2020/04 Medien und Narrative - Die Kraft des Erzählens in mediatisierten Welten
Digitalisierungsprozesse verändern Medien als Erzählräume. Dies geschieht vor allem durch die zunehmende Mitgestaltung der Nutzenden. Diese Ausgabe beschäftigt sich mit fiktionalen
und dokumentarischen, interaktiven sowie multimedialen Erzählformen in Netzumgebungen. Deutlich wird hier die große Bedeutung von Narrativen in der Aufbereitung und Rezeption von Themen mit Medien.Es gibt kaum einen Medienbeitrag, in dem nicht Narrative zitiert und neue Geschichten erzählt werden. Insbesondere junge Menschen nutzen in eigenen Medienbeiträgen bekannte Rollen und Bilder. merz 20-4 möchte durch die Behandlung von medialen Narrativen sowohl zu einer spannenden Reflexion der eigenen Vorlieben und Bilder beitragen, als auch ein Ansatzpunkt für die pädagogische Arbeit sein.
aktuell
Jana Schreiner/Stefanie Brosz: Self-Tracking im Freizeitsport
Ob wir mit einer Fitness-App körperbezogene Daten allein für uns oder als kommerzielle Grundlage für die unternehmerischen Tätigkeiten der Anbieter*innen tracken, macht eigentlich keinen Unterschied – zumindest datenschutztechnisch.
Steile These, aber tatsächlich gibt es kaum Fitnesstracker-Apps und -Uhren, die einen guten Datenschutz der sensiblen Daten gewährleisten. Dies sollte durchaus kritisch gesehen werden. Welche Perspektive haben Jugendliche darauf? Wie gehen Jugendliche mit Self-Tracking-Technologien um? Welche Potenziale und Risiken sehen sie? Und wie können Heranwachsende in einem souveränen Umgang mit Self-Tracking unterstützt werden? Diese Fragen interessieren nicht nur das Bayerische Staatsministerium für Umwelt und Verbraucherschutz und die Bayerische Sportjugend, die das Projekt Self-Tracking im Freizeitsport fördern, sondern auch das JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis als umsetzende Institution.
So wurden medienpädagogische Methoden und Materialien für Übungsleiter*innen, ehrenamtliche Jugendleiter*innen und Sportlehrkräfte entwickelt, um die Verwendung von Fitness-Apps und -Armbändern in der Arbeit mit Jugendlichen kritisch zu reflektieren. Ziel war es dabei, das Bewusstsein über Nutzen und Risiken von Self-Tracking-Angeboten zu stärken und einen souveränen Umgang damit zu fördern. Begleitend zur Materialentwicklung wurden die Self-Tracking-Erfahrungen von Jugendlichen in einer explorativen Studie erforscht. Die Studie gibt einen Einblick in die unterschiedlichen Nutzungsmotive der Heranwachsenden und zeigt, welche Potenziale, Risiken und Unterstützungsbedarfe sie in der Nutzung sehen.
Durch die Einbindung des Themas Self-Tracking in den Vereins-und Schulsport bieten die Methoden den Jugendlichen Raum, sich mit Fragestellungen beispielsweise zu Datenschutz, Motivation und Identitätsbildung auseinanderzusetzen. Die entwickelten Methodenpakete regen dazu an, positiv wahrgenommene Aspekte, wie Motivation und Wissen über den eigenen Körper, sowie herausfordernde Gesichtspunkte von Self-Tracking bewusst zu machen.
Da hinter Fitness-Apps und -Uhren wirtschaftliche Unternehmen und ihre Interessen stehen, ist ein kritischer Umgang mit den Produkten und mit der Speicherung von erzeugten Daten enorm wichtig. Die Methodenpakete haben die Förderung eines kompetenten und reflektierten Umgangs mit Self-Tracking-Technologien zum Ziel.Beitrag aus Heft »2020/04 Medien und Narrative - Die Kraft des Erzählens in mediatisierten Welten«
Autor: Jana Schreiner, Stefanie Brosz
Beitrag als PDFEinzelansichtDana Neuleitner: Wirksamkeit von Gegenrede
Zivile Gegenrede im Internet funktioniert. Zum ersten Mal konnte dies ein Forscher*innenteam des Santa Fe Institutes und des Max Planck Instituts anhand einer umfangreichen Studie zeigen. Demnach helfe organisierte Gegenrede dabei, polarisierte und hasserfüllte Diskurse sowie individuelle Diskussionen auszugleichen.
Als Grundlage dienten Hasskommentare des rechtsextremen Netzwerks Reconquista Germanica sowie organisierte zivile Gegenrede der von Jan Böhmermann ins Leben gerufenen Gegeninitiative Reconquista Internet (RI). Während Hassrede durch Algorithmen vergleichsweise leicht erkennbar ist, mangelte es bisher an Datensätzen zur Erkennung von Gegenrede. Untersucht wurden nun unter anderem Antwortbäume basierend auf Tweets von Nachrichtenunternehmen, bekannten Journalist*innen und Blogger*innen sowie Politiker*innen, die sich politisch auf Twitter äußern und Ziel von Hassrede waren. Darunter etwa Medienformate wie Tagesschau und Spiegel Online oder auch öffentliche Personen wie Dunja Hayali oder Cem Özdemir. Die Mehrheit dieser Konversationen enthielt sowohl Hass- als auch Gegenrede. Bevor RI aktiv wurde, war der Anteil an Hassrede recht stabil, wobei deren Extremität beständig zunahm. Nach der Gründung von RI änderte sich das Bild: Der Anteil an neutraler Rede und Gegenrede nahm zu, während sowohl Anteil als auch Ausprägung der Hassrede die folgenden Monate über abnahm. Das weist darauf hin, dass Gegenrede zu einem ausgeglicheneren Diskurs führen kann. Bei der Interaktion von Hass- und Gegenrede zeigte sich jeweils über einen sechsmonatigen Zeitraum vor und nach der Gründung von RI im April 2018, dass zunächst bereits auf einen kleinen Anteil an Hassrede mehr Hass und eine Unterdrückung von Gegenrede folgte. Sobald viel Hassrede gepostet wurde, nahm Gegenrede zu und Hassrede ab. Nach der Gründung von RI zog Gegenrede weniger Hassrede nach sich. Zusätzliche Gegenrede wurde angeregt.
Über 135.000 Twitter-Konversationen zwischen 2013 und 2018, etwa zu Wahlen und Migration, ergaben das bislang größte Korpus zu diesem Untersuchungsgebiet. Dafür wurden Millionen Tweets der Mitglieder gesammelt und daraus Trainingssätze erstellt, an denen Classifier getestet wurden. Deren Ergebnisse wurden stichpunktartig mit von Menschen klassifizierten Tweets abgeglichen. Die Studie zeigt das Potenzial automatisierter Methoden für die Evaluation von koordinierter Gegenrede bei der Stabilisierung von Konversationen in Sozialen Medien.
Beitrag aus Heft »2020/04 Medien und Narrative - Die Kraft des Erzählens in mediatisierten Welten«
Autor: Dana Neuleitner
Beitrag als PDFEinzelansichtJounas Al Maana/Maurice Pflug: Erfahrungen junger Menschen in der Corona-Zeit
Junge Menschen sehen ihre Perspektiven in der Corona-Krise nicht beachtet. Das zeigt die JuCo-Studie des Forschungsverbunds Kindheit – Jugend – Familie in der Corona-Zeit, der sich aus dem Institut für Sozial- und Organisationspädagogik an der Stiftung Universität Hildesheim und dem Institut für Sozialpädagogik und Erwachsenenbildung an der Universität Frankfurt in Kooperation mit der Universität Bielefeld zusammensetzt.
An der Umfrage nahmen 6431 Menschen zwischen 15 und 30 Jahren teil, von denen 5128 den Fragebogen zu mindestens 95 Prozent ausfüllten. Bei der Onlinebefragung haben 566 Teilnehmende Angaben im Bereich der freien Texteingabe zum Ende des Befragungsbogens gemacht, sodass der Forschungsverbund seine quantitative Analyse um einen qualitativen Teil erweiterte.
Im quantitativen Teil der Studie wird auf einer Skala von null bis zehn ein eher hohes Wohlbefinden der Jugendlichen in der Wohnsituation (6,61) festgestellt. Mit den Kontakten zu Peers sind die Jugendlichen bei einem Mittelwert von 4,95 deutlich unzufriedener. Rückblickend sind die Befragten mit ihrer verbrachten Zeit vor den Kontaktbeschränkungen im Schnitt deutlich zufriedener als mit ihrer Zeitgestaltung während der Beschränkungen. Besonders bemerkenswert ist der Eindruck vieler Jugendlicher, dass ihre Sorgen nicht gehört werden. Etwa 30 Prozent stimmen der Aussage teilweise, etwas über 16 Prozent eher und etwa sieben Prozent voll zu. Auch auf die aktuell besonders prekäre Lage von Schüler*innen von Förderschulen und/oder jungen Menschen mit Beeinträchtigungen weisen die Autor*innen hin.
Damit machen sie auch auf die relevante Verzerrung – insbesondere des qualitativen Teils der Umfrage – aufmerksam, dass Schüler*innen mit ausgeprägtem Wunsch zur Mitteilung vermutlich stärker erfasst wurden, als solche ohne entsprechenden Wunsch, während andere Jugendliche, etwa diejenigen mit Beeinträchtigungen, womöglich nicht oder kaum zu Wort kamen. Die Ergebnisse des qualitativen Teils der Studie zeigen, dass die Jugendlichen sich teilweise auf ihre Rolle als Schüler*innen und Studierende, die ‚funktionieren‘ sollen, reduziert fühlen – angehende Abiturient*innen äußern dahingehend besonders häufig Bedenken. Der Wegfall von organisierten, regelmäßigen Aktivitäten außerhalb der Schule, etwa in Vereinen, wiegt für viele Jugendliche besonders schwer. Es werde nicht hinreichend beachtet, dass Jugendliche im Gegensatz zu vielen Erwachsenen keine fortlaufenden Außenkontakte haben. Viele Jugendliche äußern Bedenken bezüglich der Verstärkung sozialer Ungleichheiten, etwa vor dem Hintergrund unterschiedlicher technischer Ausstattung. Sie fühlen sich in der Berichterstattung über die Pandemie häufig unterrepräsentiert.
Zwar zeigen sich einige erleichtert über den Wegfall sozialen Drucks im Schul- oder Peerkontext, gleichzeitig äußern andere Einsamkeitsgefühle. Als eine zentrale These des Papiers kann gelten: „Das Recht der jungen Menschen auf Beteiligung und Schutz darf nicht ein Schönwetterrecht sein und muss demnach krisenfest sein. Wenn es in der Krise aussetzt, ist es nicht fest genug etabliert.“
www.uni-hildesheim.de
Jounas Al Maana, Maurice PflugBeitrag aus Heft »2020/04 Medien und Narrative - Die Kraft des Erzählens in mediatisierten Welten«
Autor: Jounas Al Maana, Maurice Pflug
Beitrag als PDFEinzelansichtDana Neuleitner: Wie lernen Schüler*innen heute?
Kinder und Jugendliche halten es für besonders wichtig, den Umgang mit Computer, Internet, Handy oder Tablet zu lernen. Zusammen mit Englischkenntnissen landet diese Kategorie bei der Studie ‚Wie lernen Kinder und Jugendliche?' mit 59 Prozent auf dem zweiten Platz. Nur Rechtschreib- und Grammatikkenntnisse werden von den Zehn- bis 16-Jährigen als wichtiger eingeschätzt.
Dabei ist allerdings zu beachten, dass die befragten Schüler*innen der Medienkompetenz keine so große Bedeutung beimessen: Lediglich 23 Prozent sind der Ansicht es sei wichtig, über Informationen aus Medien wie Fernsehen und Internet urteilen zu können. Dieses Vermittlungsdefizit könnte dem Ziel, digital mündige Bürger*innen hervorzubringen, im Weg stehen. Rund ein Viertel der Eltern sieht es als ihre Pflicht an, dem Nachwuchs Quellenkompetenz oder kritisches Denken zu vermitteln sowie die Fähigkeit, eine eigene Meinung zu vertreten.
Obwohl Schüler*innen heutzutage durch das Internet Zugang zu vielerlei Informationen haben, gehen 56 Prozent dennoch davon aus, dass es notwendig ist, zu lernen und selbst etwas zu wissen. Der Großteil der befragten Eltern (80 %) ebenso. Doch etwa ein Viertel der Schüler*innen ist, wie acht Prozent der Eltern, anderer Ansicht.
Für Computerspiele begeistern sich besonders Jungen, während Mädchen sich mehr für Tiere, Mode und Kosmetik interessieren. Filme, Serien und Musik sind dafür bei beiden Geschlechtern beliebt. Das Digitale bevorzugen Jungen im Vergleich auch mehr beim Lernen. Insgesamt ziehen es 41 Prozent der Heranwachsenden bzw. 49 Prozent der Jungen und 32 Prozent der Mädchen vor, an Laptop und Co. zu lernen, wohingegen 30 Prozent der Schüler*innen bzw. 23 Prozent der Jungen und 37 Prozent der Mädchen sich lieber analog mit Buch, Papier und Stift Wissen aneignen. Hier ist festzuhalten, dass das Digitale mit dem Alter an Zustimmung gewinnt. So lernen insgesamt 35 Prozent der Zehn- bis Zwölfjährigen und 45 Prozent der 15- bis 16-Jährigen lieber digital.
Die repräsentative Studie wurde vom Institut für Demoskopie Allensbach im Auftrag der Deutsche Telekom Stiftung durchgeführt. Befragt wurden 1.000 Zehn- bis 16-Jährige sowie 500 Eltern der Altersgruppe bis Anfang März 2020. Zu diesem Zeitpunkt herrschten noch keine pandemiebedingten Schulschließungen, weshalb sich keine Rückschlüsse auf das Lernen innerhalb des Distance Schoolings ableiten lassen.
Beitrag aus Heft »2020/04 Medien und Narrative - Die Kraft des Erzählens in mediatisierten Welten«
Autor: Dana Neuleitner
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Kathrin Demmler/Dagmar Hoffmann: Editorial: Medien und Narrative - Die Kraft des Erzählens in mediatisierten Welten
Medien sind von jeher Erzähl-, Erlebnis- und Inszenierungsräume, die sich – so die Ausgangsthese – durch Digitalisierungsprozesse verändern, da sich unter anderem Angebote ausdifferenzieren, erweitern, neujustieren und zunehmend durch Nutzer*innen (mit)gestaltet werden. Nutzende fungieren nicht nur als Geschichtenleser*innen, sondern auch als Geschichtenerzähler*innen (Tophinke 2017). Produktions-, Nutzungs- und Aneignungsweisen von medial vermittelten Narrationen haben sich einerseits strukturell durch neue Formate und Plattformen und nicht zuletzt Streamingdienste gewandelt. Andererseits haben sich inhaltlich-dramaturgisch sowie ästhetisch neue Erzählweisen/-strategien in Film und Serien, auf Blogs, in Sozialen Netzwerken und vor allem auf Bild- und Videoportalen herausgebildet. Sie sind zu wichtigen Erzählkontexten avanciert, wobei die kulturelle Praxis des Erzählens sich mitunter den Umgebungen anpasst und sich die Erzähler*innen teilweise ihrem Publikum unterwerfen, dieses ‚empowern‘ und mobilisieren, erinnern oder auch verstören können. Es finden sich spontane, offene Erzählungen aber auch geschlossene. Manche haben Snippetcharakter. Man denke etwa an Instagram-Storys, Memes und Tweets. Erzählmedium ist sowohl Schriftlichkeit als auch Bildlichkeit in Form von Fotos, Filmen und kurzen Videos, die nur marginal beschrieben und kommentiert oder mit Hashtags versehen werden (Tophinke 2017; Wagner 2019). Letztere ermöglichen Themensetzungen, anlass- und issuebezogene Kollektivierungen von Nutzer*innen im Sinne einer „Neogemeinschaft“ (Reckwitz 2017, S. 262) sowie auch Resonanzräume, die kritisch nicht selten affektiv aufgeladen sind, Hate- und Counterspeech hervorbringen.
