2016/02: 60 Jahre merz – 60 Jahre Medienpädagogik
Bescheiden, aber mit amtlichem Anstrich kam die heutige merz in ihren Anfängen daher: Mitteilungen des Arbeitskreises Jugend und Film war das Faltblatt betitelt. 1957 wurde daraus Jugend und Film. Vierteljahreszeitschrift des wissenschaftlichen Instituts für Jugendfilmfragen und über eine Reihe von Titelvariationen 1976 im Haupttitel die heutige merz | medien + erziehung. Über 60 Jahrgänge hinweg hat merz bereits die Medienpädagogik im deutschsprachigen Raum gespiegelt und sich mit ihren Schwerpunkten weiterentwickelt bzw. zum Teil diese Schwerpunkte mit entwickelt. Unabhängig von kommerziellen Interessen, getragen primär vom Engagement des JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis und seit 1976 unterstützt von den beiden Verlagen Leske + Budrich und kopaed, behauptet sie sich auf dem medienpädagogischen Feld und bietet ein Forum für Theorie, Forschung und Praxis der Medienpädagogik. Problemlos verlief die Geschichte von merz nicht immer. Vor allem die ab Mitte der 1970er-Jahre stärker vertretene kritische Auseinandersetzung mit den Mediensystemen, dem Bildungswesen und den Sozialisationsinstanzen im Kontext aktueller gesellschaftlicher Gegebenheiten und das Insistieren auf den Subjektstatus aller Mediennutzenden provozierte auch Gegenwind. Doch merz bot Raum für Streitkultur und initiierte ab 1976 regelmäßig Diskussionen über medienpädagogische Positionen.merz 2/2016 feiert dieses Jubiläum, blickt zurück auf 60 Jahre merz und 60 Jahre Medienpädagogik – mit Autorinnen und Autoren, die merz schon immer begleitet haben, solche, die erst neu dazugekommen sind, ehemalige und aktuelle Redakteurinnen und Redakteure, aber auch Personen aus interdisziplinären Feldern, die aus ihren je eigenen Perspektiven auf merz und Medienpädagogik (zurück-)blicken.
aktuell
Elisabeth Jäcklein-Kreis: Studie zu mobilen Medien in der Familie
Mobile Medien wie Smartphones, Tablets und Co. machen das Internet so omnipräsent, leicht und schnell verfügbar wie nie zuvor. Dies birgt viele Vorteile und Chancen – stellt aber gerade Eltern und pädagogische Fachkräfte auch vor viele neue Herausforderungen, wenn es darum geht, Kinder und Jugendliche dabei zu unterstützen, sich die vielfältigen Angebote im Netz mittels mobiler Endgeräte souverän, kompetent und möglichst schadfrei anzueignen. Gerade in Familien ist Medienerzie¬hung mehr denn je nötig und relevant, zugleich sind hier angemessene und zielführende Unterstützungsangebote von Seiten der Pädagogik gefragt. Die Studie MoFam – Mobile Medien in der Familie, herausgegeben vom JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis, widmet sich diesem Bedarf und stellt folgende Fragen:
- Welche Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie sowie der Kinder- und Jugendme-dienforschung sind für die Medienerziehung als relevant einzuschätzen?
- Welche Bedarfe und Fragen haben Eltern zum Umgang mit mobilen Medien und dem Internet? Welche Unterstützung brauchen Familien?
- Welche Fragen haben Fachkräfte? Welche Unterstützung brauchen sie?
Anhand einer Expertise, in der der Wissensstand aus Entwicklungspsychologie und Medienforschung systematisch aufbereitet und ausgewertet wurde, sowie zweier Befragungen – von Eltern und pädagogischen Fachkräften – näherten sich die Forscherinnen des JFF diesen Fragestellungen und konnten feststellen, dass Eltern und pädagogische Fachkräfte einen großen Bedarf an mehr Medienerziehung und besseren Unterstützungsangeboten sehen.
Gerade durch häufig einseitige, negative Berichter¬tattung und fehlendes Wissen entstehen bei den Befragten Befürchtungen und Ängste zum Mediengebrauch der jungen Generationen, denen sie nicht genügend begegnen können. Es sind deshalb vermehrt Unterstützungsangebote, aber auch eine Verbreitung von Wissen und Kompetenz etwa durch Multiplikatorinnen und Multiplikatoren gefragt. Die Studie wurde gefördert durch das Bayerische Staatsministerium für Arbeit und Soziales, Familie und Integration. Die Ergebnisse wurden im Februar im Institut für Jugendarbeit Gauting vorgestellt – einen Tagungsbericht finden Sie auf unserer Webseite.
Beitrag aus Heft »2016/02: 60 Jahre merz – 60 Jahre Medienpädagogik«
Autor: Elisabeth Jäcklein-Kreis
Beitrag als PDFEinzelansichtElisabeth Jäcklein-Kreis: Hilfe beim Helfen. Seiten und Initiativen rund um Flüchtlinge
Die Ankunft zahlreicher Flüchtlinge aus der ganzen Welt hat in Deutschland eine beispiellose Welle der Hilfsbereitschaft hervorgerufen. Doch nicht alle, die gerne helfen wollen, wissen auch, wo sie mit anpacken kön-nen, welche Spenden benötigt werden oder welche Aktionen wirklich ankommen. Um den Flüchtlingen die Ankunft und den Hilfsbereiten das Engagement zu erleichtern, haben sich zahlreiche Angebote formiert, die Kontakte vermitteln, Unterstützungsangebote koordi¬nieren, Informationen sammeln und bündeln ... kurz: Ordnung in ein großes, unübersichtlich und häufig noch nicht endgültig geklärtes Thema bringen.
www.willkommen-bei-freunden.de
Das Bundesprogramm Willkommen bei Freunden – Bündnisse für junge Flüchtlinge ist ein gemeinsames Programm der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung und des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Es soll helfen, die Integration von Flüchtlingen in den einzelnen Kommunen vor Ort einfacher und reibungsloser zu gestalten. Besonderes Anliegen ist es, die Eingliederung junger Flüchtlinge in Kindertagesstätten und Grundschulen sowie örtliche kulturelle Angebote zu erleichtern. Dazu wurden bundesweit sechs Servicestellen eingerichtet, gelungene Beispiele aber auch praktische Hilfen werden über die Webseite vermittelt.
