnert er mich an einen Marienkäfer. Insbesondere dann, wenn er mal wieder herzzerreißend mehrfach piepst, weil er sich eines seiner Bürstenbeinchen ausgerissen hat. Liebevoll lege ich ihn dann auf den Rücken, streichele kurz das staubbedeckte Bäuchlein sauber, kämme die Bürsten von den Haaren frei und montiere das Beinchen wieder. Verschwindet er unter dem Sofa und wird dort müde bzw. reicht der Akku aufgrund seines Alters nicht mehr so lange, dann presse ich mich fest auf den Boden, rede ihm in der Dunkelheit gut zu und fluche ein bisschen, weil er nicht hört bzw. die Fernbedienung noch nie gut funktioniert hat. Nach vier gemeinsamen Jahren, in denen der kleine Kerl fleißig Staubmäuse gefangen hat, sollte ein smarteres Modell her. ‚Der Neue‘ fordert WLAN- und GPS-Zugang – na gut, wegen mehr Präzision hatte ich ihn ja auch adoptiert, äh, angeschafft: Also sagte ich meinem Router Obi-Wlan-Kenobi, dass ihn nun ein Droide suchen würde.
Das Smartphone mutiert zur Fernbedienung und zeigt, wie ‚der Neue‘ die Wohnung mit seinem Laser vermisst. Obwohl ich ihm durchs erste Zimmer hinterhergedackelt bin, hat er meine Hilfe nicht nötig. Die restliche Erkundungstour macht er ohne mich und ich kann ihn via Smartphone verfolgen. Er beendet seinen ersten Reinigungsvorgang und zeigt an, dass er in 47 Minuten 33 Quadratmeter gesaugt hat und schlägt vor, dass er das jeden Freitag machen könnte. Ich sitze wehmütig auf dem Sofa. Mein neues Gerät, es braucht mich nicht. Trotz toller Putzperformance bin ich nicht sicher, ob ich es mag: Es spricht in Schlagworten oder kurzen Sätzen mit mir. Lässt keinen Raum mehr für meine Interpretationen der Pieptöne. Vielleicht möchte mir der technische Fortschritt sagen, dass ich mich ebenfalls weiterentwickeln und erwachsen werden sollte – mit Hilfe der App taufe ich ‚den Neuen‘ auf den Namen: Drecko Malfoy.Beitrag aus Heft »2023/02: Social Media in der Beratung«
Autor: Sina Stecher
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