Das vorliegende Heft beschäftigt sich mit fiktionalen und dokumentarischen, interaktiven sowie multimedialen Erzählformen in Netzumgebungen. Der erste Beitrag von Christina Schachtner thematisiert narrative Selbstkonstruktionen in mediatisierten Lebenswelten. Ausgehend von der Metatheorie der Mediatisierung und dem phänomenologischen Lebensweltansatz gilt es, die Selbsterzählungen von Blogger*innen und Netzakteur*innen, die die Autorin interviewt hat, im Hinblick auf ihr Selbstbildungspotenzial einzuordnen. So verweisen nicht allein dominierende Narrationen, sondern auch narrative Puzzleteile, sogenannte „Narrationsnester“ (Kraus 2000), immer auf das eigene Selbst, das heißt auf Selbstentwürfe und das Bedürfnis nach einem kohärenten Identitätsgefühl.
Wie es sich anfühlt, verschiedenen Kulturen anzugehören, an zwei weit voneinander entfernten Orten zu leben und zu arbeiten, weiß der Theologe und Linguist Alexander Görlach nur zu gut. Kathrin Demmler hat ihn zu den aktuellen politischen Themen und der Prägung durch populäre Narrative interviewt.
Judith Ackermann, Leyla Dewitz und Alexandra Makulik interessieren sich für die Potenziale der App TikTok im Hinblick auf die individuelle und gesellschaftliche Bewältigung der Corona-Pandemie. Die Autorinnen werteten 100 Videos unter #corona inhaltsanalytisch aus und identifizier-ten zentrale Narrative. Als Ergebnis halten sie unter anderem fest, dass die Videos Krisenbewältigung, Angstreduktion und Stressregulation bei den Nutzer*innen ermöglichen.
Ausgangspunkt der Überlegungen von Florian Schultz-Pernice ist das Plakat der Fridays-for-Future-Bewegung mit dem Satz: „Dinosaurier dachten auch, sie hätten Zeit.“ Diskutiert werden neben der Kernbotschaft auch die Mittel und Strategien der Narrativierung, die seiner Ansicht nach ein besonderes Potenzial haben, eine der anthropozänen Konfiguration angemessene Bildungsbewegung anzuregen.
Historischen Narrativen in Film und Fernsehen widmet sich Andrea Kluxen. Sie setzt sich mit der Frage auseinander, wie und ob Filme oder Fernsehbeiträge zu historischen Themen uns helfen, Geschichte zu verstehen oder unser Geschichtsbewusstsein verfälschen. Abschließend setzt sich die Autorin mit dem Film selbst als historisches Dokument auseinander und betont seine Bedeutung für die Wissenschaft.
Florian Krauß und Julian Kinghorst beschäftigen sich in ihrem Beitrag mit digitalen Jugendnarrativen in der deutschen Fernsehfiktion. Anhand der Serien DRUCK, Wir sind jetzt und How to Sell Drugs Online (Fast) arbeiten die Autoren heraus, wie von Jugend erzählt wird. Demzufolge greifen alle drei Produktionen nicht nur narrationstypische Muster des Teen TV auf, sondern repräsentieren auch digitale Medienpraktiken und spiegeln so inhaltlich ihre Online-Distribution wider.
Einen Blick aus der Praxis auf Narrative werfen Jonas Lutz und Thomas Kupser in ihrem Beitrag am Beispiel von PARLAMENSCH. In diesem Projekt waren junge Filmemacher*innen gefordert, sich mit Demokratie aus der Perspektive unterschiedlicher Protagonist*innen auseinanderzusetzen.
Die Beiträge zeigen die große Bedeutung, die Narrative in der Aufbereitung und Rezeption von Themen mit Medien spielen. Kaum ein Medienbeitrag, in dem nicht Narrative zitiert, neue Geschichten erzählt und Bezüge zu bekannten Narrativen hergestellt werden. Insbesondere bei den von jungen Menschen selbst erstellten Medienbeiträgen ist die Auseinandersetzung mit bekannten Rollen und Bildern häufig grundlegend. Somit kann die Befassung mit medialen Narrativen sowohl zu einer spannenden Reflexion der eigenen Vorlieben und Bilder beitragen als auch
ein Ansatzpunkt für die pädagogische Arbeit sein.
LiteraturReckwitz, Andreas (2017). Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Berlin: Suhrkamp.
Tophinke, Doris (2017). Erzählen im Internet. In: Martínez, Matías (Hrsg.), Erzählen. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart: Metzler, S. 70–75.
Wagner, Elke (2019). Intimisierte Öffentlichkeiten. Pöbeleien, Shitstorms und Emotionen auf Facebook. Bielefeld: transcript.
Beitrag aus Heft »2020/04 Medien und Narrative - Die Kraft des Erzählens in mediatisierten Welten«
Autor: Kathrin Demmler, Dagmar Hoffmann
Beitrag als PDFEinzelansichtChristina Schachtner: Narrative Selbstkonstruktionen. Zur Funktion des Erzählens in mediatisierten Lebenswelten
Der Beitrag widmet sich den narrativen Selbstkonstruktionen in mediatisierten Lebenswelten. Unter Bezug auf die Theorie der Intersubjektivität und dem von Michel Foucault formulierten Ansatz der „Technologien des Selbst“ (1993) wird zunächst allgemein nach dem Warum des Erzählens gefragt, um anschließend die subjektbildenden Momente des Erzählens im Netz zu diskutieren. Digitale Medien erweisen sich als Orte und Instrumente für die Herstellung, Präsentation und Distribution von Narrationen. Sie bieten als solche neue Optionen für digitale Erzähler*innen und regen neue Erzählformen an.
Literatur:
Assmann, Aleida (1991). Fest und flüssig: Anmerkungen zu einer Denkfigur. In: Assmann, Aleida/Horth, Dietrich (Hrsg.), Kultur als Lebenswelt und Monument. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, S. 181–199.
Benjamin, Jessica (1990). Die Fesseln der Liebe. Frankfurt am Main: Stroemfeld/Roter Stern.
Bhabha, Homi K. (2012). Über kulturelle Hybridität. Tradition und Übersetzung, Wien/Berlin: Turia + Kant, S. 17–58.
Ehrenberg, Alain (2004). Das erschöpfte Selbst. Depressionen und Gesellschaft in der Gegenwart. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Fahrenwald, Claudia (2019): Zwischen Imagination, Innovation und Integration. Erzählen im Kontext neuer Lernkulturen. In: Uhlig, Bettina/Lieber, Gabriele/Pieper, Irene (Hrsg.), Erzählen zwischen Bild und Text, München: Kopaed, S. 113–125.
Foucault, Michel (1993). Technologien des Selbst. In: Foucault, Michel/Rux, Martin/Luther H. Martin/Paden E. William/Rothwell, Kenneth S./Gutman, Huck/Hutton Patrick H. (Hrsg.), Technologien des Selbst. Frankfurt am Main: S. Fischer, S. 24–62.
Freeman, Mark (2017). Narrative at the Limits. (Or: What Is „Life“ Really Like?). In: Schiff, Brian/McKIM, A. Elisabeth/Patron, Sylvie (Eds.), Life and Narrative. The Risks and Responsibilities of Storying Experience, New York: Oxford University Press pp. 11–27.
Kraus, Wolfgang (2000). Identität als Narration. Die narrative Konstruktion von Identitätsprojekten. http://web.fu-berlin.de/postmoderne-psych/berichte3/kraus.htm [Zugriff: 01.07.2020]
Kraus, Wolfgang (2007). Das narrative Selbst und die Virulenz des Nicht-Erzählten. In: Joisten, Karen (Hrsg.), Narrative Ethik. Das Gute und das Böse erzählen. Berlin: Akademie Verlag, S. 25–43.
Krotz Friedrich/Hepp, Andreas (2012). Mediatisierte Welten. Forschungsfelder und Beschreibungsansätze – Zur Einleitung. In: Krotz, Friedrich/Hepp, Andreas (Hrsg.), Mediatisierte Welten. Wiesbaden: Springer Fachmedien, S. 7–23.
Lucius-Hoene, Gabriele/Deppermann, Arnulf (2004). Rekonstruktion narrativer Interviews. Ein Arbeitsbuch zur Analyse narrativer Interviews. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Meyer-Drawe, Käte (1990). Illusionen von Autonomie. München: P. Kirchheim Verlag.
Nünning, Ansgar (2019). Wie Erzählungen Kultur erzeugen. Prämissen, Konzepte und Perspektiven für eine kulturwissenschaftliche Narratologie. In: Uhlig, Bettina/Lieber, Gabriele/ Pieper, Irene (Hrsg.), Erzählen zwischen Bild und Text. München: kopaed, S. 31–67.
Nünning, Vera (2013). Erzählen und Identität: Die Bedeutung des Erzählens im Schnittfeld zwischen kulturwissenschaftlicher Narratologie und Psychologie. In: Strohmaier, Alexandra (Hrsg.), Kultur – Wissen – Narration. Bielefeld: transcript, S. 145–169.
Reißmann, Wolfgang/Hoffmann, Dagmar (2017). Mediatisierung und Mediensozialisation. Überlegungen zum Verhältnis zweier Forschungsfelder. In: Hoffmann, Dagmar/Krotz, Friedrich/Reißmann, Wolfgang (Hrsg.), Medien, Kultur, Kommunikation, Wiesbaden: Springer Fachmedien, S. 59–77.
Rosa, Hartmut (2016): Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin: Suhrkamp.
Schachtner, Christina (2016). Das narrative Subjekt. Erzählen im Zeitalter des Internets. Bielefeld: transcript.
Schachtner, Christina (2019): Das erzählte Selbst: Narrative Subjektkonstruktionen im Zeichen medialen und gesellschaftlich-kulturellen Wandels. In: Gentzel, Peter/Krotz, Friedrich/Wimmer, Jeffrey/Winter, Rainer (Hrsg.), Das vergessene Subjekt. Subjektkonstitutionen in mediatisierten Alltagswelten. Wiesbaden: Springer VS, S. 159–184.
Schütz Alfred/Luckmann, Thomas (1975). Strukturen der Lebenswelt, Darmstadt: Luchterhand.
Stern, Daniel N. (2005). Der Gegenwartsmoment. Veränderungsprozesse in Psychoanalyse, Psychotherapie und Alltag. Aus dem Amerikanischen von Elisabeth Vorspohl. Frankfurt am Main: Brandes & Apsel.
Straub, Jürgen (2013): Kann ich mich selbst erzählen – und dabei erkennen? Prinzipien und Perspektiven einer Psychologie des Home narrator. In: Strohmaier, Alexandra (Hrsg.), Kultur – Wissen – Narration. Perspektiven transdisziplinärer Erzählforschung für die Kulturwissenschaften. Bielefeld: transcript, S. 75–144.
Beitrag aus Heft »2020/04 Medien und Narrative - Die Kraft des Erzählens in mediatisierten Welten«
Autor: Christina Schachtner
Beitrag als PDFEinzelansichtKathrin Demmler: Narrative sind oft der kleinste gemeinsame Nenner. Ein Interview mit Alexander Görlach
Wie verändern sich Narrative, wie können sie neu interpretiert und erweitert werden? Wie gestalten sich Narrative im internationalen Vergleich, besonders unter den derzeitigen Bedingungen der Corona-Pandemie und wie prägen sie unsere Gesellschaft? Im Interview werden historische Zusammenhänge aufgezeigt und aktuelle Entwicklungen näher betrachtet.
Beitrag aus Heft »2020/04 Medien und Narrative - Die Kraft des Erzählens in mediatisierten Welten«
Autor: Kathrin Demmler
Beitrag als PDFEinzelansichtJudith Ackermann/Leyla Dewitz/Alexandra Makulik: Soziale Medien als Mittel der Krisenbewältigung. Besonderheiten digitalen Storytellings auf TikTok am Beispiel von #Corona
Welche Potenziale hat TikTok für die individuelle und gesellschaftliche Bewältigung der Corona-Pandemie? In einer qualitativen Inhaltsanalyse von 100 Videos unter #Corona wurden zentrale Narrative in Bezug auf digitales Storytelling herausgearbeitet und aus psychologischer Perspektive auf mögliche Coping-Strategien untersucht. Die Ergebnisse zeigen die meist unbewusste Auseinandersetzung mit persönlichen Bedürfnissen und Möglichkeiten korrektiver emotionaler Erfahrungen auf TikTok.
Literatur:
Ackermann, Judith/Dewitz, Leyla (2020). Kreative Bearbeitung politischer Information auf TikTok – eine multimethodische Untersuchung am Beispiel des Hashtags #ww3. In: MedienPädagogik. Zeitschrift für Theorie und Praxis der Medienbildung. (im Erscheinen).
Feld, Olivia (2019). TikTok fined $5.7m for violating children's privacy.www.telegraph.co.uk/technology/2019/02/28/tiktok-fined-57m-violating-childrens-privacy/ [Zugriff: 05.06.2020]
Kale, Sirin (2020). How Coronavirus helped TikTok find its voice. www.theguardian.com/technology/2020/apr/26/how-coronavirus-helped-tiktok-find-its-voice [Zugriff: 05.06.2020]
Khattab, Mona (2020). Synching and performing. Body (re)-presentation in the short video app TikTok. http://widerscreen.fi/numerot/2019-1-2/synching-and-performing-body-re-presentation-in-the-short-video-app-TikTok [Zugriff: 05.06.2020]
Klußmann, Rudolf (1993). Psychotherapie. Berlin/Heidelberg: Springer-Verlag.
Lazarus, Richard S./Folkmann, Susan (1984). Stress, Appraisal and Coping. New York: Springer.
Literat, Iona/Kligler-Vilenchik, Neta (2019). Youth collective political expression on social media: The role of affordances and memetic dimensions for voicing political views. In: New Media & Society, 21(9), S. 1988–2009. DOI:10.1177/1461444819837571.
Mallinson, Tilda (2020). Psychologists reveal how TikTok can actually be great for your mental health and wellbeing. www.standard.co.uk/tech/TikTok-positive-impact-mental-health-wellbeing-experts-a4438246.html [Zugriff: 05.06.2020]
Omar, Bahiyah/Dequan, Wang (2020). Watch, Share or Create. The Influence of Personality Traits and User Motivation on TikTok Mobile Video Usage. In: International Journal Of Interactive Mobile Technologies, 14 (4), S. 121–137. DOI: http://dx.doi.org/10.3991/ijim.v14i04.12429.
Smolentceva, Natalia (2019). TikTok: World's most successful video app faces security concerns. www.dw.com/en/tiktok-worlds-most-successful-video-app-faces-security-concerns/a-4806386 [Zugriff: 05.06.2020]
Wang, Yunwen (2020). Influence of camera view on TikTok users’ presence, immersion, and adoption intent. In: Computers in Human Behavior, 110. DOI: https://doi.org/10.1016/j.chb.2020.106373.
Winkler, Sabine (2019). Warum die chinesische App Tiktok zur beliebtesten App der Welt wurde. www.welt.de/kmpkt/article194801553/Tiktok-ist-die-beliebteste-App-der-Welt.html [Zugriff: 05.06.2020]
Zhu, Chengyan/Xu, Xiaolin/Zhang, Wei/Chen, Jianmin/Evans, Richard (2020). How Health Communication via TikTok Makes a Difference. A Content Analysis of Tik Tok Accounts Run by Chinese Provincial Health Committees. In: International Journal of Environmental Research and Public Health, 17(1), S. 192. DOI: 10.3390/ijerph17010192.
Zuo, Hui/Wang, Tongyue (2019). Analysis of Tik Tok User Behavior from the Perspective of Popular Culture. In: Frontiers in Art Research,1(3), S. 1–5. DOI: 10.25236/FAR.20190301.
Beitrag aus Heft »2020/04 Medien und Narrative - Die Kraft des Erzählens in mediatisierten Welten«
Autor: Judith Ackermann, Leyla Dewitz, Alexandra Makulik
Beitrag als PDFEinzelansichtFlorian Schultz-Pernice: Erzählungen für eine Bildung, die an der Zeit ist. Darstellung und Gestaltung von Zeit in narrativen Texten des Anthropozäns
Im vorliegenden Beitrag sollen zwei Fragen betrachtet werden. Erstens: Was wären spezifische Charakteristika einer ‚zeitgemäßen Bildung‘? Damit ist eine Bildung gemeint, die dazu geeignet ist, Herausforderungen zu bearbeiten, mit denen wir heute in besonderer Weise konfrontiert sind. Zweitens: Was können Narrative dazu beitragen, eine solchermaßen bestimmte ‚zeitgemäße Bildung‘ zu vermitteln? Dabei soll auch beleuchtet werden, ob Narrative in unterschiedlichen Medien vielleicht auch über unterschiedliche Mittel und Strategien verfügen, bestimmte Aspekte einer solchen Bildung zu vermitteln.