www.refugees4refugees.wordpress.com ‚
Erfahrene' Flüchtlinge haben sich im Verein Flüchtlinge für Flüchtline e. V. zusammengeschlossen, um sich zu vernetzen, Informationen zu sammeln und Wissen und Erfahrungen an neu Ankommende weiterzugeben. Der Verein organisiert Begleitpersonen, hilft bei Behördengängen, bietet Übersetzungsdienste und Workshops an, sammelt auf seiner Webseite aber auch Informationen über Presseberichte, politische Entscheidungen, und Demonstrationen.
www.fluechtlinge-willkommen.de
Flüchtlinge integrieren – nicht nur in das Land, sondern ganz konkret in freie Zimmer und Wohnungen, das ist das Ziel der Initiative Flüchtlinge Willkommen. Auf der Webseite werden leere Zimmer an Flüchtlinge vermittelt und umgekehrt. Wer in seinem Haus, seiner Wohnung oder WG Platz übrig hat, kann diesen online anbieten, die Räume werden dann an Flüchtlinge vermittelt – und von Spendengeldern, die ebenfalls online gesammelt werden, bezahlt.
www.proasyl.de
Pro Asyl ist eine unabhängige Menschenrechtsorganisation, die sich bereits seit langem für Flüchtlinge einsetzt, entsprechend ist die Webseite bereits gut gefüllt mit Informationen und Möglichkeiten, aktiv zu werden. Hier werden sowohl News als auch allgemeines Wissen gesammelt – etwa in der Broschüre Refugees Welcome – gemeinsam Willkommenskultur gestalten oder im ‚Material'-Bereich –, aber auch Kampagnen gestartet und Projekte umgesetzt. Zudem findet man Kontakte zu allen Flüchtlingsräten in den Bundesländern Deutschlands sowie Informationen zu örtlichen Aktionen, an denen man sich beteiligen kann (über uns → Förderverein → Mitmachen).
fluechtlingshilfemuenchen.de
Neben diesen bundesweiten Angeboten gibt es viele lokale Initiativen, die Wissen und Informationen vermitteln, praktische Hilfen anbieten und Möglichkeiten aufzeigen, sich zu engagieren, etwa die Flüchtlingshilfe München, auf deren Webseite Münchner Angebote vorgestellt und Kontakte vermittelt werden.
Diese und weitere Angebote finden Sie auch online: www.merz-zeitschrift.de/links
Beitrag aus Heft »2016/02: 60 Jahre merz – 60 Jahre Medienpädagogik«
Autor: Elisabeth Jäcklein-Kreis
Beitrag als PDFEinzelansicht#mymerzselfie
Wir wollen Sie sehen – mit Ihrer liebsten merz! Zum 60-jährigen Jubiläum interessiert uns, welche Ausgabe Ihnen bisher am meisten ans Herz gewachsen ist. Also gleich Archiv durchforsten, zusammen mit der Lieblingsausgabe in die Kamera schauen, knipsen … und mit einer Begründung unter www.merz-zeitschrift.de/blog hochladen!Die zwei originellsten, überzeugendsten, authentischsten oder spannendsten Geschichten zum Selfie gewinnen je einen kopaed-Gutschein im Wert von 25 €!
Einsendeschluss ist der 31. August 2016. Die Gewinnerinnen und Gewinner des #mymerzselfie werden in der merz 5/2016 gekührt.
Mitmachen können Sie auf unserem Blog: www.merz-zeitschrift.de/blog
Jana Schröpfer: Studie zu AGB und Datenschutz
Deutsche Internetnutzende verhalten sich widersprüchlich beim Zustimmen zu Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB) von Kommunikationsdienstleistern. Das zeigt eine repräsentative Onlinebefragung des Deutschen Instituts für Vertrauen und Sicherheit im Internet (DIVSI). Über 1.000 Internetnutzende ab 14 Jahren wurden zu AGB, ihrem Umgang mit Datenschutzbestimmungen sowie ihren Einstellungen und Vorbehalten befragt. Die Ergebnisse zeigen: E-Mail-Dienste werden beinahe von allen verwendet (98 %), drei Viertel der Befragten nutzen zudem Messenger-Anwendungen, allen voran WhatsApp. Die widersprüchlichen Verhaltensweisen zeigen sich darin, dass zwar 86 Prozent der Nutzenden eine Kenntnis der AGB für wichtig halten, aber 60 Prozent diese entweder gar nicht lesen oder nur grob überfliegen; nur 20 Prozent schauen sich einzelne Punkte genauer an. Zur großen Gruppe der Nicht- bzw. Kaum-Leserinnen und -Leser zählen junge Nutzende sowie Befragte mit hohem Bildungsniveau. Das Zustimmen zu den AGB wird von diesen häufig als lästig empfunden.
Dennoch legen die Befragten Wert auf den Schutz ihrer Daten. Kontakte, Passwörter, aber auch Text- und Sprachnachrichten sowie Videos und Bilder gelten als höchst schützenswert und rangie¬ren vor anderen, weniger sensiblen personenbezogenen Daten. Warum Internetnutzende AGB und Datenschutzbestimmungen dennoch häufig ungeprüft zustimmen, wird unter anderem mit ‚Resignation‘ erklärt. So geben 37,5 Prozent der Befragten an, keine Alternative zu sehen und 22 Prozent akzeptieren die AGB mit einem unguten Gefühl. ‚Vertrauen‘ stellt ein weiteres Motiv dar, das Kleingedruckte zu vernachlässigen: 33 Prozent vertrauen den meisten Anbietern, 21 Prozent gehen davon aus, dass alles richtig bzw. rechtmäßig ist (Mehrfachnennungen möglich). Gegen das genaue Lesen und Prüfen der AGB spricht zudem ein erheblicher Aufwand. Die Nutzenden bemängeln zudem, dass es nicht möglich sei, AGB vollständig zu lesen und zu verstehen. 93 Prozent wünschen sich daher eine Optimierung der AGB und Datenschutzbestimmungen, vor allem kürzere Texte, verständlichere Sprache und übersichtlichere Layouts.