Literatur:
Anselm, Sabine/Hoiß, Christian (Hrsg.) (2017). Crossmediales Erzählen vom Anthropozän. Literarische Spuren in einem neuen Zeitalter. München: oekom verlag.
Barthes, Roland (1988). Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen. In Barthes, Roland (Hrsg.), Das semiologische Abenteuer. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 102–143.
Crutzen, Paul J./Davis, Mike/Mastrandrea, Michael D./Schneider, Stephen H./Sloterdijk, Peter (2011). Das Raumschiff Erde hat keinen Notausgang. Berlin: Suhrkamp Verlag.
Dürbeck, Gabriele (2018). Narrative des Anthropozän – Systematisierung eines interdisziplinären Diskurses. Kulturwissenschaftliche Zeitschrift, 3 (1), S. 1–20. DOI: 10.2478/kwg-2018-0001.
Fludernik, Monika (1996). Towards a 'natural' narratology. London/New York: Routledge.
Fludernik, Monika (2008). Erzähltheorie. Eine Einführung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
Gould, Stephen J. (1992). Die Entdeckung der Tiefenzeit. Zeitpfeil oder Zeitzyklus in der Geschichte unserer Erde. München: dtv.
Hampe, Michael (2014). Die Lehren der Philosophie. Eine Kritik. Berlin: Suhrkamp.
Hoiß, Christian (2019). Deutschunterricht im Anthropozän: didaktische Konzepte einer Bildung für nachhaltige Entwicklung. Dissertation. LMU München: Fakultät für Sprach- und Literaturwissenschaften.
Koschorke, Albert (2012). Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie. Frankfurt am Main: Fischer.
Mahne, Nicole (2007). Transmediale Erzähltheorie. Eine Einführung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Martínez, Matías/Scheffel, Michael (2016). Einführung in die Erzähltheorie. München: C.H. Beck. DOI: 10.17104/9783406705243.
Möllers, Nina/Schwägerl, Christian/Trischler, Helmuth (Hrsg.) (2015). Willkommen im Anthropozän. Unsere Verantwortung für die Zukunft der Erde. München: Deutsches Museum.
Schalansky, Judith (2012). Der Hals der Giraffe. Bildungsroman. Berlin: Suhrkamp.
Schmid, Wolf (2008). Elemente der Narratologie. Berlin/New York: De Gruyter.
Schultz-Pernice, Florian (2017). An den Rändern des Erzählens. Posthumanismus in Literatur, Film und Computerspiel. In: Anselm, Sabine/Hoiß, Christian (Hrsg.), Crossmediales Erzählen im Anthropozän. Literarische Spuren in einem neuen Zeitalter. München: oekom verlag, S. 81–110.
Sloterdijk, Peter (2016). Das Anthropozän – Ein Prozeß-Zustand am Rande der Erd-Geschichte? In: Sloterdijk, Peter (Hrsg.), Was geschah im 20. Jahrhundert? Berlin: Suhrkamp, S. 7–43.
Titzmann, Michael (2013). Narrative Strukturen in semiotischen Äußerungen. In: Krah, Hans/Titzmann, Michael (Hrsg.), Medien und Kommunikation. Eine interdisziplinäre Einführung. Passau: Stutz, S. 115–141.
Wenders, Wim (2016). Shooting of Submergence. www.wim-wenders.com/event/shooting-of-submergence [Zugriff: 25.05.2020]
Wenders, Wim (2017). Grenzenlos [Spielfilm]. Deutschland, Frankreich, Spanien, USA.
Wolf, Werner (2002). Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik: Ein Beitrag zu einer intermedialen Erzähltheorie. In: Nünning Vera (Hrsg.), Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär. Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier, S. 23–104.
Beitrag aus Heft »2020/04 Medien und Narrative - Die Kraft des Erzählens in mediatisierten Welten«
Autor: Florian Schultz-Pernice
Beitrag als PDFEinzelansichtAndrea M. Kluxen: Populäre Geschichtskultur. Historische Narrative in Film und Fernsehen
Bilder beeinflussen unser Leben und prägen unser kollektives Gedächtnis nachhaltig. Auch das historische Wissen wird in breiten Bevölkerungskreisen seit dem ‚visual turn‘ durch Fotos, Dokumentationen und sogar fiktionale Filme gelenkt. Grund genug zu hinterfragen, inwieweit hierbei historische Narrative inszeniert und emotionalisiert, geschichtliche Wahrheiten der Dramaturgie unterworfen und Gewichtungen nach Unterhaltungswert getroffen werden und wie damit umzugehen ist.
Literatur:
Behrens, Ulrich (2009). Geschichte im Film – Film in der Geschichte. Kleiner Streifzug durch die Filmgeschichte. Norderstedt: Books on Demand GmbH.
Fischer, Thomas/Wirtz, Rainer (Hrsg.) (2008). Alles authentisch? Popularisierung der Geschichte im Fernsehen. Konstanz: UVK.
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Beitrag aus Heft »2020/04 Medien und Narrative - Die Kraft des Erzählens in mediatisierten Welten«
Autor: Andrea M. Kluxen
Beitrag als PDFEinzelansichtFlorian Krauß/Julian Kinghorst: Digitale Jugendnarrative in der deutschen Fernsehfiktion
In der veränderten Fernsehlandschaft in Deutschland sind vermehrt Serien auszumachen, die primär Jugendliche adressieren. Der Beitrag nimmt drei Beispiele genauer in den Blick: DRUCK, Wir sind jetzt und How to Sell Drugs Online (Fast). Wie erzählen sie von Jugend und damit verknüpft von Digitalität? Alle drei Produktionen greifen nicht nur narrationstypische Muster des Teen TV auf, sondern repräsentieren auch digitale Medienpraktiken und spiegeln so inhaltlich ihre Online-Distribution wider.
Literatur:
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Zarges, Torsten (2020). Serien als Erzähler von Diversität. „Schwarze sieht man als Drogendealer oder Prostituierte“. www.dwdl.de/magazin/76535/schwarze_sieht_man_als_drogendealer_oder_prostituierte/ [Zugriff: 29.04.2020]
Beitrag aus Heft »2020/04 Medien und Narrative - Die Kraft des Erzählens in mediatisierten Welten«
Autor: Florian Krauß, Julian Kinghorst
Beitrag als PDFEinzelansichtThomas Kupser/Jonas Lutz: Das filmische Planspiel als Methode digitalen Storytellings am Beispiel von PARLAMENSCH
Stell dir vor, du könntest die Gesellschaft verändern – was würdest du tun? Vor dieser Frage standen im Sommer 2019 neun jugendliche Filmgruppen aus Bayern. Ihre Antworten auf diese und weitere Fragen des demokratischen Zusammenlebens gaben sie in PARLAMENSCH, einem filmischen Planspiel mit hohem Partizipationsanteil und viel künstlerischer Freiheit. Im Folgenden sollen nun am Beispiel von Parlamensch das filmische Planspiel als Methode kollektiven, digitalen Storytellings modellhaft skizziert und die sich daraus ergebenden Möglichkeiten wie auch Problematiken diskutiert werden.
Das filmische Planspiel als Methode digitalen Storytellings am Beispiel von PARLAMENSCH
Thomas Kupser und Jonas Lutz
Der junge Bürgermeister ist sichtlich wenig angetan von Z-241-35, dem Neustrukturierungsprogramm der Bundesregierung eines fiktiven Deutschlands der näheren Zukunft. Er, der sich monatelang mit den Problemen der Gemeinde befasst und ein halbes Jahr Wahlkampf betrieben hat, soll nun durch Losverfahren die Macht erhalten Gesetze zu erlassen?! „Das ist doch keine Demokratie!“ schnaubt er, zerreißt wutentbrannt das Schreiben und macht kehrt. Während ihm ein Abgeordneter noch ratlos hierherblickt, sinken die letzten Fetzen der Legitimation langsam zu Boden.
Der Startschuss
Um den Grund für die Aufregung des Bürgermeisters besser nachvollziehen zu können, müssen wir zwei Schritte zurück nach München in das Frühjahr des Jahres 2019 machen. Dort trafen sich im Pixel – Raum für Medien, Kultur und Partizipation acht jugendliche Filmemacher*innen aus der Region, um angeleitet von Thomas Kupser (JFF – Institut für Medienpädagogik) über das Szenario eines filmischen Planspiels zu debattieren. Vorgaben gab es nur wenige, das Planspiel sollte eine Kooperation von Filmgruppen aus ganz Bayern darstellen und möglichst in Eigenregie realisiert werden. Geplantes Endresultat: eine dreiteilige Webserie. Der Weg dahin: noch ungewiss, Ausgang offen.
Das Ausgangszenario
PARLAMENSCH spielt in einem fiktiven, dem heutigen Deutschland sehr ähnlichen Staat in naher Zukunft. Kultur, Wirtschaft und Politik stagnieren. Die Gesellschaft ist unzufrieden und wird immer unruhiger. Etwas muss sich ändern. Die Regierung fasst einen Notfallplan: Zwanzig zufällig ausgewählten Bürger*innen, die unterschiedlicher kaum sein könnten, wird Souveränität verliehen: Sie können entweder ein Gesetz erlassen oder über ein Budget verfügen. Es gibt nur eine Vorgabe: Ihr Handeln muss die Gesellschaft voranbringen. Die Auserwählten werden von der Regierung mit einem Brief über ihre Aufgabe informiert.
Dieses Szenario wurde zusammen mit einer bunten Auswahl verschiedener Charaktere sowie einigen organisatorischen Informationen ausgeschrieben und im Sommer 2019 von neun Filmgruppen im Alter von 16 bis 24 Jahren aus ganz Bayern bearbeitet. Im Endergebnis entstand die erste Staffel einer dreiteiligen Webserie, die am 25. Oktober ihre feierliche Premiere im NS-Dokumentationszentrum in München feierte.
Das filmische Planspiel im Unterschied zum analogen
Die Bundeszentrale für politische Bildung bpb beschreibt Planspiele als „eine handlungsorientierte Lehr- und Lernmethode, die sich wie kaum eine andere zur Vermittlung politischer Zusammenhänge eignet“ und deren „Hintergrund ein Szenario [bildet], das fiktiv oder dem aktuellen politischen Geschehen entlehnt sein kann“ (bpb 2015). Innerhalb dieses Szenarios „übernehmen [die Teilnehmenden] die Rollen von Akteuren und spielen die durch das Szenario vorgegebenen Verhandlungs- und Entscheidungsprozesse nach“. Das Planspiel erstreckt sich hierbei auf vier Phasen: Vorbereitung, Einführung und Rollenvergabe, Spielphase und Nachbereitung.
Überführt man diese Vorgaben nun auf ein filmisches Planspiel, so ergeben sich in jeder Phase Änderungen, es verbleiben aber auch einige Gemeinsamkeiten. Beide sollen nun exemplarisch erörtert werden, der Schwerpunkt liegt hierbei auf der Phase, in welcher sich wohl die größten Unterschiede zeigen: der Spielphase.
Am Anfang eines jeden Planspiels steht die Konzeption. In dieser werden die Rahmenbedingungen erdacht und festgelegt. Hierunter fallen auszugsweise das Szenario, die Charaktere und natürlich auch die Zielgruppe. Während sich beim Szenario und den daraus resultierenden Charakteren nicht zwangsläufig Unterschiede ergeben müssen, so wird bei der Zielgruppe eines politischen und filmischen Planspiels, neben dem politischen Vorwissen, ein gewisses filmisches Vorwissen vorausgesetzt. Hierunter fällt sowohl technisches Wissen (sowie der Zugang zu Filmtechnik) als auch kinematographisches Wissen in Form von Inszenierung und Storytelling. Dieses muss entweder als vorhanden vorausgesetzt oder im Vorfeld vermittelt werden. Hieraus ergibt sich für die Teilnehmer*innen eine spürbar höhere Mitmachschwelle im Vergleich zum analogen, politischen Planspiel, welches zwar politisches, aber sonst kein spezielles Vorwissen außerhalb des Szenarios erfordert.
Hinter PARLAMENSCH stehen die Idee, jungen Menschen eine Filmförderung zukommen zu lassen sowie das Vorhaben, mit möglichst vielen jugendlichen Akteuren gemeinsam an einer filmischen Auseinandersetzung zum Thema Demokratie zu arbeiten. Hierbei gab es kein Drehbuch oder einen konkreten Rahmen, sondern lediglich ein grobes Konzept sowie das Ziel, eine Bühne für jugendliche Filmemacher*innen zu kreieren.
Im Bereich der Einführung und der Rollenvergabe lassen sich im Vergleich von analogem und filmischem Rollenspiel keine charakteristischen Unterschiede feststellen.
Die Einführung der Filmgruppen in das Projekt erfolgte durch eine Ausschreibung. Diese bestand aus zwei Dokumenten: Einer mehrseitigen Projektbeschreibung, sowie einem vermeintlich offiziellen Brief der Regierung, welcher auch im Storytelling von PARLAMENSCH ein entscheidendes, wiederkehrendes, erzählerisches Mittel darstellen sollte. Zusätzlich wurde mit jeder interessierten Filmgruppe ein persönliches Telefonat geführt, in welchem Fragen beantwortet und das Szenario erneut erklärt sowie auf wichtige organisatorische Aspekte hingewiesen wurde. Die Auswahl der Charaktere erfolgte durch die Filmgruppen selbst. Sie hatten freie Wahl aus einem Pool von etwa 20 vorgegebenen ‚Auserwählten‘, konnten aber auch eigene Vorschläge einreichen.
In der Spielphase zeigen sich die größten und bedeutsamsten Unterschiede im Vergleich zum analogen Planspiel. Während bei diesem das Spielen durch die Teilnehmenden selbst geschieht, in dem diese in Rollen schlüpfen und innerhalb des Szenarios agieren, übernehmen die Teilnehmenden im filmischen Planspiel eine gestaltende, erzählerische Funktion. Sie spielen nicht unmittelbar einen Charakter, sondern sie lassen diesen Charakter im Rahmen einer, durch das Szenario, die Charakterzeichnung sowie auch das Drehbuch bestimmten Rolle agieren. Charakter und Teilnehmer*in sind somit nicht mehr eine Person.
Im Vergleich zum analogen Planspiel wird dem Konstrukt des filmischen Planspiels durch die Filmgruppe eine weitere administrative Ebene hinzugefügt: Während normalerweise die Organisator*innen des Planspiels über die Teilnehmenden wachen, wachen beim filmischen Pendant die Organisator*innen über die Filmgruppe, die dann wiederrum über ihren Charakter ‚wacht‘.
Ebenfalls ein wichtiger Unterschied: Beim analogen Planspiel können die Organisator*innen in das Geschehen eingreifen und moderieren. Beim filmischen Planspiel ist dies bei realistischer Betrachtung nur vor dem Dreh möglich. Mit der ersten gefallenen Klappe übernehmen die Filmgruppen das Zepter des Handelns und übergeben dieses erst wieder mit dem fertigen Film. Somit wird der Filmgruppe auch eine große Verantwortung übertragen.
Wie groß diese Verantwortung ist, hängt auch vom Grad der Partizipation ab. PARLAMENSCH verstand sich als ein Projekt, das hauptsächlich durch die Jugendlichen gestaltet werden sollte. Die Ausgestaltung der Spielphase wurde somit in die Hand der Filmgruppen übergeben und nur durch wenige, rahmengebende Faktoren, wie beispielsweise Laufzeitbeschränkungen, limitiert.
Dies äußerte sich bereits bei der Entwicklung des Ausgangsszenarios und fand seine Fortsetzung in der Charakterwahl. Abgesehen von einer groben Bezeichnung, wie der eingangs erwähnte ‚junge Bürgermeister‘, der auch eine junge Bürgermeister*in hätte sein dürfen, wurden keine weiteren Vorgaben gemacht. Die Charakterentwicklung wurde vollständig in die Hand der Teilnehmenden übergeben.
Diese Gestaltungsfreiheit setzte sich auch beim Filmdreh fort: Genre, Drehbuch, Thema – all diese und weitere Faktoren wurden durch die Filmemacher*innen festgelegt. Diese Freiheiten äußerten sich auch in den filmischen Ergebnissen: Von Experimentalfilm bis hin zur Instagram-Story waren verschiedenste Erzähl- und Inszenierungsformen vertreten.