Beitrag aus Heft »2016/02: 60 Jahre merz – 60 Jahre Medienpädagogik«
Autor: Jana Schröpfer
Beitrag als PDFEinzelansichtFranz Josef Röll: Stichwort BYOD
Vorbei ist die Zeit mit Busladungen voller Geräte, um ein Computerseminar durchzuführen. Das Codewort dieser Entwicklung lautet BYOD – Bring Your Own Device. Wenn private oder selbst ausgewählte mobile Endgeräte wie Laptops, Tablets oder Smartphones mit den Netzwerken von (Bildungs-)Institutionen, Bibliotheken oder Unternehmen integriert werden, wird dies mit BYOD bezeichnet. Mit den persönlichen Geräten kann auf Organisationsserver oder -daten zugegriffen werden, Daten können bearbeitet und gespeichert werden – unabhängig von Zeit, Ort und Gerätetyp. Für die Schulpädagogik scheint BYOD eine Möglichkeit, vorhandene gerätetechnische Engpässe zu umgehen. In der schulischen (Medien-)Pädagogik, wenn man den Ergebnissen einer aktuellen Studie der Deutschen Telekom Stiftung glauben kann, sagen 48 Prozent aller befragten Lehrkräfte, dass ihre Schülerinnen und Schüler eigene Geräte im Unterricht nutzen können (vgl. Otto 2015). Allerdings befürchtet noch ein Viertel, die Kontrolle über den Unterricht zu verlieren, wenn sie Computer einsetzen. Offensichtlich ist aber eine Suchbewegung nach der Integration und Verankerung mobiler Medien in den Bildungsprozess zu beobachten.Bildungseinrichtungen haben den Vorteil, dass sie keine hohen Investitionskosten für die technische Infrastruktur benötigen, da privat bereits verfügbare Geräte der Lernenden eingesetzt werden können.
Der Anteil von internetfähigen Geräten im Unterricht oder in der Bildungsarbeit kann damit deutlich gesteigert werden. Es gibt allerdings im Alltag auch Hürden zu bewältigen. Meist bestimmen Organisationsrichtlinien die Regeln des Einsatzes und der Verwendung der mobilen Geräte. Das kann dazu führen, dass Einstellungen auf den Geräten vorgenommen werden müssen, um Sicherheit zu gewährleisten (z. B. eingeschränkte Dienste, Festplattenverschlüsselung). Die Geräte müssen zudem mit Bezug auf die Privatsphäre geschützt werden. Nicht unproblematisch ist die Delegation der Verantwortung für die Auswahl von mobilen Geräten, die an die Eltern fällt. Dies kann die Chancengleichheit finanziell schlechter gestellter Familien verhindern. Wettbewerb und Gruppenzwang kann zu Spannungen führen.Bezogen auf den pädagogischen Kontext lassen sich aber auch Vorteile feststellen. Die Motivation für Lernen und Bildung wird gefördert, wenn Jugendliche mit den ihnen vertrauten Geräten und einer personalisierten Arbeitsumgebung arbeiten. Zudem stehen die Lernmaterialien permanent zur Verfügung und besitzen umfangreiche Tool-Boxen: Hilfswerkzeuge und Tools wie der iRig-Mikrofonverstärker in Verbindung mit einer webbasierten Videoschnittsoftware eröffnen viele flexible Möglichkeiten im Bildungsbereich. Sozialrecherchen können über Google Maps oder andere Tools in Echtzeit zu einer Sozialraumkarte verdichtet werden.
Dies eröffnet ganz neue Möglichkeiten der mobilen Jugendarbeit (Streetwork). Neue didaktische Nutzungsmöglichkeiten ergeben sich durch die Möglichkeit, dass an den begonnenen Produkten zu Hause weiter gearbeitet werden kann. Räumlichkeit und Zeitmanagement bilden kein Hindernis mehr für die Medienpädagogik. Allerdings gibt es auch Wermutstropfen. Immer wieder kommt es zu Kompatibilitätsproblemen, nicht alle Apps sind auf allen Geräten verfügbar. Einige geeignete Apps sind kostenpflichtig. Die Smartphones der Jugendlichen arbeiten mit unterschiedlichen Betriebssystemen. Bei Apps dominieren vorgegebene Betriebspfade, so ist eine eigenständige kreative Bearbeitung eingeschränkt. Die Komplexität und damit der Betriebsaufwand steigen. Zudem können technische Probleme den pädagogischen Nutzen be- oder verhindern und zu mehr Verwirrung führen.Wegen der hohen Vertrautheit, der Leichtigkeit im Umgang und weil es spätestens seit Montessori zum pädagogischen Selbstverständnis gehören sollte, die Jugendlichen da abzuholen, wo sie sind, ist es sinnvoll, BYOD in der (Medien-)Pädagogik einzusetzen. Aber nicht vergessen werden sollte, dass nicht die neuen technischen Medien die Lernchancen eröffnen, sondern die jeweils eingesetzten pädagogischen Konzepte. Durch die Nutzung mobiler Medien war es jedoch noch nie so einfach, das selbstgesteuerte Lernen zu fördern.
Das Stichwort finden Sie in einer ausführlicheren Version unter www.merz-zeitschrift.de/blog
Beitrag aus Heft »2016/02: 60 Jahre merz – 60 Jahre Medienpädagogik«
Autor: Franz Josef Röll
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Bernd Schorb und Helga Theunert: 60 Jahre merz. Eine Konstante in der Medienpädagogik
Bescheiden, aber mit amtlichem Anstrich kam die heutige merz in ihren Anfängen daher: Mitteilungen des Arbeitskreises Jugend und Film war das Faltblatt betitelt. 1957 wurde daraus Jugend und Film. Vierteljahreszeitschrift des wissenschaftlichen Instituts für Jugendfilmfragen und über eine Reihe von Titelvariationen (siehe Zeitstrahl) 1976 im Haupttitel die heutige merz | medien + erziehung.