In der abschließenden Phase des Planspiels, in welcher Projektergebnisse präsentiert und reflektiert werden, lassen sich teilweise charakteristische Unterschiede festhalten. Diese zeigen sich vor allem in der Ergebnispräsentation, die im filmischen Planspiel den Moment beschreibt, in welcher die Filmteams erstmals ihre Werke und die der anderen Gruppen im filmischen Gesamtgefüge zu Gesicht bekommen. Außerdem werden durch den mehrschrittigen Schaffensprozess von der Idee zum Drehbuch zum Film im Vergleich zum analogen Planspiel weitere Reflexionsebenen hinzugefügt.
Die Ergebnisse von PARLAMENSCH wurden im Rahmen einer feierlichen Premiere im NS-Dokumentationszentrum in München vor Publikum präsentiert. Anwesend waren alle Filmgruppen, Organisator*innen, die Presse und externe Interessierte. Im Anschluss an die Premiere luden die Organisator*innen die Filmgruppen zur Diskussion der ersten und Planung der zweiten Staffel ein.
Digitales Storytelling am Beispiel von PARLAMENSCH
Aufgrund der hohen Gestaltungsfreiheit und dem Übertragen von inhaltlichen wie inszenatorischen Entscheidungen an die jugendlichen Teilnehmer*innen zeigt sich die erste Staffel von PARLAMENSCH sehr vielseitig. Dies äußert sich in der Wahl des Genres, der Art der filmischen Inszenierungen, in den Erzählformen und auch in den behandelten Themen. In diesem Kapitel sollen die unterschiedlichen Herangehensweisen der Filmgruppen beschrieben, der Einfluss von Lebenswelt und jugendlicher Popkultur analysiert und wiederkehrende Muster interpretiert werden.
Von Nerds und Agenturen
Die Filmgruppen konnten aus über 25 verschiedenen Charakteren auswählen oder, nach Absprache, ihre eigenen Auserwählten schaffen. In ihrer Auswahl waren sie dabei sehr frei und nur durch die der anderen Filmgruppen beeinflusst – jeden Charakter gab es nur einmal. Die Auswahl fiel auf folgende Charaktere: Rentner, Technikjünger, Kiffer, junger Bürgermeister, Obdachloser, Influencerin, 18-Jähriger, Modedesignerin und eine Agentur. Hierbei wurden sechs vorgegebe Charaktere und drei Wunschcharaktere (Influencerin, Modedesignerin und Agentur) ausgewählt. Ein Planspiel ermöglicht das Ausprobieren von Rollen und Kontexten, die dem jugendlichen Alltag sonst eher fern sind. Diese Möglichkeit wurde teilweise genutzt, tendenziell wählten die Filmgruppen jedoch eher jugendliche Charaktere oder versetzten altersunabhängige Charaktere wie beispielsweise den Kiffer oder den Technikjünger in ein jugendliches Alter. Ob dies dem Alter der verfügbaren Darsteller*innen geschuldet war oder ob es sich hierbei um eine bewusste Entscheidung handelte, kann an dieser Stelle nicht beantwortet werden. Festzuhalten bleibt jedoch, dass die Auserwählten tendenziell eher im Jugendalter waren.
Experimentierfreude und Tradition
Eine Betrachtung der ausgewählten Genres zeigt eine Zweiteilung in Experimentalfilm und Spielfilm: Drei Filmgruppen wählten eine experimentelle Herangehensweise und fünf Filmgruppen erzählten ihre Geschichte in eher klassischer Spielfilmmanier. Ein Filmteam bewegt sich zwischen beiden Polen und bedient sich beider Spielarten. Eine detaillierte Auseinandersetzung mit allen Episoden würde an dieser Stelle sicherlich zu weit führen, daher sollen nun exemplarisch drei Episoden skizziert werden, um einen Einblick in die unterschiedlichen Genres und die inszenatorische Herangehensweise zu geben.
Die Filmgruppe ‚Agentur‘ schuf einen Werbespot für eine Agentur, der die Auserwählten ihre Legitimationen und somit auch ihre Verantwortung übertragen konnten. Diese Episode ist sehr experimentell gestaltet. Vor düsterer Raum- und Soundkulisse wiederholt das Agentur-Duo beinahe mantraartig Aufforderungen an die Zuschauenden, ihnen ihre Legitimation zu überschreiben. Dabei wird viel mit Projektionen wie beispielsweise Flammen gearbeitet, unter denen sich ein Darsteller unter Schmerzen windet. Aufgelöst wird das düstere Szenario durch einen Stimmungswechsel: Die Farben werden heller, die Musik freundlicher und das Duo wendet sich direkt an die Zuschauenden: „Übertragen Sie die Last ihrer Verantwortung einfach an uns.“
In der Machart experimentell, in der Erzählstruktur eher klassisch-chronologisch, dreht sich die Episode der Gruppe ‚Influencerin‘ um eine Ebensolche. Wie für Influencer*innen üblich wendet sie sich über ein soziales Netzwerk (Instagram) an ihre Community. Diese soll ihr bei der Entscheidung behilflich sein und Vorschläge für Gesetzesänderungen posten. Die Episode wird in Form einer Instagram Story erzählt. In den ersten Schnipseln wird ihr Charakter vorgestellt und die Zuschauenden lernen sie und ihr Umfeld kennen. Im Anschluss erfährt und berichtet sie von ihrer Legitimation, bevor sie schlussendlich von dem Ergebnis der Abstimmung erzählt: Die User*innen haben sich für kostenlose Fernverbindungen mit der Bahn entschieden, der Reise der Influencerin nach Budapest steht folglich nichts mehr im Wege.
Sehr klassisch erzählt und inszeniert ist die Geschichte des ‚Wohnungslosen‘. Der Charakter wird eingeführt, die Zuschauenden begleiten ihn in seinem alltäglichen Kampf und am Ende der Episode erhält er den Brief mit der Legitimation, die Kamera fährt an ihn heran und er blickt direkt in diese. Fortsetzung folgt.
Die Betrachtung der Genres und der Herangehensweisen zeigt, dass auch bei völlig freier Auswahl die Mehrheit der Filmgruppen eine klassische Herangehensweise auswählte. Aber auch die freie künstlerische Entfaltung und das Ausprobieren, welches wichtiger Bestandteil des Konstrukts Planspiel ist, war durchaus reizvoll für die Teilnehmer*innen. Ein Blick auf die Hintergründe der Filmteams zeigt auch, dass der Experimentalfilm vor allem von eher erfahrenen Filmgruppen gewählt wurde.
Influencing, Schulalltag und Dystopie
So bunt wie die Auswahl der Charaktere, so bunt sind auch die Inhalte der Episoden. Vom wenig beachteten Jugendlichen, der vom schulischen Außenseiter zum Mädchenschwarm wird, bis hin zur Modedesignerin, die vor der Verlagerung der Macht hin zur Technologie warnt, ist vieles geboten. Anders als die Genres lassen sich die Themen jedoch weniger eindeutig kategorisieren.
Social Media, Schulalltag, Außenseiter*innendasein und Kiffen – dies sind jugendliche Themen und eine gewisse Tendenz dahingehend lässt sich in vier der neun Episoden erkennen. Neben diesen jugendlichen Themen finden sich aber auch einige erwachsene Themen wieder: Übertragung von Verantwortung, das Leben und die Sorgen eines Wohnungslosen, der perspektivlos von Tag zu Tag (über-)lebt und das Zweifeln an der Demokratie.
Über all dem schwebt noch lose das übergeordnete Thema Demokratie, welches vor allem durch das Szenario im Allgemeinen und durch die daraus folgenden Überlegungen Einfluss auf die Serie nimmt. Was, wenn ich plötzlich die Macht hätte ein Gesetz zu erlassen? Was würde ich tun? Was würde es mit mir machen? Und was macht das mit einer Gesellschaft? Diese Überlegungen werden nicht in jeder Folge laut ausgesprochen, spiegeln sich jedoch spürbar im Ergebnis wider.
Einfluss durch Jugend- und Popkultur
Auch die Jugend- und Popkultur hat sicherlich einen Einfluss auf so manche Episode gehabt. Offensichtlich wird dies vor allem bei der Betrachtung des 18-jährigen Schulaußenseiters: Sein bester Freund leidet unter dem Tourette-Syndrom, was sich im Film durch viele körperliche und akustische Ticks äußert. Etwa im Zeitraum der Entstehung des Films gewann der YouTube-Kanal GewitterimKopf, auf welchem ein jugendlicher YouTuber sehr offen und humorvoll mit ebendieser Behinderung umging, stark an Popularität.
Auch die schon erwähnte Episode mit der Influencerin, die ihre Follower*innen über Gesetze abstimmen lässt, ist ein sicherlich überspitztes, aber vom jugendlichen Alltag wohl gar nicht so weit entferntes Beispiel für die Einflussnahme jugendlicher Kommunikationskultur in Social Media.
Weniger eindeutig, aber denkbar, ist der Einfluss der Science-Fiction-Serie BlackMirror, die sich bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen recht großer Beliebtheit erfreut. Ebenfalls episodisch aufgebaut, erzählt sie dystopische Geschichten des Konflikts zwischen Mensch und Technik. Dieser Konflikt spiegelt sich auch in PARLAMENSCH in der Episode der Modedesignerin wieder, in welcher explizit davor gewarnt wird, dass „mit der Verlagerung der Macht in Richtung der Technologie der Mensch zu Werkzeug [wird]“, was früher die Rolle der Maschinen war.
Ein Brief als konfliktinitiierendes Moment
Ebenfalls fester Bestandteil des Storytellings von PARLAMENSCH ist ein immer wiederkehrendes, charakteristisches Stilmittel der Serie: der Brief. Jeder Charakter in PARLAMENSCH wird von der Regierung mit einem Brief über seine Legitimation benachrichtigt. Manchmal liest die*der Auserwählte den Brief laut vor, mal wird er nur am Rande gezeigt und in mancher Episode wird er auch als gelesen vorausgesetzt. Hierbei handelt es sich um eine der wenigen organisatorischen Vorgaben der inhaltlichen Gestaltung der Episoden: Der Brief als konfliktinitiierendes Moment sollte fester Bestandteil der Episode sein. Hintergedanke hierbei war die dadurch besser zu gewährleistende Verknüpfbarkeit der einzelnen Episoden zu einer Serie – über den im Folgenden beschriebenen Rahmen herrschte im Vorfeld des Planspiels nämlich noch Ungewissheit.
Das rahmende Element
Um die Analyse des Storytellings von PARLAMENSCH abzuschließen, ein Blick auf das animierte Intro von PARLAMENSCH: Hierbei handelt es sich um eine Kamerafahrt durch den Reichstag. In dieser etwa 30-sekündigen Sequenz tagt der Bundestag, repräsentiert durch gesichtslose, wage angedeutete Abgeordnete. Zu Beginn jeder Episode richtet sich die Kamera auf einen Redner am Pult, in dessen Gesichtskonturen nun das Bild der*des nächsten Auserwählten erscheint. Konzipiert und animiert wurde diese aufwendige Sequenz durch ein ambitioniertes, aufstrebendes VFX Studio aus München.
Übertragung der Ergebnisse von PARLAMENSCHauf das Modell
An dieser Stelle sollen die Ergebnisse und Erkenntnisse von Parlamensch auf das Modell des filmischen, politischen Planspiels im Allgemeinen übertragen werden. Da es sich beim filmischen Pendant um eine neuartige und weniger etablierte Form des Planspiels handelt, muss die Übertragbarkeit der Erkenntnisse natürlich etwas eingeschränkt werden. Unter Berücksichtigung dieser Einschränkung lassen sich folgende Thesen formulieren:
1. Notwendigkeit technischen Vorwissens erhöht die Mitmachschwelle
Während politische Planspiele grundsätzlich ein Vorwissen der Teilnehmer*innen voraussetzen, so wird beim filmischen Planspiel zusätzlich noch technisches und cinematographisches Vorwissen benötigt. Diese Schwelle kann durch Vermittlung im Vorfeld oder durch aktive Begleitung der Filmgruppen durch medienpädagogische Fachkräfte herabgesetzt werden. Zudem kann der Fokus des filmischen Planspiels auch durchaus mehr auf den kreativen Schaffensprozess, als auf das reine Nettoergebnis gelenkt werden.
2. Filmische Planspiele sollten durch medienpädagogische Fachkräfte betreut werden
Auch auf Seite der Organisation ist technisches und filmisches Vorwissen wichtig. Dieses hilft dabei im Vorfeld Machbarkeiten abzuschätzen, ermöglicht die Beratung und tatkräftige Unterstützung der Filmgruppen und befähigt zur Steuerung und Koordinierung, insbesondere dann, wenn Unvorhergesehenes eintritt.
3. Ein hoher Grad an jugendlicher Partizipation ist möglich
Setzt man beide vorangegangenen Punkte als gegeben voraus, dann ist es durchaus möglich, Jugendliche bereits im Vorfeld des Planspiels miteinzubeziehen und ihre Wünsche und Ideen zu berücksichtigen. Je involvierter Jugendliche auch in grundlegende Fragen und Prozesse sind, desto motivierter werden sie bei der Ausführung sein.
4. Filmische Planspiele fördern die Reflexion
Bis aus einer Idee ein fertiger Film entstanden ist, mussten mit Charakterentwicklung, Drehbuch, Filmdreh und -schnitt mehrere, gedankliche wie auch praktische Hürden genommen werden. Dies führt zu einer intensiven Auseinandersetzung mit der Materie: Wer ist mein Charakter? Wie verhält er sich im Film? Wie setze ich filmische Mittel ein, um de Zuschauenden genau dieses Bild meines Charakters zu vermitteln? Wie reagieren Zuschauende auf das Endergebnis? Das filmische Planspiel fügt dem Konstrukt durch seine Komplexität weitere Reflexionsebenen hinzu und fördert eine tiefergehende thematische Auseinandersetzung.
5. Jugendliche probieren sich auch filmisch aus
Ein wichtiger Aspekt des Planspiels ist es, dass Jugendliche neuartige Rollen einnehmen und sich ausprobieren können. Im filmischen Planspiel nehmen die Teilnehmer*innen sogar zwei Rollen ein: Die des filmischen Ichs und die der*des gestaltenden Filmemacher*in*s. Diese Freiheiten spiegeln sich auch in den Ergebnissen wider, wie die experimentelle Herangehensweise einiger Episoden eindrucksvoll zeigt.
6. Erzählungen werden durch jugendlichen Alltag und Popkultur beeinflusst
Obwohl das filmische Planspiel sich im Vergleich zum jugendlichen Spielfilm in einem thematisch strikteren und erwachseneren Rahmen bewegt, so fließen dennoch viele Elemente aus dem Alltag und der Jugendkultur in die Erzählungen ein.
Ausblick in die Zukunft von PARLAMENSCH
PARLAMENSCH ist längst nicht mehr nur eine Webserie, sondern entwickelt sich auch außerhalb des filmischen roten Fadens weiter: So haben bereits mehrere Autor*innen in der fiktiven, gleichnamigen Zeitung Artikel und Kommentare zum aktuellen Geschehen veröffentlicht. Eine anonymisierte Auserwählte gibt im Interview intime Einblicke in ihr Leben nach dem Tag X, während in einem anderen Artikel munter darüber spekuliert wird, dass es bei der Verteilung der Legitimationen so gar nicht mit dem Zufall zugegangen sein kann. Nachzulesen sind diese und weitere Artikel auf der Website von PARLAMENSCH.
Auch abseits der Fiktion expandiert das Projekt. So wird derzeit an einem niedrigschwelligen Konzept für einen eintägigen Schulworkshop getüftelt, und auch im Hochschulkontext fand PARLAMENSCH bereits anklang: Auf Grundlage der Web-Serie entstand durch eine Studierendengruppe der Katholischen Stiftungshochschule München eine interaktive Ausstellung im Kulturraum Pixel im Münchner Gasteig, die die Themen ‚Politische Entscheidungsfindung‘ und ‚Du hast die Macht‘ behandelte.
Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Artikels befindet sich die zweite Staffel von PARLAMENSCH in der Produktion, muss jedoch aufgrund der aktuellen Covid-19-Situation pausieren. Staffel II knüpft an die Geschehnisse von Staffel I an: Erste Auserwählte haben ihre Entscheidungen getroffen, bei anderen steht diese kurz bevor. Die Bevölkerung wird immer unruhiger und die Skepsis gegenüber dem Programm wächst. Die Presse hat einige Namen veröffentlicht und der Druck auf die Auserwählten steigt. Es bleibt weiterhin spannend, der Ausgang ist erneut ungewiss. Genauso ungewiss wie die Zukunft des jungen Bürgermeisters. Dieser wird nämlich im Parkhaus von düsteren, maskierten Gestalten entführt und in eine karge Waldhütte verschleppt. Während der Bürgermeister durch den Sack über seinem Kopf noch im Dunkeln tappt, bringt seine Entführerin wenigstens etwas Licht in die Sache. Sie müsse sich mal mit ihm über ein paar Gesetzvorschläge unterhalten…
Literatur
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PARLAMENSCH ist ein Projekt des JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis in Kooperation mit dem Bayerischen Jugendring. Finanziert wird PARLAMENSCH durch die Bayerische Sparkassenstiftung und das Kulturreferat der Landeshauptstadt München.