Über 60 Jahrgänge hinweg hat merz bereits die Medienpädagogik im deutschsprachigen Raum gespiegelt und sich mit ihren Schwerpunkten weiterentwickelt bzw. zum Teil diese Schwer¬punkte mit entwickelt. Unabhängig von kommerziellen Interessen, getragen primär vom En¬gagement des JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis und seit 1976 unterstützt von den beiden Verlagen Leske + Budrich und kopaed, behauptet sie sich auf dem medienpädagogischen Feld und bietet ein Forum für Theorie, Forschung und Praxis der Medienpädagogik. Problemlos verlief die Geschichte von merz nicht immer. Vor allem die ab Mitte der 1970er-Jahre stärker vertretene kritische Auseinandersetzung mit den Mediensystemen, dem Bildungswesen und den Sozialisationsinstanzen im Kontext aktueller gesellschaftlicher Gegebenheiten und das Insistieren auf den Subjektstatus aller Mediennutzender provozierte auch Gegenwind. Doch merz bot Raum für Streitkultur und initiierte ab 1976 regelmäßig Diskussionen über medienpädagogische Positionen.
Wie gelang es über so lange Zeit einen Leserstamm zu binden und stetig auszubauen? Auf einer ersten Ebene haben wir uns einer Antwort schon über die Entwicklung der Betitelung von merz genähert: Zunächst auf Film konzent-riert, dann auf Fernsehen ausgedehnt wurde ab 1976 der beständigen Erweiterung des Medienensembles Rechnung getragen und der Titel abstrakter und zugleich treffender gefasst: die Begriffe ‚Medien‘ und ‚Erziehung‘ sind offen für Entwicklungen auf Seiten der Medien ebenso wie auf Seiten der Subjekte sowie der Erziehungs- und Bildungssysteme. Der Haupttitel merz | medien + erziehung trägt seither. Printausgabe und Onlineauftritt sind seit 2003 mit dem Untertitel Zeitschrift für Medienpädagogik konsequent verortet. merz thematisiert das gesamte Medienspektrum, animiert zur Auseinandersetzung über medienpädagogische Praxismodelle, zur theoretischen Reflexion und seit 2003 als merzWissenschaft in einer eigenen Ausgabe einmal jährlich explizit zur wissenschaftlichen Fundierung medienpädagogischen Handelns.
Der Anspruch von merz, medienpädagogisches Handeln zu vermitteln und zu begleiten, realisiert sich darin, medienpädagogische Strömungen und Positionen aufzugreifen, sie kritisch zu befragen und zu bewerten sowie sie im gesellschaftlichen Kontext und vor dem Hintergrund lebensweltlicher Orientierungen der Zielgruppen medienpädagogischen Handelns sowie sozialwissenschaftlicher und pädagogischer Paradigma einzuordnen. Nun hat natürlich jede Redaktion ihre Vorlieben und setzt ihre Schwerpunkte. Damit die Breite medienpädagogischer Perspektiven gewährleistet bleibt, aber auch, damit sich nicht unreflektierter Zeitgeist Bahn bricht, gibt es seit 1999 einen Beirat aus dem deutschsprachigen Raum, der merz begleitet und ein breites Themenspektrum ebenso sichert wie eine Vielfalt von Autorinnen und Autoren, die nicht nur medienpädagogisch ausgewiesen sind, sondern interdisziplinäre Perspektiven einbringen.
Die Strömungen, die in den vergangenen 60 Jahren in der Medienpädagogik aufgegriffen wurden, wollen wir betrachten, nicht chronologisch (siehe dazu Hans-Dieter Kübler und Dagmar Hoffmann in dieser Ausgabe), sondern anhand aussagekräftiger Beispiele für die vergangenen 60 Jahre und anhand eigener Erinnerungen aus vier Jahrzehnten medienpädagogischer Arbeit, auch an und mit merz.
Vor dem Schlechten der Medien schützen
Für den Philosophen Anton Neuhäusler stand 1959 außer Frage,
"daß die spezielle Umwelt ‚Gewaltfilm‘ zur Gewaltliebe disponiert. Sie dient also nicht nur der ins Fiktive gebannten Abreaktion einer für allemal gegebene Roheit, sondern sie stiftet diese erst eigentlich. Sie formt den Zuschauer nach sich. Sie verroht ihn tat¬sächlich. Sie macht ihn schlecht oder schlechter, als er schon ist. Denn der Mensch ist nicht ein für allemal so oder so, er kann nun einmal verbessert oder verdorben werden. [...] Das ist gerade der Teufelskreis: Roheit im Gemüt verlangt nach Roheit im Spiel. Roheit im Spiel steigert Roheit im Gemüt. Deshalb muß es immer härter, immer ausgekochter werden. Und irgendwann, je nach der Labilität des Menschen – und sie ist am größten beim Jugendlichen, erst recht beim Jugendlichen über 16 – bricht diese gezüchtete Roheit aus, kann nicht mehr im sublimen Nacherleben bleiben. Das Nacherlebnis wird zum Vorerlebnis, zum Beispiel, zur akuten Anregung. Man kann die grobe Formel aufstellen: Gewaltfilme regen nicht nur von realen Gewalttaten ab, sie regen auch zu realen Gewalttaten an. [...] Die Gewalttätigkeiten vieler Jugendlicher von heute sind sicher zum Teil [...] auf die Selbstverständlichkeit zurückzuführen, mit der Gewalt, Tötung in sich überschlagendem Maß, in der Wucherung reinen Selbstzwecks, täglich auf der Lein¬wand praktiziert werden" (Neuhäusler 1959, S. 13 f.).
Bei der Lektüre früher merz-Ausgaben kann einem schon bang werden, vor allem im Hinblick auf die heranwachsende Generation, die sich für mediale Vergnügungen schon immer besonders begeisterte. Die Medienpädagogik der 1950er- und 1960er-Jahre rekurrierte wie Neuhäusler vorzugsweise auf Annahmen der monokausalen Wirkungsforschung, die Medienangebote primär als Stimulans für Abstumpfung und Verrohung und weitergehend als Vorbild für die Nachahmung von als problematisch bewertetem Verhalten postulierte. Gewalt und Sexualität standen dabei im Fokus und die Konsequenz lautete Verbot oder zumindest Schutz der Kinder und Jugendlichen vor diesem ‚Schmutz und Schund‘. Die Bewahrpädagogik beherrschte die Medienpädagogik lange Zeit: Im Kino gerieten insbesondere amerikanische Western in die Kritik. So wusste Werner Glogauer 1957 von männlichen Jugendlichen zu berichten,
"daß sie nach dem Film mitunter in größeren oder kleineren Gruppen meist planlos umherlaufen, zusammengehalten von der gleichen Gefühlsgestimmtheit, gleichen Vorstellungen, gleichem Ausdrucksbedürfnis usw. Von solchen spontanen Gruppenbildungen [...] vermag die Wirkung des Films zur Begründung strukturierter jugendlicher Bandengruppen führen" (Glogauer 1957, S. 5).
Glogauer hat solche Positionen unbeirrt bis zur Jahrtausendwende propagiert. Doch insgesamt setzten sich in der Medienpädagogik Differenzierungen durch. So stellen Helga Theunert und Fred Wimmer 1978 fest:
"Die Gewaltwirkungsforschung kann nur dann aus der Sackgasse herausfinden, wenn sie den gesellschaftlichen Bedingungsrahmen von Gewalt erkennt und an diesem ansetzt. Dies gilt auch für die Entwicklung pädagogischer Konsequenzen, die [...] vor allem an den alltäglichen Erfahrungen von Kindern und Jugendlichen mit Gewalt auszurichten sind" (Theunert/Wimmer 1978, S. 250).
Verschwunden sind die monokausalen Wirkungsapologetinnen und -apologeten jedoch bis heute nicht. Kaum machen neue Medienentwicklungen von sich reden, tauchen sie wieder auf und befürchten Schlimmes primär für Kinder und Jugendliche. So richtete sich die Besorgtheit nach dem Kino auf das sich schnell verbreitende Fernsehen und dort beispielsweise auf Zeichentrickserien wie Tom & Jerry. In den 1980er- Jahren sorgten die unsäglichen Metzeleien auf Videokassetten für Entsetzen, dann begannen gewalthaltige und kriegerische Computerspiele zu beunruhigen. Heute evozieren Internetangebote mit Hass und Rassismus, mit Sexismus und Pornografie oder mit der schamlosen Ausbeutung der Nutzenden eine neue Qualität von Sorgen. Doch heute kommen die simplen Wirkungsbehauptungen weniger aus der Medienpädagogik. Vor allem mit Rückgriff auf die Hirnforschung, die einige ihrer Apologetinnen und Apologeten gern als Welterklärungsinstanz sehen, werden sie – verbunden mit nachgerade schwarzer Pädagogik – beispielsweise von Manfred Spitzer in die Welt gesetzt. merz bietet für solchen Populismus bewusst keinen Raum, wohl aber initiiert sie den seriösen Diskurs über die Sorgen, die Medien in der Familie, in Erziehungs- und Bildungsinstitutionen und in der Gesellschaft bereiten.
Zweifellos bot und bietet die Medienwelt Zumutungen (siehe Roland Bader in dieser Ausgabe). Gerade mit Blick auf Kinder und Jugendliche ist Schutz entsprechend eine unverzichtbare pädagogische Handlungsstrategie. Allerdings kann diese Strategie nur greifen, wenn die Mediennutzenden als aktiver Part einbezogen werden. Jeder Mensch ist von klein auf Gestalterin bzw. Gestalter seines Lebens, auch seines Lebens mit Medien. Was er in den Medien wahrnimmt, wovon er sich anrühren und anregen lässt – das entscheidet sich zum geringeren Teil auf der Seite der Medien. Ausschlaggebend sind die Wechselprozesse zwischen der Aneignung der Medien und den eigenen Lebensvollzügen, die die Subjekte vor dem Hintergrund ihrer Alltagserfahrungen und ihrer Weltsicht mit Eigensinn gestalten.
Solche Positionen stellt merz verstärkt seit Ende der 1970er-Jahre in Theorie, Wissenschaft und Praxis zur Diskussion. Angesichts von Vernetzung und Globalisierung medialer Angebote und angesichts von individualisierter Nutzung und medialer Eigenproduktion muss Medienpädagogik heute dazu befähigen, die Zumutungen der Medienwelt zu meiden, und sie muss gegen sie öffentlich Partei ergreifen. Mit diesen Vorzeichen ist ‚Schutz vor dem Schlechten in den Medien‘ ein notwendiger Teil medienpädagogischen Handelns. Das beständig zu thematisieren ist gerade heute, wo die Selbstschutzfähigkeiten gern bemüht werden, um mediale Entwicklungen im ökonomischen Interesse ungebremst voranzutreiben, auch Auftrag der medienpädagogischen Zeitschrift merz.
Mit Medien belehren
Martin Keilhacker postulierte in den 1960er- Jahren, "daß die gegenwärtige und künftige Industriegesellschaft eine neue, eigene Schul- und Bildungskonzeption aus dem Wesen und den Bedürfnissen der Industriegesellschaft heraus braucht, eine Bildungskonzeption, die jeden Menschen, und zwar das ganze Leben hindurch, in die pädagogischen Überlegungen einbezieht. Wie die schon jetzt vorliegenden Beispiele zeigen, und erst recht für die weitere Entwicklung erwarten lassen, werden sich bei diesem künftigen Schul- und Bildungswesen die Grenzen zwischen Schule und freiem Bildungsraum, vor allem aufgrund der Entwicklung von Hörfunk und Fernsehen weitge-hend verwischen und Schul- und Bildungsfernsehen werden, im besonderen für die Bildung, Ausbildung und Weiterbildung im Erwachsenenalter, eine wichtige Rolle spielen, aber auch Schule und Schulunterricht im Kindes- und Jugendalter tiefgehend verändern" (Keilhacker 1967, S. 12).