DE, 2019
Laufzeit Staffel I: 37:42
Beitrag aus Heft »2020/04 Medien und Narrative - Die Kraft des Erzählens in mediatisierten Welten«
Autor: Thomas Kupser, Jonas Lutz
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spektrum
Daniel Hajok/Ricardo Leonhardt: Rap als Sprachrohr politischer Propaganda?
Spätestens seit seinem Durchbruch in den Mainstream in den 1990ern und 2000ern ist Hip-Hop die bedeutendste musikbezogene Jugendkultur und die Rapmusik seine auch kommerziell tragende Säule. Während die in den Charts präsenten Rapper*innen eher selten konkret politisch Stellung beziehen, ist die Hip-Hop-Kultur als Ganzes alles andere als unpolitisch. Sie war lange Zeit eher dem linken Spektrum zuzuordnen, ist nun aber vermehrt auch am rechten Rand der Gesellschaft anzutreffen.
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FSM (Freiwillige Selbstkontrolle Multimedia-Diensteanbieter) (2011). Prüfgrundsätze der FSM. Mönchengladbach: Forum Verlag Godesberg.
Güler Saied, Ayla (2017). Affirmative Inszenierung von Delinquenz als Erfolgsmodell? In: Seeliger, Martin/Dietrich, Marc (Hrsg.), Deutscher Gangsta-Rap II. Popkultur als Kampf um Anerkennung und Integration. Cultural Studies, Band 50. Bielefeld:transcript, S. 221–240.
Hajok, Daniel (2018). Detailanalyse der BPjM-Indizierungspraxis zu Medien aus dem Bereich „Battle- und Gangster-Rap“. Unveröffentlichter Ergebnisbericht für die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPjM). Berlin/Bonn.
Hajok, Daniel/Leonhardt, Ricardo (2020). Extremismus im Hip-Hop? Eine vergleichende Analyse von linken und rechten Raptexten. In: JMS Jugend Medien Schutz-Report, 43 (1), S. 7–8.
Hajok, Daniel/Salzmann, Thomas (2018). Gewalt, Kriminalität und Diskriminierung im Battle- und Gangsta-Rap. Was davon ist jugendgefährdend und was darf Kunst dennoch? In: BPJM-Aktuell, 26 (3), S. 4–8.
Hajok, Daniel/Wegmann, Konstanze (2016). Feind- und Heldenbilder rechtsextremistischer Musik. In: JMS Jugend Medien Schutz-Report, 39 (5), S. 2–6.
Harrington, Rebecca (2016). Here‘s what Trump means when he says ‚drain the swamp‘ — even though it‘s not an accurate metaphor. www.businessinsider.de/whatdoes-drain-the-swamp-mean-was-dc-built-on-a-swamp-2016-11?r=US&IR=T [Zugriff: 29.006.2020]
Heyer, Robert/Wachs, Sebastian/Palentien, Christian (2013). Jugend, Musik und Sozialisation. Eine Einführung in die Thematik. In: Heyer, Robert/Wachs, Sebastian/Palentien, Christian (Hrsg.), Handbuch Jugend. Musik. Sozialisation. Wiesbaden: Springer VS, S. 3–18.
Leonhardt, Ricardo (2019). Feindbilder im linken und rechten Rap: Eine vergleichende Inhaltsanalyse. Masterarbeit. Universität Erfurt.
Madest, Ulrike (2013). Linksextremistische Musik. In: Argumente und Materialien zum Zeitgeschehen, Band 95. München: Hanns-Seidel-Stiftung, S. 35–42.
Beitrag aus Heft »2020/04 Medien und Narrative - Die Kraft des Erzählens in mediatisierten Welten«
Autor: Daniel Hajok, Ricardo Leonhardt
Beitrag als PDFEinzelansichtTina Hertzer/Christiane Rohde/Saskia Weisser: Wie sehen und leben Erst- bis Sechstklässler*innen Schule? Eine repräsentative Befragung von KiKA
Wie gerne gehen Kinder in die Schule? Wie steht es tatsächlich um die digitale Ausstattung im Schulalltag und den Wunsch der Kinder nach Partizipation im schulischen Kontext? Diese Fragen werden bedingt durch die aktuellen Schulschließungen seit Mitte März diesen Jahres mit ganz anderer Vehemenz geführt, nicht zuletzt in Bezug auf die Themen Digitalisierung und ‚Schule als Raum sozialer Begegnungen‘. Für eine ganzheitliche Evaluation ist die Sicht der Kinder selbst auf diese Themen unerlässlich. Dieser Perspektive soll der folgende Artikel eine Öffentlichkeit geben.
Literatur:
Bertelsmann Stiftung (2019). Children's Worlds+. Eine Studie zu Bedarfen von Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Gütersloh. www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/BSt/Publikationen/GrauePublikationen/Studie_WB_Children_s_Worlds_2019.pdf [Zugriff: 22.07.2019]
Best, Joachim (2019). Erfolgsgeheimnis der Gebrüder-Grimm-Schule. Schulleiter Wagner: Darum haben wir den Deutschen Schulpreis erhalten. In: Westfälischer Anzeiger (WA) 06.06.2019, www.wa.de/hamm/bockum-hoevel-ort370528/deutscher-schulpreis-gebrueder-grimm-schule-hamm-schulleiter-frank-wagner-erklaert-geheimnis-12356387.html [Zugriff: 21.01.2020]
iconkids & youth international research GmbH (2019). Trend Tracking Kids® 2019. Die High Interest Themen der Kids. München: iconkids & youth international research GmbH.
Krommer, Axel (2019). Paradigmen und palliative Didaktik. Oder: Wie Medien Wissen und Lernen prägen. https://axelkrommer.com/2019/04/12/paradigmen-und-palliative-didaktik-oder-wie-medien-wissen-und-lernen-praegen [Zugriff: 21.01.2020]
LBS/ProKIDS (2016). LBS Kinderbarometer 2016. So sehen wir das! Stimmungen, Meinungen, Trends von Kindern und Jugendlichen. www.lbs.de/media/unternehmen/west_6/kibaro/LBS_Kinderbarometer_D_2016.pdf [Zugriff: 22.01.2020]
LBS/ProKIDS (2018). LBS Kinderbarometer Deutschland 2018. Stimmungen, Trends und Meinungen von Kindern aus Deutschland. www.lbs.de/media/unternehmen/west_6/kibaro/LBS-Kinderbarometer_Deutschland_2018.pdf [Zugriff: 20.12.2018]
Robert Bosch Stiftung (2019). Meinungen zu aktuellen Entwicklungen an Schulen in Deutschland Ergebnisse einer Befragung von Lehrerinnen und Lehrern an allgemeinbildenden Schulen. Berlin. www.bosch-stiftung.de/sites/default/files/documents/2019-03/Forsa_RBSG_Download.pdf [Zugriff: 05.06.2019]
Spitzer, Manfred (2014). Digitale Demenz: Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen. München: Droemer.
Werdes, Alexandra (2019). Deutscher Schulpreis. Hier geschehen Wunder. www.zeit.de/2019/24/deutscher-schulpreis-gebrueder-grimm-schule-hamm [Zugriff: 21.01.2020]
World Vision Deutschland (2018). Kinder in Deutschland 2018. 4. World Vision Kinderstudie. Weinheim/Basel: Beltz.
Beitrag aus Heft »2020/04 Medien und Narrative - Die Kraft des Erzählens in mediatisierten Welten«
Autor: Tina Hertzer, Christiana Rohde, Saskia Weisser
Beitrag als PDFEinzelansichtNadja Wolf: Freiheit und Verantwortung bei der Nachrichtenauswahl jugendlicher Mediennutzer*innen
Jugendliche möchten sich informieren. Sie wählen dafür kaum die etablierten Formen wie Nachrichtensendungen oder Zeitungen. Doch die eigeninitiierte Suche und Auswahl von Nachrichten aus dem Internet kann nachteilig sein. Es können Wissenslücken entstehen, die von den Konsument*innen nicht gewollt sind und nicht erkannt werden. Um diese Kluft aufzudecken, braucht es von Seiten der Pädagog*innen mehr als Aufklärung über Algorithmen und die Psychologie der Nachrichtenauswahl. Denn hinter dem Glauben daran, sich selbst informieren zu können, steht eine pädagogische Tradition, die jungen Menschen Werte wie Autonomie, Freiheit und Selbstbestimmung gelehrt hat. Bei der Nachrichtenauswahl geht es nun darum, einen Teil dieser Verantwortung bewusst und zielorientiert wieder abzugeben.
Literatur:
Hohlfeld, Ralf (2017). Die Wahrnehmung von Fake News und der Einfluss von Falschmeldungen auf die Meinungsbildung im Zuge der Bundestagwahl 2017. Passau: Universität Passau. www.phil.uni-passau.de/fileadmin/dokumente/fakultaeten/phil/lehrstuehle/hohlfeld/Aktuelles/Wahrnehmung_von_Fake_News_und_Einfluss_auf_die_Meinungsbild.pdf [Zugriff: 29.06.2020]
Hölig, Sascha/Hasebrink, Uwe (2018). Reuters Institute Digital News Report 2018. Ergebnisse für Deutschland, Arbeitspapiere des Hans-Bredow-Instituts Nr. 44. Hamburg: Verlag Hans-Bredow-Institut. www.hans-bredowinstitut.de/uploads/media/Publikationen/cms/media/t611qnd_44RDNR18_Deutschland.pdf [Zugriff: 29.06.2019]
Hugger, Kai-Uwe (2008). Uses-and-Gratification-Approach und Nutzenansatz. In: Sander, Uwe/von Gross, Friederike/Hugger, Kai-Uwe (Hrsg.), Handbuch Medienpädagogik. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, S 173–178.
Hurrelmann, Klaus/Quenzel, Gudrun/Schneekloth, Ulrich/Leven, Ingo/Albert, Mathias/Utzmann, Hilde/Wolfert, Sabine (2019). Zusammenfassung. In: Hurrelmann, Klaus/Quenzel, Gudrun/Schneekloth, Ulrich/Leven, Ingo/Albert, Mathias/Utzmann, Hilde/Wolfert, Sabine (Hrsg.), Jugend 2019 – 18. Shell-Jugendstudie. Eine Generation meldet sich zu Wort. Weinheim: Beltz Verlagsgruppe.
Lischka, Konrad/Stöcker, Christian (2017). Digitale Öffentlichkeit – Wie algorithmische Prozesse den gesellschaftlichen Diskurs beeinflussen – Arbeitspapier. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung. www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/BSt/Publikationen/GrauePublikationen/Digitale_Oeffentlichkeit_final.pdf [Zugriff: 29.06.2019]
Luhmann, Niklas (1996). Die Realität der Massenmedien. Opladen: Westdeutscher Verlag. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (mpfs) (2018). Jugend, Information Medien (JIM)-Studie 2018. Stuttgart: mpfs.
Moser, Heinz (2019). Einführung Medienpädagogik. Wiesbaden: Springer.
Trepte, Sabine/Reinecke, Leonard (2013). Medienpsychologie. Stuttgart: Kohlhammer.
Verschwele Lina (2019). „Tagesschau“ hält an TikTok fest. www.br.de/nachrichten/netzwelt/tagesschau-haelt-antiktok-fest,RkccQti [Zugriff: 29.06.2020]
Vodafone Stiftung Deutschland (Hrsg.) (2019). Vodafone-Studie: Alles auf dem Schirm? – Wie sich junge Menschen in Deutschland zu politischen Themen informieren. Düsseldorf: Vodafone Stiftung Deutschland gGmbH. www.vodafone-stiftung.de/wp-content/uploads/2019/11/Vodafone-Stiftung-Deutschland_Studie_Politisches_Informationsverhalten.pdf [Zugriff: 29.06.2020]
Beitrag aus Heft »2020/04 Medien und Narrative - Die Kraft des Erzählens in mediatisierten Welten«
Autor: Nadja Wolf
Beitrag als PDFEinzelansichtMelanie Dreher/Wolf Borchers: storys, apps und du. Lese- und Medienkompetenz durch digitale und partizipative Formate
Die Leseclubs und media.labs der Stiftung Lesen erreichen deutschlandweit mit vielfältigen regelmäßigen Angeboten zur Leseförderung bereits mehr als 11.000 Kinder und Jugendliche. Die Projekte werden im Rahmen des Förderprogramms Kultur macht stark. Bündnisse für Bildung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung gemeinsam mit je zwei lokalen Bündnispartnern umgesetzt und zielen darauf ab, mit einer großen Bandbreite von Methoden und Medien und dem Einsatz ehrenamtlicher Betreuer*innen regelmäßig motivierende Aktionsangebote für die Zielgruppen durchzuführen. Der folgende Artikel soll einen Einblick geben.
Beitrag aus Heft »2020/04 Medien und Narrative - Die Kraft des Erzählens in mediatisierten Welten«
Autor: Melanie Dreher, Wolf Borchers
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medienreport
Jounas Al Maana: Filmreihe über Alltagsrassismus bei Jugendlichen
Medienprojekt Wuppertal (2019). Alltagsrassismus. Filmreihe als DVD, 32,00 €, zum Streamen, 9,00 € oder als Download, 25,00 €.
Woher kommst du? Für Menschen mit Migrationsbiografie ist die Frage jedes Mal ein Drahtseilakt. Geht es jetzt darum, in welcher Stadt ich aufgewachsen bin oder ob ich gerade aus der Schule komme? Denn oft ist die Frage verbunden mit einem ‚ursprünglich‘. Es geht vielmehr um die Herkunft der Eltern und bezieht sich auf ein nicht-weißes Erscheinungsbild. Kinder und Jugendliche, die äufig mit dieser Form des ‚Andersmachens‘ und dem entsprechenden Antwortdruck konfrontiert sind, entwickeln im Laufe der Zeit eine individuelle Methode, mit dieser Frage umzugehen. Dabei werden essentielle Fragen der eigenen Identität und Zugehörigkeit aufgeworfen, die oft zu inneren und äußeren Konflikten führen. In der Filmreihe ‚Alltagsrassismus‘ werden genau diese Fragen nach Identität und rassistischen Erfahrungen von nichtweißen Jugendlichen in einem Kurzfilm sowie zwei Dokumentarfilmen behandelt.
In den beiden Dokumentarfilmen, auf denen der Fokus hier liegen soll, werden Jugendliche interviewt und zu ihren Erfahrungen und Perspektiven befragt. Im Folgenden wird auf einige zentrale Aspekte aus den Interviews eingegangen.
„Wir sind so gut wie Deutsche“
In der Interviewreihe ‚Bruder, Bruder, Bruder‘ wird das Thema der Identität und Zugehörigkeit aus den unterschiedlichen Perspektiven der Jugendlichen diskutiert. Es zeigt sich die Krise, in der viele junge Menschen mit Migrationsgeschichte stecken: „Ich habe immer versucht, das zu machen, was sie von mir erwartet haben.“ Sie leben in zwei Realitäten Filmreihe über Alltagsrassismus bei Jugendlichen und entwickeln unterschiedliche Handlungsmuster – je nachdem, in welchen Kontexten sie sich befinden. Diese Kontextabhängigkeit wird auch an weiteren Stellen deutlich: „In der Schule bin ich
mehr so Deutscher. Zuhause bin ich der, der ich wirklich bin“.Die Suche nach dem wahren ‚Ich‘ der Jugendlichen wird durch die unterschiedlichen Kontexte und den damit einhergehenden Erwartungsdruck erschwert. Von diesen individuellen und kontextabhängigen Verhaltensmustern geht auch die übergeordnete Frage nach Zugehörigkeit zu Deutschland einher. Den Konflikt vieler Deutscher mit Migrationsbiografie beschreibt folgende Aussage: „Hier werden wir nicht anerkannt, aber wenn wir im Ausland sind, sind wir da die Deutschen“ Dieses fehlende Zugehörigkeitsgefühl und die Suche nach einem Platz in der Gesellschaft begleitet viele Jugendliche in ihrer Identitätsfindung. In Deutschland wird die vermeintliche Andersartigkeit durch ihre Migrationsbiografie hervorgehoben und durch die Frage, wo man denn ‚ursprünglich herkomme‘ bis hin zu rassistischen Anfeindungen tagtäglich vor Augen geführt. In den Ursprungsländern ihrer Eltern oder Großeltern ist eine Zugehörigkeit auch nur bedingt möglich, da man schließlich in Deutschland sozialisiert wurde.