Für die Pädagogik waren und sind die Medien ein Januskopf: Auf der einen Seite grinsen das Böse und das Schädliche und auf der anderen Seite schauen ernst das Gute und Belehrende. Gemeint sind die beiden historischen Pole der Medienpädagogik, die Medienerziehung und die Mediendidaktik. Während es das Ziel der Medienerziehung ist, Menschen vor den Gefahren der Massenmedien zu schützen und zu deren sinnvoller Nutzung zu erziehen, geht es der Mediendidaktik darum, Lernen mittels Medien zu optimieren und dafür eigens taugliche Medien zu produzieren. In diesem Sinne ist Mediendidaktik älter als die Medienpädagogik, denn Medien als Unterrichtsmittel wurden lange bevor es Massenmedien gab eingesetzt. Die Medienentwicklung wird von der Mediendidaktik insofern wahrgenommen, als die Adaption neuer technischer Medien eine verbesserte Nutzung zu Lehr- und Lernzwecken erlaubt. Die Medienerziehung ist hingegen auf die Medienentwicklung in der Weise eingegangen, als sie den weitgehend passiven Prozess der Erziehung zum Umgang mit Medien in einen aktiven des sozial gestaltenden Handelns mit Medien erweitert hat. Diese Erweiterung, Lehren, Lernen und Handeln mit den Medien als ein Ganzes zu verstehen und nicht künstlich in unterhaltende Massenmedien und belehrende Unterrichtsmedien zu trennen wurde der Mediendidaktik auch in merz immer wieder angetragen, bis heute allerdings ohne großen Erfolg.
Eine an der Effektivierung des Lernens orientierte Mediendidaktik verwendet, parallel zur Weiterentwicklung der Technik, zweckorientiert Medien als Vermittler, Strukturierer, Beschleuniger, Verbesserer und zunehmend auch als Organisator von Lehr- und Lernprozessen. Im Zentrum steht hier also nicht das Verhältnis der Subjekte zu den Medien, sondern die Funktion der Medien. In der Konsequenz rechnet sich die Mediendidaktik häufig auch nicht zur Medienpädagogik, hat eigene Berufsgesellschaften und Veröffentlichungsorgane. Auch die Exponentinnen und Exponenten, die sich der Medienpädagogik zuwenden, haben den schulischen Verwertungszusammenhang im Blick, wie etwa Gabi Reinmann (2008), wenn sie in ihrem Plädoyer für den Einbezug des Web 2.0 argumentiert:
"Nicht nur aus mediendidaktischen Gründen, sondern auch weil sich die Gesellschaft und das Informations-und Kommunikationsverhalten der nachwachsenden Generation ändern, wächst der Druck auf die Schu¬len, sich der Web 2.0-Herausforderungen zu stellen" (Reinmann 2008, S. 16).
Genau umgekehrt argumentiert die medien¬ädagogische Position: Die Mediatisierung des Lebens und die Tatsache, dass wir heute auch in medialen Räumen leben, erfordere es, dass sich die Mediendidaktik an der Wirklichkeit der Medienwelt ausrichtet, sich keine eigenen, meist auch noch unattraktiven funktionalen Lernwelten schafft, sondern didaktische Modelle des kritischen und reflektierten Lebens in der Medienwelt entwickelt, also das Postulat, dass wir für das Leben lernen, ernst nimmt. Die von Franz Dröge schon 1976 bemängelte "charakteristische und von der Sache her unsinnige Gegenstandstrennung in Mediendidaktik und Medienerziehung" (Dröge 1976, S. 90) aufzuheben bleibt eine vordringliche Aufgabe zukunftsorientierter Medienpädagogik. Für merz folgt daraus, dass sie nicht nur dem Bereich Lehren und Lernen mit Medien regelmäßig Raum geben muss, sondern dass sie auch Dis¬kussionen anzetteln sollte, die die Zersplitterung der Gegenstandsbereiche einer ganzheitlichen Medienpädagogik problematisieren.
Die Medienwelt durchdringen
"Die Medien lassen sich in explizit ökonomischen Kategorien als Produktivkräfte beschreiben [...], deren Wirkungsfeld primär das Bewußtsein der Rezipienten ist. Deshalb ist die Charakterisierung der Medien als ‚Bewußtseins-Industrie‘ oder ‚Ideologie-Fabriken‘ verständlich. Die Medien vermitteln nicht nur bestimmte Inhalte, sondern prägen auch die Wahrnehmungsstruktur der Konsumenten. [...] Andererseits bestimmen diese geprägten Wahrnehmungsstrukturen die Auswahlmechanismen, die die verschiedenen Inhalte überhaupt erst zum Bewußtsein vordringen lassen" (Kazda et al. 1971, S. 74 f.). "Ein [...] kritisches Bewußtsein weiß darum, dass Medien nicht das einzige Mittel, sondern nur ein Mittel unter anderen sind, diese Gesellschaft zu verändern. Voraussetzung [...] ist wiederum, daß die ‚Theorie die Massen ergreift‘, daß sie sensibel werden für die Widersprüche des Systems und sie begreifen. [...] Die Methode der Ideologie¬kritik könnte zu einer pädagogischen Produktivkraft werden; zu einer Produktivkraft, die den Menschen, die sie produzieren, auch gehört" (ebd., S. 88).
Mit dem Rekurs auf Kritische Theorie und Marxismus in der Studentenbewegung vollzog sich auch in der Medienpädagogik ein weitreichender Perspektivenwechsel: Massenmedien werden nun begriffen als in die gesellschaftlichen Strukturen eingebunden, die sie ihrerseits mit stabilisieren, aber – da sie im historisch-gesellschaftlichen Prozess geschaffen wurden – in Inhalt und Struktur auch wieder verändert werden können. Nach diesem ab den 1970er- Jahren verbreiteten kritisch-reflexiven Ansatz sind Medien und Subjekte gleichermaßen in die Gesellschaft eingebunden. Wirkung wird Massenmedien entsprechend nur im Verbund mit anderen gesellschaftlichen Gegebenheiten zugestanden, die auch die Lebensvollzüge der Subjekte gestalten.
Im Blick sind zunächst die Inhalte, die die herrschenden Ideologien transportieren. Die Manipulation durch Massenmedien gilt als Stabilisierungsfaktor der Gesellschaft. Ideologiekritik wird als pädagogische Strategie der Aufklärung postuliert und zugleich als Grundlage für die Gestaltung von Inhalten, die die Bedürfnisse und Interessen der Mediennutzenden integrieren. Bernward Wember hat diese Strategie am Beispiel des Dokumentarfilms Bergarbeiter im Hochland von Bolivien ausgearbeitet und 1971 in merz präsentiert (vgl. Wember 1971, S. 90 ff.) und später an der Fernsehberichterstattung über den Nordirlandkonflikt auch filmisch eindrücklich demonstriert.
Eine marxistische Variante des kritisch-reflexiven Ansatzes betrachtet Massenmedien als kapitalistische Produktionsstätten des geistigen Verkehrs einer Gesellschaft, die eine Doppelfunktion haben: Sie halten einen großen Werbe- und Absatzmarkt bereit und legitimieren die herrschenden Verhältnisse. Veränderungen erfordern neben alternativen Inhalten eine Demokratisierung des Mediensektors – eine Argumentation, die beispielsweise Horst Holzer 1976 in merz vertrat (vgl. Holzer 1976, S. 157 f.).
Eine dritte Variante teilt die ideologisch-manipulative wie die kapitalistische Funktionszuschreibung der Massenmedien und postuliert, dass die Massenmedien dazu beitragen, dass die Menschen von ihren authentischen Erfahrungen abgetrennt werden. In ihren Konsequenzen stellt diese Variante die Subjekte in den Mittelpunkt. Sie sollen nicht nur befähigt werden, die Medien zu durchschauen und Bewusstsein über ihre Funktionen zu erlangen, sondern sie für sich selbst als Mittel der Artikulation in Dienst nehmen und so Öffentlichkeit verändern.
Kritik der Medieninhalte und Aufklärung über die Verfasstheit unserer Mediensysteme sind etablierte und unverzichtbare pädagogische Strategien der Medienpädagogik. Auch wenn sie nicht mehr im Sprachduktus der Kritischen Theorie und des Marxismus präsentiert werden und hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Veränderungskraft Ernüchterung eingetreten ist, gilt weiterhin: Medienpädagogik, die Medieninhalte und Mediensysteme in ihrer gesellschaftlichen Relevanz und in ihrer Bedeutung für die Subjekte klären will, braucht Maßstäbe für ein wünschenswertes Leben mit Medien im gesellschaftlichen Kontext und sie muss diese Maßstäbe im politischen Raum vertreten.
Das Feld für diesen Zugang hat sich mit der Digitalisierung der Medien und mit der Mediatisierung der Gesellschaft erheblich geweitet: So erfordert zum Beispiel die Konvergenz medialer Angebote nicht nur die Analyse eines Mediums, sondern auch die Analyse der dazugehörigen Anschlussmedien und Medienverbünde, die die Nutzenden in ein dicht gewebtes Netz medialer Botschaften einweben. Die kommunikativen und präsentativen Möglichkeiten der heutigen Medienwelt erfordern darüber hinaus die Analyse subjektiv gestalteter Kommunikate, wie sie beispielsweise über YouTube oder Facebook verbreitet und insbesondere von der jungen Generation intensiv goutiert und bestückt werden. Gerade diese Kommunikate veräußern Privatheit und geben persönliche Daten für das Dabeisein in den sozialen Netzwerken preis. Schließlich ist die Organisations- und Funktionsanalyse der heutigen Medienwelt weiter zu fassen als dies zu Zeiten der Massenmedien der Fall war. Die heutigen Medienkonzerne agieren nicht nur über mehrere Medien hinweg, sondern über den Mediensektor und über nationale Grenzen hinaus. Die Verflechtungen der damit verbundenen ökonomischen Machtstrukturen und ideologischen Interessen sind kaum noch zu durchschauen. Bernd Schorb verdeutlicht das aktuell am Beispiel YouTube:
"YouTube ist im Besitz der Firma Google und wird täglich von Milliarden Menschen genutzt. [...] Man kann bei YouTube einen Kanal abonnieren und sich für das Programm eines sogenannten YouTubersentscheiden. [...] Um hier erfolgreich zu sein werden die YouTuber vermarktet und angeleitet durch spezielle Produktionsfirmen, die wie einer der Marktführer Divimove zu FreeMantle Media gehört, einer Tochter der RTL Group und damit des Bertels¬mann Konzerns" (Schorb 2016).
Gerade das Bewusstsein über die Interessensverflechtungen auf dem Medienmarkt ist notwendig, damit die Subjekte Souveräne ihres Medienhandelns bleiben. Für diesen Kontext Reflexion und Diskussion anzustoßen markiert eine weitere Aufgabe einer medienpädagogischen Fachzeitschrift wie merz.
Mit und in der Medienwelt handeln
"Die Verwendung von technischen Medien hat in dem Maße Emanzipationssinn, wie Gegen-Bewegungen und Gegen-Öffentlichkeit lebendig existieren, die Medien sinnvoll verwenden und damit Fragmentierungstendenzen aufheben. [...] Deswegen spreche ich auch vom ‚Werkzeugcharakter‘ dieser technischen Medien. [...] Eine sinnvolle Nutzung hat anderen gesellschaftlichen Charakter; hier kann kommunikative Kompetenz sinnvoll eingebracht werden auf der Grundlage gesellschaftlich-kommunikativer Prozesse, die auf Verständigung dringen" (Negt in Mohn 1990, S. 265 f.).
1972 brachten Oskar Negt und Alexander Kluge die Begriffe ‚Gegenöffentlichkeit‘ und ‚authentische Erfahrung‘ in die Diskussion. Massenmediengelten auch ihnen als Herrschaftsinstrumente bürgerlicher Öffentlichkeit, während Gegenöffentlichkeit auf den authentischen Erfahrungen und Interessen der Subjekte basiert. Die Medien, vor allem die nunmehr verfügbare tragbare Videotechnik, sehen sie als taugliche Instrumente zur Artikulation authentischer Erfahrungen. Insbesondere Oskar Negt verbindet damit auch ein pädagogisches Konzept: "‚Authentische Erfahrung‘ würde bedeuten, daß die Menschen nicht abgetrennt werden von dem, was sie wirklich erfahren. [...] Es gilt die gesamten Lebensinteressen der Menschen in den pädagogischen Alltag zu integrieren und bearbeitungsfähig zu machen" (ebd., S. 262 f.).