„Vielleicht versuchen die einfach, die besseren Ausländer zu sein“
Ein interessanter Aspekt der Filmreihe ist auch die Frage nach ‚den Deutschen‘, womit wohl weiße deutsche Menschen ohne Migrationsbiografie gemeint sind. Die Jugendlichen erzählen, dass es in der Jugendkultur mittlerweile ‚cool‘ sei, ‚Ausländer‘ zu sein. Mit lachendem Auge blicken die Jugendlichen dabei auf ihre Mitschüler*innen, die nun arabische Wörter und Redewendungen
in ihre Sprache aufnehmen. Diese Entwicklung zeigt einmal mehr, wie Diversität bei jungen
Menschen immer mehr zur Normalität wird.Stopp, hör mal auf damit!
In der Interviewreihe ‚Ich geh dazwischen‘ berichten Jugendliche, dass rassistische Stereotype innerhalb von Freundschaften weit verbreitet sind. Viele bewerten dies als harmlos, solange eine sehr enge Beziehung mit den Personen besteht. Gleichzeitig setzen die Jugendlichen auch klare Grenzen: „In manchen Situationen darf man sowas einfach nicht, weil man nicht weiß, ob man die Person verletzt“, so eine Schülerin. Die Jugendlichen wurden auch nach eigenen rassistischen Erfahrungen befragt und berichten aus ihrem Alltag in der Schule sowie im öffentlichen Raum von starken rassistisch-verbalen Angriffen. Dabei werden Erfahrungen von anti-schwarzem Rassismus, anti-kurdischem Rassismus und anti-muslimischen Rassismus aus der Perspektive der betroffenen Jugendlichen geteilt. Auch, wenn die Jugendlichen von grenzüberschreitenden Erfahrungen in ihren Peergroups berichten, liegt der Fokus doch auch auf Erfahrungen mit ‚älteren‘ Menschen. „Wir sind alle miteinander aufgewachsen […] Die meisten, die dann irgendetwas gesagt haben waren die Eltern, die gesagt haben: Nein, mein Kind kann nicht mit irgendwelchen Ausländern zusammen sitzen.“ Das Aufwachsen in diversen Milieus führt laut den Jugendlichen zu mehr Offenheit und der Normalisierung von vermeintlichen Unterschieden. Die Schüler*innen appellieren daran, in (alltags-)rassistischen Situationen sowohl mit Gleichaltrigen als auch mit Erwachsenen Zivilcourage zu beweisen und den Betroffenen zur Seite zu stehen.
Die multiplen Perspektiven der Jugendlichen und die Breite der angesprochenen Themen von Identität und Zugehörigkeit über Rassismus bis hin zu Handlungsmöglichkeiten bieten eine Vielzahl an Gelegenheiten, mit Jugendlichen in den Austausch zu kommen. Was der Reihe fehlt, ist begleitendes Material, welches konkret Alltagsrassismus thematisiert. Allein die oben zitierten Aussagen der Jugendlichen bieten genug Potential, um tiefergehende Diskussionen über Rassismus zu führen. Ohne Anleitung und Einbettung in größere Zusammenhänge bleibt diese Diskussion jedoch nur schwer einzugrenzen. Über den Titel ‚Alltagsrassismus‘ hinaus werden letztlich viel mehr Themen besprochen und grundlegende Fragen der Zugehörigkeit und Identität behandelt. Das selbst ausgeschriebene Ziel der Filmreihe – Diskussionen anzuregen – kann in der Praxis auf jeden Fall gelingen.
Das Filmprojekt wurde durchgeführt vom Fachbereich Jugend & Freizeit Wuppertal, Kinder- und Jugendschutz, und dem Haus der Jugend Barmen (Close Up-Theater) mit dem Medienprojekt Wuppertal, gefördert durch das Landesprogramm NRWeltoffen.
Beitrag aus Heft »2020/04 Medien und Narrative - Die Kraft des Erzählens in mediatisierten Welten«
Autor: Jounas Al Maana
Beitrag als PDFEinzelansichtDana Neuleitner: Widerstand in dunklen Zeiten
HandyGames (2020). Through the Darkest of Times. App für Android und iOS. USK 12, 7,99 €.
In einem dunklen Raum sitzen ein paar Menschen um einen Tisch herum. Vor ihnen liegen ein Stadtplan und ein Stapel Zeitungen. Die Stimmung ist gedrückt, denn Deutschland steht Kopf. Die Nationalsozialisten sind an die Macht gekommen und beginnen damit, ihre Ideologien unter das Volk zu bringen. Die Aufgabe der Spieler*innen bei ‚Through the Darkest of Times‘ ist es nun, Mitglieder für eine Widerstandsgruppe zu rekrutieren und verschiedene Missionen gegen die Nazis durchzuführen.
Im Gegensatz zu anderen Spielen geht es in diesem nicht darum, heldenmäßig das Regime zu stürzen, im Krieg möglichst viele Gegner*innen zu töten oder den Zweiten Weltkrieg zu verhindern: Die Spieler*innen nehmen die Rollen normaler Zivilist*innen ein, die ab Hitlers Ernennung zum Reichskanzler 1933 versuchen, von einem Berliner Hinterzimmer aus mit einfachen Mitteln Widerstand zu leisten. In vier Kapiteln werden Machtergreifung, Höhepunkt der Macht, Krieg und Zusammenbruch des Regimes thematisiert. Es müssen Entscheidungen getroffen, Unterstützer*innen gesucht und die Moral der Gruppe gestärkt werden. Am Rundenanfang werden stets drei kurze fiktive Zeitungsartikel eingeblendet, die einzelne zeitliche Ereignisse überblicksartig anschneiden. Hier erhalten die Spieler*innen beispielsweise Details aus den Nachbarländern, die seit dem Geschichtsunterricht möglicherweise nicht mehr allzu präsent sind oder dort nicht behandelt wurden.
Welche Aufgaben im jeweiligen Spielabschnitt zur Verfügung stehen, ist auf dem Berliner Stadtplan zu erkennen. Je nach ausgeführter Handlung erscheinen weitere Optionen, die erfüllt werden können. Das Spektrum reicht von elementaren Tätigkeiten wie Spendensammeln oder Kontakte knüpfen bis hin zu Befreiungsaktionen, Informationsübermittlung ans Ausland, Aufdeckung einer Wunderwaffe oder Angriffen auf SS-Truppen. Das Gefahrenlevel und dadurch mögliche Auswirkungen auf die Gruppe variieren – es gilt, die Fähigkeiten der einzelnen Mitglieder richtig einzusetzen und mit ihren Schwächen und Charaktereigenschaften gut umzugehen. Viele Tätigkeiten bauen aufeinander auf, oft ist aber nicht sofort erkennbar, wo die Vorbereitungen stattfinden müssen, da etwa deren Symbole nicht immer eindeutig zuzuordnen sind.
Das Planen der Aktionen selbst wird immer wieder von Dialogen und Story-Episoden unterbrochen, in denen die Geschehnisse der damaligen Zeit und die Schicksale der einzelnen Figuren besonders in den Fokus rücken. Die zeitlichen Phasen des Nationalsozialismus werden in diesen Sequenzen gut sichtbar und nachvollziehbar. Hier warten teils schwere Entscheidungen auf die Spieler*innen. So kann es beispielsweise zwischen den Gruppenmitgliedern zu Unstimmigkeiten und gegenseitigen Verdächtigungen kommen. Die Spieler*innen stehen etwa vor der Wahl, einen vermeintlichen Spitzel rauszuwerfen, einem verarmten Mitglied die spärlichen Ersparnisse zur Verfügung zu stellen oder einem alten wehrlosen Mann gegen die Braunhemden zu helfen oder sich lieber rauszuhalten. Wie würden die Spieler*innen wohl im echten Leben handeln? Das Spiel regt zum Nachdenken an, ob man diese digitale Zivilcourage auch im realen Alltag beweisen würde. In diesen Zwischensequenzen werden die Alltagsprobleme oft überlagert von düsteren Einblicken in die Taten der Nationalsozialisten. In den comicartigen Einblendungen, die von teils sehr langen Texten begleitet werden, finden beispielsweise die Köpenicker Blutwoche, die Eröffnung der Olympischen Spiele 1936 und ein Bericht zu den Taten des Auschwitz-Lagerarzts Mengele statt. Die dunkel gehaltenen Zeichnungen unterstreichen den Grundton des Spiels. Die Lage erscheint oft aussichtslos, nicht immer kann man helfen. Doch obwohl man eigentlich weiß, dass die kleine Widerstandsgruppe nicht viel an den großen Geschehnissen ändern kann, möchte man dennoch so viel wie möglich bewirken. Jede noch so kleine Entscheidung kann dabei enorme Auswirkungen auf den Spielverlauf und die möglichen Missionen nehmen. Taktisches Geschick und Fingerspitzengefühl sind gefragt, sonst gerät man schnell selbst in Verdacht und gefährdet das Team.
Hin und wieder schleichen sich kleine Logikfehler ein. Zum Beispiel verliert eine Unterstützerin zunächst ihr ungeborenes Kind, bekommt es dann aber doch und manche weiblichen Charaktere werden permanent mit „Herr“ angesprochen. Das Strategiespiel des Berliner Entwickler-Teams Paintbucket Games arbeitet viel mit Vorstellungskraft. In den Dialogen und Story-Sequenzen wird Gewalt zwar im Text beschrieben oder angedeutet, aber höchstens silhouettenhaft verbildlicht. Das ab zwölf Jahren freigegebene ‚Through the Darkest of Times‘ ist dennoch eher für ältere Jugendliche und Erwachsene geeignet – immer vorausgesetzt, die Spieler*innen wollen sich Zeit nehmen für lange Textpassagen und Dialoge. Agiert werden kann in zwei Spielmodi. Sowohl die ‚Erzählung‘ als auch der ‚Widerstand‘ erfordern viel strategisches Denken, wobei letzterer Modus herausfordernder ist, da die einzelnen Entscheidungen größere Auswirkungen haben und die Moral der Gruppe schwerer zu erhalten ist. Auf diese Weise bietet das Spiel für erfahrene Strateg*innen und für Neulinge gleichermaßen Spielerlebnis.
Aufgrund der Länge des Spiels scheint ein Einsatz im Unterricht eher schwer umsetzbar. Eher denkbar wäre die Verwendung zumindest einzelner Kapitel in der offenen Jugendarbeit unter pädagogischer Anleitung. Den Geschichtsunterricht kann das Spiel nicht ersetzen, es bietet aber einen anderen, interaktiven Zugang und zeigt, welcher Druck damals auf den Menschen lastete und welche Anstrengungen sie unternahmen. Spieler*innen können so ihr Wissen auffrischen, vertiefen oder zu weiterer Beschäftigung mit dem Thema animiert werden. Positiv hervorzuheben ist die Herangehensweise an das Thema. Das Fokussieren auf die Schicksale normaler Bürger*innen grenzt ‚Through the Darkest of Times‘ von anderen Videospielen ab, in denen vor allem Weltkriegsabenteuer im Vordergrund stehen. Die Spieler*innen setzen sich mit einer einschneidenden Epoche deutscher Geschichte auseinander, deren Aufarbeitung nie an Relevanz verliert. „Du bist nicht verantwortlich für das, was passiert ist. Aber du bist sicherlich dafür verantwortlich, dass es nicht wieder passiert.“ mit diesen Worten endet das letzte Kapitel und gibt den Spieler*innen einen Denkanstoß und eine Mission für das reale Leben mit auf den Weg. Die App ist sowohl für Android als auch für iOS erhältlich, der Titel kann ebenfalls als Computerspiel erstanden werden.
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Autor: Dana Neuleitner
Beitrag als PDFEinzelansichtKati Struckmeyer: Nur 30 Minuten? Podcast über Kinder und digitale Medien
Haus Eins (2020). Nur 30 Minuten? Podcast, kostenlos verfügbar bei diversen Podcast Apps.
„Darf ich TikTok haben? Darf ich YouTube? Mama, ich will Instagram! Darf ich ZOCKEN???" „Na gut, aber nur 30 Minuten. Und dann machst du aus, ja?“ Der Trailer des Podcasts macht gleich das große Thema auf, das Patricia Cammarata, Speakerin, Autorin und Podcasterin und Marcus Richter, Journalist und Moderator, in ihrem Podcast bearbeiten. Es wird über relevante Themen in Sachen Medienerziehung gesprochen, und das sehr fundiert, sehr sympathisch und auch sehr unterhaltsam.
Der von Ende 2019 bis März 2020 erschienene Podcast widmet sich dabei in jeweils einzelnen Folgen à circa 45 Minuten folgenden Themen: Wie gelingt Medienerziehung? YouTube, WhatsApp, Cyber-Mobbing, wie schätze ich neue Medienphänomene ein? Computerspiele, Sucht, Internetpornografie, Kinderfotos im Netz sowie individuelle Hörer*innenfragen in der letzten Folge.
Cammarata und Richter sehen Eltern in der Rolle als Lernbegleiter*innen, die nicht alles wissen, aber den (medialen) Weg ihrer Kinder mitgehen müssen. Wichtigste Voraussetzung für diesen Weg sei eine gute Beziehung zwischen Eltern und Kind. Wobei Medien hier sogar helfen können. Gespräche über Medien bzw. gemeinsame Nutzung von Medien können und sollten auch Teil der Beziehungsarbeit innerhalb einer Familie sein. Hierfür liefern die Podcaster*innen auch konkrete Tipps – zum Beispiel Apps, Computerspiele sowie YouTube-Kanäle, die sie aus Sicht der Kinder und der Eltern sowie auch auf ihr Potenzial für eine gemeinsame Nutzung beleuchten. Eine weitere wichtige Grundsäule Nur 30 Minuten? Podcast über Kinder und digitale Medien ist für Cammarata und Richter die künstliche Trennung von analoger und digitaler Welt, die es aufzuheben gelte. Medien seien Teil der Wirklichkeit fast aller Heranwachsenden und müssten auch so behandelt werden, statt sie in eine Parallelwelt zu verschieben, was viele Probleme mit sich bringe.
Wenn die Podcaster*innen Medienangebote genauer beleuchten und erklären, dann immer aus der Sicht von zwei Kulturoptimist*innen. Diese Sicht müsste sich aufgrund der sachlichfundierten, angenehm unaufgeregten Art und Weise auch auf eher kulturpessimistisch angehauchte Hörer*innen übertragen.
Besonders hervorgehoben seien die Folgen zu Computerspielen und Sucht – zwei Themen, die auch auf medienpädagogischen Elternabenden regelmäßig heiß diskutiert werden. Die Folge ‚Ist alles Sucht, was wir Sucht nennen?‘ macht dieses sehr polarisierende Thema ganz sachlich und ruhig auf. Was ist laut dem Internationalen Klassifizierungssystem für Krankheiten (ICD 11) überhaupt Sucht? Beim Blick auf die Definition wird schnell klar, dass vieles, was gerade von Medienkritiker*innen als Sucht bezeichnet wird, eher Phänomene sind, die in diesem Zusammenhang falsch diskutiert werden. Gerade das Phänomen der exzessiven Mediennutzung entsteht wiederum oft im Zusammenhang mit Entwicklungsaufgaben der Heranwachsenden und muss individuell betrachtet werden. Professionelle Hilfe sei dabei immer ratsam, sind Cammarata und Richter sich einig, und nennen auch gleich mehrere Anlaufstellen für Eltern, deren Kinder zu viele Medien (welcher Art auch immer) nutzen. Außerdem folgen Tipps, wie man mit Kindern Strategien einüben kann, ihre Impulse in Bezug auf Mediennutzung zu kontrollieren, was eine wichtige Entwicklungsaufgabe Heranwachsender sei. Auch dem Zustand des Flows in Bezug auf Medien wird genau auf den Grund gegangen. In der Folge zu Computerspielen wird vor allem Eltern Hilfestellung gegeben, die selbst wenig Erfahrung damit haben. Es geht um die Frage, wie man in das Thema eintauchen kann (auch, wenn man nicht selbst spielen will), wie man mit Kindern ins Gespräch darüber kommt, was man beim Thema Kommunikation in Online-Spielen beachten muss, wie es in Spielen um Datenschutz und Werbung steht sowie, wann es ein Zuviel an Spielen wird. Auch hier wird die Folge von konkreten Spiele- und Ratgebertipps abgerundet.
Zwei Regeln geben die Podcaster*innen den Zuhörenden immer wieder mit:
1. Redet miteinander!
2. Ohne Aufwand geht es nicht!
Gerade die zweite Regel beinhaltet die dringende Aufforderung, sich mit den Medienvorlieben und der Mediennutzung der Kinder auseinanderzusetzen, was mühsam sein kann, aber unabdingbar und fast immer auch lohnenswert ist. Ziel sei es dabei immer, bei den Heranwachsenden das Bewusstsein zu schaffen bzw. zu schärfen, dass auch sie die Welt in ihren Händen halten und mitgestalten können und sollen.
Der Podcast ist eine Inspirations- und Wissensquelle für alle, die in der medienpädagogischen Elternarbeit unterwegs sind. Sowohl, um den eigenen Wissens- und Erfahrungshorizont zu erweitern, als auch als Handreichung, die Eltern mitgegeben werden kann. Unterstützt wurde die Produktion der ersten Staffel des Podcasts vom Elternratgeber SCHAU HIN!. Nach den Sommerferien erscheinen noch zwei Folgen, dann ist das Projekt beendet. Eltern können ihre Fragen zu digitalen Medien ab August aber auf SCHAU HIN! in der Rubrik #fragdasNuf stellen, die dann von Patricia Cammarata
beanwortet werden.Ebenfalls verfügbar sind die Inhalte des Podcasts in dem 2020 im Eichborn Verlag erschienen Buch ‚Dreißig Minuten, dann ist aber Schluss! Mit Kindern tiefenentspannt durch den Mediendschungel' von Patricia Cammarata (16,60 €).
Beitrag aus Heft »2020/04 Medien und Narrative - Die Kraft des Erzählens in mediatisierten Welten«
Autor: Kati Struckmeyer
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publikationen
Kati Struckmeyer: Über Architektur und Macht der Sprache
Gümüşay, Kübra (2020). Sprache und Sein. Berlin: Hanser, 207 S., 18,50 €.
Kübra Gümüşay hat ein Buch geschrieben, das in den Kanon jetziger und kommender Generationen gehört. Es geht um Sprache – ihren Aufbau, ihre Macht, ihre Kategorisierungen und ihren Facettenreichtum. Ziel von Gümüşays essayartigem Werk ist ein gemeinschaftliches und menschliches Denken und Sprechen in einer sich polarisierenden Welt.
Grundkonstrukt dabei ist die Sprache als ein Ort; Gümüşay denkt ihn sich als ein sehr großes Museum. In diesem Museum gibt es zwei Arten von Menschen – die ‚Benannten‘ und die ‚Unbenannten‘. Letztere sind Menschen, die die Norm bzw. den Maßstab darstellen. Für sie ist das Museum gemacht und von ihnen wird es auch kuratiert. Dadurch erfasst das Museum aber auch nur das, was die ‚Unbenannten‘, die somit zugleich die ‚Benennenden‘ sind, selbst erfassen bzw. was innerhalb ihres Horizonts liegt. Die ‚Benannten‘ wiederum, die von der Norm abweichen, die fremd und anders sind, erzeugen Irritationen. Das Museum ist dazu da, sie zu analysieren und zu kategorisieren. Damit geht eine Entmenschlichung einher, denn es geht nicht mehr um Individuen, sondern nur noch um ‚die Flüchtlinge‘, ‚die Schwulen‘, ‚die Muslime‘, ‚die Schwarzen‘ et cetera.
Dabei lehnt Gümüşay Kategorisierungen nicht grundsätzlich ab. Sie weiß, dass Menschen Kategorien brauchen, um sich zu orientieren, Muster zu erkennen, Entscheidungen zu treffen und zu reagieren. Was sie kritisiert, ist der mit Kategorisierungen einhergehende Absolutheitsglaube, der aus Kategorien Käfige für die ‚Benannten‘ mache; in der (vermessenen) Vorstellung, die eigene begrenzte, limitierte Perspektive auf die Welt als komplett, vollständig und universal zu empfinden. Wenn diese Perspektive – etwa die weißer Europäer*innen oder Nordamerikaner*innen – privilegiert würden über andere, dann verlören die anderen Perspektiven und Erfahrungen ihren Geltungsanspruch.
Gümüşay berichtet immer wieder auch aus ihrer persönlichen Erfahrung. Als ‚Vertreterin‘ für die Kategorie ‚die Muslima‘ bzw. ‚die kopftuchtragende Frau‘ habe sie sich fast immer zu entscheiden, welche ihr von den Benennenden zugedachte Rolle sie einnimmt – die des Opfers, das durch das islamisch begründete Patriarchat bedroht werde, oder die der Gefahr selbst, indem sie als Wegbereiterin der Islamisierung Deutschlands wahrgenommen werde. Gerade dem Kopftuch, auf das Frauen oft reduziert werden, widmet Gümüşay eine ausführliche Betrachtung, die viele Vorstellungen der Lesenden gründlich umkrempeln und zurechtrücken dürfte. Nach der Lektüre dieses Buches wird niemand mehr unbedarft fragen: „Und warum trägst du das Kopftuch nun eigentlich?“, zumal einen Menschen, den sie*er vielleicht erst seit Kurzem kennt.
In einem Kapitel kommt Gümüşay auch auf die Verantwortung der Medien gegenüber den ‚Benannten‘ zu sprechen. Sie klagt an, dass Redaktionen ihre journalistische Sorgfaltspflicht vernachlässigen, wenn sie die ‚Benannten‘ damit beauftragen, den falschen, bewusst provozierenden und menschenfeindlichen Statements ihrer Gäste etwas entgegen zu setzen. Lügen, Manipulationen und Provokationen zu entlarven sei nicht ihre Aufgabe, sondern die der Redaktionen, sonst würden Menschenfeindlichkeit, Rassismus, Sexismus et cetera zu Meinungen geadelt. Zumal diese ‚Funktion‘ des Erklärens zu vergleichen sei mit der ‚Funktion‘ von Rassismus, nämlich Ablenkung. Immer und immer wieder die Gründe der Existenz zu erklären, Absurditäten und ‚Expert*innenmeinungen‘ zu widerlegen, halte Gümüşay und andere davon ab, sich mit anderen zukunftsweisenden Themen zu beschäftigen. Ihre Kraft werde damit verschwendet, Teil eines sinnlosen Kampfes zu sein, um dafür zu sorgen, dass es nicht noch schlimmer wird.
Abschließend entwirft Gümüşay die Vision eines neuen Sprechens. Dazu sei ein Kulturwandel nötig. Solange der nicht stattfinde, blieben Personen, die von der Norm abweichen, auch weiterhin die Feigenblätter einer vermeintlich inklusiven Gesellschaft. Denn deren Teilhabe an Positionen in der gesellschaftlichen Mitte sei erst der allererste Schritt. Eine wirklich inklusive Gesellschaft müsse vor allem die Angst vor dem Wandel verlieren. Die Ungewissheit, wohin dieser Wandel führe, eint alle. Die einzige Gewissheit ist, sagt Gümüşay, dass eine gerechtere, inklusive Gesellschaft nicht von selbst kommt. Für sie brauche es konstante Wachsamkeit und konstantes Lernen. Und Orte, an denen gedacht werden kann – zögernd, zweifelnd, hinterfragend, dabei aber immer wohlwollend denen gegenüber, die kritisiert werden, ohne sich dabei über sie zu erheben. „Eine Welt, in der alle gleichberechtigt sprechen und sein können.“
Sprache und Sein eignet sich als Lektüre für alle Menschen, für pädagogisch Tätige gibt das Buch zusätzlich viele Denkanstöße und Impulse für die praktische Arbeit – sowohl für die eigene Sprache, als auch für eine Sprache, deren Entwicklung gemeinsam mit Heranwachsenden in Projekten angestoßen werden kann und muss.
Wer sich mehr mit Kübra Gümüşay beschäftigen möchte, der*dem sei der Podcast Hotel Matze vom 26. Februar 2020 empfohlen. Auch in diesem Podcast wird über Sprache, Ausgrenzung, die Verunsicherung unserer Zeit, Rassismus sowie den Stellenwert von Glauben und Hoffnung gesprochen.
Beitrag aus Heft »2020/04 Medien und Narrative - Die Kraft des Erzählens in mediatisierten Welten«
Autor: Kati Struckmeyer
Beitrag als PDFEinzelansichtGeorg Materna: Platzende Blasen, stille Echokammern und die wirklich wichtigen Fragen
Bruns, Axel (2019). Are Filter Bubbles Real? Cambridge: Polity, 160 S., 12,90 €.
Axel Bruns ist in Fachkreisen international bekannt geworden, als er mit einem 2008 erschienen Buch den Begriff produsage im Fachdiskurs etablierte. Er beschrieb damit, dass in sozialen Medien Produktion und Konsumption zunehmend zusammenfallen. Im Buch 'Are Filter Bubbles Real?' widmet sich Bruns erneut der Diskussion von Begriffen, die seit einigen Jahren eine große Reichweite haben: Filterblase und Echokammer. Er tut dies aber nicht, um sie zu weiter zu etablieren, sondern um sie kritisch zu hinterfragen und bestenfalls sogar abzuschaffen. Für dieses Ziel argumentiert Bruns, soviel sei vorweg genommen, in fünf unterhaltsam zu lesenden Kapiteln sehr überzeugend.
Die Begriffe Filterblase und Echokammer haben beeindruckende Karrieren gemacht. Politiker*innen nutzen sie, um vor gesellschaftlicher Polarisierung zu warnen. Kritiker*innen des digitalen Wandels rechtfertigen mit ihnen, warum sie Soziale Medien und die Digitalisierung als Bedrohung darstellen. Wenn man jedoch, wie Bruns, genau hinschaut, dann finden sich kaum klare Definitionen dessen, was die Begriffe beschreiben sollen. Deswegen etabliert Bruns in Kapitel 2 seine eigenen Definitionen: Eine Echokammer entsteht, wenn sich eine Gruppe von Menschen nur untereinander vernetzt und Verbindungen nach außen kappt, sodass Informationen immer nur einen ausgewählten Kreis an Personen erreichen. Diese Echokammer ist noch keine Filterblase, weil die Gruppenmitglieder mit Menschen außerhalb der Gruppe kommunizieren und in der Gruppe auch externe Beiträge posten können. Eine Filterblase unterscheidet Bruns von der Echokammer, indem er sie nicht über die Vernetzung, sondern über die Kommunikation definiert. Eine Filterblase entsteht, wenn Personen vorwiegend mit ausgewählten Partner*innen sprechen. Je exklusiver diese Kommunikationsbeziehungen werden, desto mehr entwickelt sich eine Filterblase. Hierbei ist es prinzipiell möglich, dass die Personen der Filterblase anderen Netzwerken angehören. Innerhalb der Filterblase spielen Informationen von außerhalb jedoch keine Rolle, geteilt wird nur, was von Personen kommt, die der Blase angehören.
Dieser Beschreibung folgend stellt Bruns fest, dass es durchaus möglich ist, dass Echokammern und Filterblasen existieren und sich eventuell sogar überschneiden. Die Wirklichkeit des Medienhandelns sehe jedoch oftmals anders aus, argumentiert er in Kapitel 3, wo er verschiedene Studien vorstellt, die sich vor allem auf politische Diskurse auf Twitter und Facebook konzentrieren. Zusammengefasst finden sich in den Studien zwar Hinweise auf Blasen und Kammern, diese beziehen sich jedoch zumeist auf einzelne Personen oder Kontexte, wie politische Aktivist*innen oder Beiträge zu spezifischen Hashtags. Für die meisten Nutzer*innen lassen sich weder ausgeprägte Filterblasen und/oder Echokammern nachweisen. Ein wichtiger Grund dafür ist, dass politische Positionen nur für 23 Prozent der Nutzer*innen auf Facebook und 17 Prozent auf Twitter ein Auswahlkriterium sind, um anderen Personen oder Hashtags zu folgen, wie eine Studie zur amerikanischen Präsidentschaftswahl 2016 feststellte. Wesentlich wichtiger sind freundschaftliche, berufliche und verwandtschaftliche Beziehungen, über die man weiterhin mit diversen Informationen in Kontakt kommt. Selbst die politisch aktivsten Personen, gibt Bruns zu bedenken, rezipieren nicht nur die eigenen Positionen, sondern setzen sich gezielt mit Informationen der Gegenseite auseinander, um diesen widersprechen zu können.
Diese Argumentation stützt Bruns in Kapitel 4 mithilfe weiterer Studien. Soziale Medien führen seiner Darstellung nach nicht zu weniger und einseitigerer, sondern zu mehr Information und diverseren Quellen. Als Grund dafür führt er die oftmals kritisch gesehene Dekontextualisierung von Informationen in Sozialen Medien an. Dadurch, dass Beiträge wiederholt geteilt und auf diese Art ihre Quellen weniger nachvollziehbar werden, bekämen sie eine größere Reichweite und würden auch von Personen rezipiert, die sie im Wissen um die Ursprungsquelle abgelehnt hätten. Auch die personalisierte Auswahl von Informationen auf vielen Plattformen führe tendenziell nicht dazu, dass abweichende Informationen generell abgelehnt würden. Vielmehr helfe sie dabei, die Informationsflut zu organisieren und sich auch mit abweichenden Positionen zu beschäftigen. Unterstützend führt Burns eine Studie aus den USA an, die darauf hinweist, dass der Grad der politischen Polarisierung zwischen 1996 und 2016 stärker bei Personen zugenommen hat, die das Internet nicht oder wenig nutzen, als bei Personen, die häufig online sind.
Bruns Kritik an den Begriffen Filterblase und Echokammer läuft darauf hinaus, dass sie einen Technikdeterminismus suggerieren, der sich empirisch nicht nachweisen lasse. Sich auf ihre Erforschung und Eindämmung zu konzentrieren, würde die Idee nur stärker machen, dass digitale Medien der Grund für zunehmende gesellschaftliche Spannungen sind. Der eigentliche Grund gesellschaftlicher Polarisierung sind aber soziale Ungleichheit, der Abbau des Sozialstaates und ein stärker werdender politischer Populismus, argumentiert Bruns. Besonders letzterer wird auch durch digitale Medien befördert, die populistischen und extremistischen Positionen eine nie dagewesene Reichweite verschaffen. Um hierauf zu reagieren brauche es das gesellschaftspolitische Engagement verschiedenster Akteur*innen, eine steigende Medienkompetenz und -kritikfähigkeit in der Bevölkerung sowie ein besseres Verständnis der sich wandelnden Öffentlichkeit.
Bruns Publikation ist ein wichtiger Beitrag für eine differenzierte Auseinandersetzung mit digitalem Wandel und politischer Teilhabe. Es bietet Fachkräften, die die Begriffe Filterblase und Echokammer im beruflichen und privaten Kontext nutzen, überraschende Einsichten und spannende Hintergrundinformationen.
Beitrag aus Heft »2020/04 Medien und Narrative - Die Kraft des Erzählens in mediatisierten Welten«
Autor: Georg Materna
Beitrag als PDFEinzelansichtHeinrike Paulus: Handke, Jürgen (2020). Humanoide Roboter. Showcase, Partner und Werkzeug. Baden-Baden: Tectum. 230 S., 38,00 €.
Handke, Jürgen (2020). Humanoide Roboter. Showcase, Partner und Werkzeug. Baden-Baden: Tectum. 230 S., 38,00 €.
Kopfdrehende, armbewegende, laufende Roboter agieren mithilfe von Algorithmen automatisiert und selbstlernend. Inzwischen erinnern sie Supermarkt-Kund*innen in Corona-Zeiten an Hygieneregeln oder nehmen an Roboter-Fußballweltmeisterschaften teil. Doch können humanoide Roboter, die in Verhalten, Form und Emotionalität Menschen ähneln, der Bildung Beine machen, indem sie Lehren und Lernen in der digitalen Welt unterstützen?
Die Publikation 'Humanoide Roboter' liefert fundierte Einblicke in die facettenreichen Anwendungsfelder der Robotik. Als Werkzeug helfen Roboter, digitale Kompetenzen etwa im Bereich des Programmierens zu erwerben oder zu festigen. Ebenso eröffnen sie Lehrenden Freiräume, indem sie diesen wertvolle Zeit ersparen, ohne die Person jedoch selbst zu ersetzen.
Das neun Kapitel umfassende Fachbuch, welches Jürgen Handke mit seinen Co-Autor*innen verfasst hat, analysiert, welche Aufgaben Roboter übernehmen und welche Folgen dies für die Gesellschaft und die*den Einzelne*n zukünftig haben könnte. Ebenso erörtert Handke, der bis zum Sommersemester 2020 Professor am Institut für Anglistik und Amerikanistik der Universität Marburg war, Einsatzszenarien etwa bei Prüfungen an Hochschulen oder in der Schule. Deutlich wird dabei, dass die neue Technik nicht Figuren aus Science-Fiction-Filmen gleicht, denn ohne menschliche Unterstützung können die technischen Wesen derzeit weder denken noch handeln.
Jürgen Handke prognostiziert in seinem Forschungsband, dass Roboter – der Name ist abgeleitet vom tschechischen Begriff für 'künstlicher Mensch' – immer mehr begleitend im menschlichen Alltagsleben werden. Lohnenswert ist die Lektüre für all jene, die sich intensiv mit bildungs- und medienwissenschaftlichen Disziplinen befassen.
Einsteiger*innen in diesen Themenkomplex wird ein Glossar an die Hand gegeben. Wer die Inhalte über Roboter vertiefen möchte, den führen QR-Codes zu Videos über Historie und Funktionalität. Juristische und ethische Aspekte zu diskutieren, ist im Bereich der Robotik unerlässlich. Diese werden vor dem Hintergrund des fast 230-seitigen Bandes auf lediglich drei Seiten jedoch viel zu kurz angerissen. Etwas zu wenig wird deutlich, dass je mehr robotisiert wird, desto mehr ethische Maßstäbe erforderlich sind. Offen bleibt auch die Frage, ob künstliche Intelligenz nicht vielleicht doch wie gerufen kommt, um Dinge in einen Roboter hineinzuprojizieren, die wir eigentlich von Menschen erwarten?
Beitrag aus Heft »2020/04 Medien und Narrative - Die Kraft des Erzählens in mediatisierten Welten«
Autor: Heinrike Paulus
Beitrag als PDFEinzelansichtJounas Al Maana: Kaminsky, Carmen/Seelmeyer, Udo/ Siebert, Scarlet/Werner, Petra (Hrsg.) (2020). Digitale Technologien zwischen Lenkung und Selbstermächtigung. Interdisziplinäre Perspektiven. Weinheim: Beltz Juventa. 186 S., 29,95 €.
Kaminsky, Carmen/Seelmeyer, Udo/Siebert, Scarlet/Werner, Petra (Hrsg.) (2020). Digitale Technologien zwischen Lenkung und Selbstermächtigung. Interdisziplinäre Perspektiven. Weinheim: Beltz Juventa. 186 S., 29,95 €.
In Kontexten der Sozialarbeit sowie der Therapie werden digitale Technologien von Self Tracking bis Gamification eingesetzt. Die Publikation versucht anhand interdisziplinärer Perspektiven Technik, ‚die auf soziale Verhaltensänderung zielt‘, in ihren Chancen und Risiken zu beleuchten.
Dazu widmet sich der erste Teil dem Spannungsfeld zwischen Ermächtigung und Kontrolle bei digitalen Tools aus einer techniksoziologischen Perspektive. Dabei wird das Konzept der ‚digitalen Dienstbarkeit‘ entworfen, um den Nutzen der Technologie für den Menschen zu beschreiben. Anhand eines zeitlichen Abrisses der verschieden ‚Zäsuren‘ der Digitalisierung wird aufgezeigt, wie sich das Selbstbild durch die digitale Transformation verändert.
Die Frage nach Lenkung und Selbstermächtigung durch digitale Technologien wird in den weiteren Beiträgen anhand konkreter digitalisierter Praktiken in Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit diskutiert. Die behandelten Settings reichen von Gamification und Technikberatung für ältere Menschen bis zur Verwendung sozialer Medien und Online-Experimente als ‚Living Labs‘. Konkret werden dabei ethische Fragen zur Digitalisierung in der Sozialen Arbeit gestellt und auf die Herausforderung der Einhaltung der ‚klassischen ethischen Anforderungen der Profession‘ verwiesen.
Die Publikation bietet einen tiefen interdisziplinären Einblick in grundlegende ethische Debatten in der Arbeit zwischen Mensch und Technologie und bestärkt die langjährige Forderung der Sozialarbeitswissenschaften nach mehr Reflexivität und interdisziplinäreren Perspektiven bei der Entwicklung von digitalen Technologien.
Beitrag aus Heft »2020/04 Medien und Narrative - Die Kraft des Erzählens in mediatisierten Welten«
Autor: Jounas Al Maana
Beitrag als PDFEinzelansichtJounas Al Maana: Lemme, Sebastian (2020). Visualität und Zugehörigkeit. Deutsche Selbstund Fremdbilder in der Berichterstattung über Migration, Flucht und Integration. Bielefeld: transcript. 300 S., 50,00 €.
Lemme, Sebastian (2020). Visualität und Zugehörigkeit. Deutsche Selbst- und Fremdbilder in der Berichterstattung über Migration, Flucht und Integration. Bielefeld: transcript. 300 S., 50,00 €.
‚Die Deutschen‘ versus ‚die Migrant*innen‘? Dieser Konstruktion wird in der Analyse von Sebastian Lemme auf den Grund gegangen. Nach einem grundlegenden Überblick über postkoloniale Studien, die Critical Whiteness Studies und die Rassismusforschung werden diese mit Konzepten der visuellen Kommunikation sowie Fremd- und Selbstbildern verknüpft. Der zweite Teil des Buchs widmet sich der methodischen Auseinandersetzung mit der Analyse von visueller Kommunikation.
Mithilfe von exemplarischen Fotos aus Zeitungen werden die Ergebnisse der empirischen Analyse von Bildmaterial im Zeitraum 2006 bis 2015 vorgestellt. Eine Leitfrage der empirischen Untersuchung ist dabei die Frage nach der Art der Darstellung von Gruppen sowie deren Repräsentation. Ziel der Publikation ist es, „Stereotypisierungen in einen historischen, politischen und gesellschaftlichen Rahmen einzuordnen [und] mit Dynamiken der Dominanz und Machtförmigkeit abzugleichen.“
Die Publikation leistet einen essentiellen Beitrag für die Diskussion um Berichterstattung und macht deutlich, wie durch Framing und die Verwendung negativ stereotypisierter Bilder in Bezug auf Schwarze, People of Color und Menschen mit Migrationsgeschichte in Deutschland, eine ‚Andersheit‘ von (post-)migrantischen Lebensrealitäten aufrechterhalten wird. Demgegenüber wird das Bild einer deutschen und weißen ‚Wir-Gemeinschaft‘ gestellt. Die Erkenntnisse dieser Analyse bieten anhand der konkreten Bilder eine empirische Argumentationsgrundlage zur (rassismus-)kritischen Betrachtung der medialen Berichterstattung.
Beitrag aus Heft »2020/04 Medien und Narrative - Die Kraft des Erzählens in mediatisierten Welten«
Autor: Jounas Al Maana
Beitrag als PDFEinzelansichtMaurice Pflug: Pörksen, Bernhard/Narr, Andreas (2020). Schöne digitale Welt. Analysen und Einsprüche von Richard Gutjahr, Sascha Lobo, Georg Mascolo, Miriam Meckel, Ranga Yogeshwar und Juli Zeh. Köln: Halem. 214 S., 21,00 €.
Pörksen, Bernhard/Narr, Andreas (2020). Schöne digitale Welt. Analysen und Einsprüche von Richard Gutjahr, Sascha Lobo, Georg Mascolo, Miriam Meckel, Ranga Yogeshwar und Juli Zeh. Köln: Halem. 214 S., 21,00 €.
Die Vorträge und Reden in 'Schöne digitale Welt' wurden auf Einladung des Instituts für Medienwissenschaft der Universität Tübingen oder im Rahmen der dortigen Lehre gehalten.
Nimmt man Pörksens Einführung in die Publikation ernst, so stellen sich die Redner*innen einer historischen Aufgabe: „Es lohnt sich in dieser Situation einer diskursiven Selbstentmachtung der gesellschaftlichen Mitte daran zu erinnern, dass Geschichte von Menschen gemacht wird“. Pörksen diagnostiziert „eine selbstproduzierte Verödung visionärer Phantasie“, einen „Verlust an Ausstrahlung und Magie“ und das Fehlen einer „sinnstiftenden Erzählung der Mitte“ in „großen Entwürfen und langen Linien“. Ist dies der Anspruch, so muss festgestellt werden, dass die Texte ihn nur zum Teil erfüllen können.
Die Analysen sind oft hellsichtig und manche (Neu-)Kontextualisierung zeugt durchaus von ‚visionärer Fantasie‘. Es handelt es sich bei den Analysen und Einsprüchen mehrheitlich um kluge, aber provisorische Einordnungsangebote. Der Status des Provisorischen entspricht durchaus der Thematik und wird mehrmals selbst zum Thema gemacht. Seine Stärke entfaltet der Band daher in der von Pörksen geforderten „Intervention“, bei der es darum gehen soll „Freiräume des Denkens und Handelns überhaupt erst wieder erkennbar und erfahrbar“ zu machen. Hierin liegt zugleich der medienpädagogische Wert der Lektüre, denn gelingender Umgang mit Medien setzt nicht allein Handlungswissen voraus, sondern ebenso die Fähigkeit, derartige Freiräume zu erkennen und kritisch reflektierend zu nutzen. Medienpädagog*innen finden hier zahlreiche Anstöße, um ihre eigene diesbezügliche Fähigkeit zu schulen.
Eine Schwäche des Bandes zeigt sich, wenn die „typisch magische Macht“ der Worte, die Sascha Lobo unter Berufung auf Pierre Bourdieu kritisch beschreibt, den provisorischen Charakter des Gesagten überstrahlt. Die Anstrengung, sich hiervon nicht blenden zu lassen, wird mit der Möglichkeit belohnt, entdeckte Freiräume (provisorisch) selbst zu füllen.
Beitrag aus Heft »2020/04 Medien und Narrative - Die Kraft des Erzählens in mediatisierten Welten«
Beitrag als PDFEinzelansichtJerome Wohlfarth: Resnick, Mitchel (2020). Lifelong Kindergarten. Warum eine kreative Lernkultur im digitalen Zeitalter so wichtig ist. Berlin: Bananenblau UG. 240 S., 19,80 €.
Resnick, Mitchel (2020). Lifelong Kindergarten. Warum eine kreative Lernkultur im digitalen Zeitalter so wichtig ist. Berlin: Bananenblau UG. 240 S., 19,80 €.
Die Faszination für das Lernen lassen die meisten Menschen leider in ihrer Kindheit zurück. Spätestens wenn es Teil ihres Schulalltags ist, vergeht vielen der Spaß daran. Dies muss jedoch nicht so sein, findet Mitchel Resnick, Professor für Bildungsforschung.
Resnick ist Lernexperte am MIT und Erfinder der Programmiersprache Scratch. Mit seinem Buch möchte Resnick die Aufmerksamkeit auf Lernmethoden richten, deren Ziel kreatives Denken und Handeln ist. Für Resnick sollte das Aneignen von Fähigkeiten, Informationen sowie logischen Zusammenhängen Spaß machen und die Neugierde auf mehr wecken. Und das nicht nur bei Kindern, sondern auch bei Erwachsenen, die in der heutigen schnelllebigen Zeit ebenfalls stets dazulernen müssten.
Um dies zu erreichen, müssen wir uns laut Resnick mehr auf das Imaginieren, Kreieren, Spielen, Teilen und Reflektieren fokussieren: so, wie es Kinder im Kindergarten tun. Dafür, dass dieser Prozess auch ähnlich kreativ wie im Kindergarten ablaufen kann, sind laut Resnick verschiedene Aspekte wichtig. So sieht er zum Beispiel in der Making-Bewegung nicht nur technologisches und ökologisches Potenzial, sondern auch eine neue Bewegung der Lernenden. Wissen wird hierbei nicht pauschal erworben, sondern am Projekt, also an der Praxis, für die es auch genutzt werden soll. Dies könne man am besten erreichen, indem die Menschen Dinge lernen, für die sie sich selbst begeistern können, sodass sie sich auch von Misserfolgen nicht sofort entmutigen lassen, sondern sie als Teil der Lernerfahrung sehen. Das Arbeiten mit Menschen, die ähnliche Interessen haben wie man selbst, führt Resnicks Ansicht nach ebenso zu besseren Ergebnissen. Wichtig sei auch, an Themen spielerisch heranzugehen, um eine entspannte Arbeitsatmosphäre zu schaffen.
Die Publikation eignet sich für Pädagogin*innen, Eltern sowie alle, die kreative Methoden nutzen möchten, um andere zum Lernen zu motivieren oder selbst motiviert etwas Neues zu erfahren.
Beitrag aus Heft »2020/04 Medien und Narrative - Die Kraft des Erzählens in mediatisierten Welten«
Autor: Jerome Wohlfarth
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kolumne
Jounas Al Maana/Kati Struckmeyer: #blackouttuesday
ks Als teilzeitarbeitende Mutter von zwei Kindern – und neuerdings verantwortlich für eine Fachzeitschrift – läuft mein Leben oft in sehr gleichförmigen Bahnen ab. Instagram ist für mich ein Fenster in die Welt, wenn meine eigene Welt zum Hamsterrad wird. Mal kurz gucken, was andere machen, denken, lesen, anziehen, essen – das ist Entspannung, Ablenkung und vor allem Inspiration. Am #blackouttuesday bin ich beim Raus- bzw. Reingucken gestolpert. (Fast) alles schwarz. Das war zuerst: berührend und aufrüttelnd. Dann aber auch: verunsichernd. Wie geht das weiter? Wie viel antirassistisches Engagement bleibt übrig, wenn die schwarzen Kacheln wieder weg sind? Was mache ich jetzt damit? Diese Fragen kann mir keiner beantworten, aber folgende Instagram-Kanäle haben mir dabei geholfen, es nicht bei einem schwarzen Quadrat zu belassen, sondern (zumindest im Kopf, resultierend aber sicher auch im Handeln) weiter zu kommen und den ersten Schritt in Richtung Veränderung zu gehen:
@tupoka.o | @alice_haruko | @aminajmina | @noahsow | @wasihrnichtseht
ja Der #blackouttuesday hat Anfang Juni auch meine Timeline mit schwarzen Quadraten übersät. Instagram war in den letzten Jahren für mich ein enorm wichtiges Medium, um mich mit meiner Identität und meinen Erfahrungen auseinanderzusetzen, aber auch, um neue Perspektiven und Lebensrealitäten kennenzulernen. Am #blackouttuesday beschäftigten sich scheinbar alle meine (Insta-)Freund*innen mit Rassismus. Einerseits freute es mich, dass so viele Menschen wohl ein Bewusstsein für diese Ungerechtigkeiten haben. Aber ist das wirklich so, frage ich mich. Wieso muss erst wieder ein schwarzer Mann in den USA sterben, damit auch Menschen in Deutschland verstehen, dass Rassismus ein Problem ist? Haben Oury Jalloh, NSU, Halle oder Hanau nicht gereicht für diese Einsicht?
Ich hoffe, dass der #blackouttuesday den Blackout, den Deutschland zu Rassismus im eigenen Land hat, beenden konnte und die Erinnerungen an die grausame deutsche Kolonialgeschichte und rassistisch motivierte Gewalt zurückbringt. Der #blackouttuesday hat mir zu keinen neuen Erkenntnissen verholfen. Ich weiß, dass Rassismus in Deutschland alltäglich ist. Alle Menschen, die selbst von Rassismus betroffen sind, wissen das. Wir müssen den Blackout zu Rassismus in der deutschen Politik, in der Justiz, in der Polizei und in den Medien hinter uns lassen. Auf dem Weg dahin gilt es für jede*n Einzelne*n von uns, sich weiter aktiv mit Rassismus, Antirassismus und der eigenen Positionierung auseinanderzusetzen. Die Inhalte auf Instagram können dabei sowohl für Betroffene eine empowernde Funktion einnehmen als auch für alle anderen eine enorme Perspektiven- und Wissenserweiterung bieten, etwa die von:
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Autor: Jounas Al Maana, Kati Struckmeyer
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