In alternativen politischen Bewegungen, wie der Anti-Atomkraftbewegung, fiel diese Vorstellung auf fruchtbaren Boden. Eine Szene mit Bürgerfernsehen, Piratensendern und – im Zuge der Einführung der kommerziellen Fernsehsender – Mitte der 1980er-Jahre den Offenen Kanälen entwickelte sich. Aber die Förderung dieser Offenen Kanäle beispielsweise durch die Landesmedienanstalten wurde mittlerweile so weit zurückgefahren, dass viele dieser Einrichtungen verschwunden sind oder marginalisiert wurden. Verbunden mit diesen Entwicklungen vollzog sich ein bis heute grundlegender Paradigmenwechsel in der Medienpädagogik. Dieter Baacke skizzierte ihn 1981 in merz so:
"Nur eine offensive Medienpädagogik kann deutlich machen, daß es sich hier [...] um eine pädagogische Spezialität (handelt), die die Allgemeinheit unseres öffentlichen Lebens mit zu bedenken hat. Die stagnierende Kommunikations- insbesondere Wirkungsforschung ist neu zu überdenken und zu verändern: Von Einschaltquoten, statistischen Übersichten hin zu Bewußtseins-Analysen, zum Aufweis des Zusammenhangs von Massenmedien und Biographie, zur Konkretheit von Rezeption und Wirkung. [...] Medienpädagogik muss sich als handlungsorientiert verstehen. Sie muß mit die Stimme erheben für übersehene Gruppen: Kinder, Jugendliche, Ausländer, alte Menschen und ihnen Beteiligungsmöglichkeiten erkämpfen" (Baacke 1981, S. 200).
Das mit Medien in seinem Lebenszusammenhang sozial handelnde Subjekt stand nun im Mittelpunkt. Subjekt- und Handlungsorientierung wurden zu Leitlinien von Forschungen, Praxismodellen und Materialien. Medienkompetenz als Teil Kommunikativer Kompetenz, ebenfalls von Dieter Baacke in die Diskussion gebracht, war und ist bis heute Leitziel der Medienpädagogik.
"Video wurde in der Jugendarbeit zunächst begeistert aufgenommen, da man glaubte, ein leicht handhabbares Medium zu besitzen. Die Realität hat jedoch gezeigt, daß die Annahme trog. Viele Videoprojekte mit Jugendgruppen kommen über das Anfangsstadium nicht hinaus, da sowohl technisches als auch inhaltliches Know-how fehlen" (Anfang 1984, S. 358). Um Abhilfe zu schaffen und Medienkompetenz realisieren zu können wurden Medieninitiativen und Medienzentren gegründet. Sie erprobten Modelle, die Heranwachsenden und ihren pädagogischen Bezugspersonen Medien als Artikula¬tionsmittel nahe brachten, sie beim Produzieren von Videofilmen oder Radiobeiträgen begleite-ten und ihnen Technik sowie Räume zur Veröffentlichung zur Verfügung stellten. Im Kontext solcher medienpädagogischer Anregungen und Unterstützungsleistungen, die vorrangig im Rahmen außerschulischer Jugendarbeit stattfanden, wurde die bis heute in der Medienpädagogik zentrale Methode der ‚aktiven Medienarbeit‘ entwickelt und für unterschiedliche Praxiszusammenhänge konturiert (siehe Fred Schell in dieser Ausgabe). merz bietet seither ausgiebig Raum für Praxisprojekte, die Menschen in unterschiedlichen Lebensphasen und Lebenslagen dazu ermutigen, die jeweils verfügbaren medialen Techniken aktiv in Gebrauch zu nehmen, um sich zu artikulieren und ihren Perspektiven auf alltägliche und gesellschaftliche Gegebenheiten Öffentlichkeit zu verschaffen.
"Medienpädagogik [muss sich] um die Intensivierung einer qualitativen Forschung des sozialen Bedingungsfeldes von Medienrezeption und Medienwirkung bemühen. Nicht Akzeptanzanalysen sind notwendig, sondern die Erforschung [...] der Lebensgestaltungsfunktion der Medien. [...] Pädagogische Strategien im Konnex von Medien und Alltagsbewußtsein zu entwickeln, scheint mir ein Aufgabengebiet zu sein, das für eine qualitative Schwerpunktsetzung der Medienpädagogik intensiv bearbeitet werden sollte!" (Schorb 1981, S. 228)
In der medienpädagogischen Forschung enttanden mit Beginn der 1980er-Jahre eine ganze Reihe qualitativer Untersuchungen zur Medienaneignung von Kindern und Jugendlichen. Kennzeichnend für das Gros war – über theoretische Differenzen hinweg – die Erforschung der Medienaneignung in den sozialen Lebenszusammenhängen und die Verwendung von Methoden, die alltagsübliche Artikulation ermöglichten und so die Perspektiven der Untersuchten auf die Medienangebote in authentischen Äußerungen zu Tage förderten. Themen wie der Umgang von Kindern und Jugendlichen mit Gewaltdarstellungen, die Rezeption von Zeichentrick- und Fernsehserien, die Bedeutung von Fernsehinformation oder der Fernsehalltag in Familien wurden unter diesen Vorzeichen bearbeitet. Neben Untersuchungen aus dem JFF fanden hier beispielsweise Studien von Ben Bachmair, Michael Charlton oder Stefan Aufen¬anger Eingang in merz.
Die damit verbundene Konturierung der Medienpädagogik als eigenständige wissenschaftliche Disziplin mündete schließlich in die Gründung von merzWissenschaft. Hier wurde und wird der medienpädagogischen Forschung und Theorie explizit Raum gegeben.
Handlungs- und subjektorientiertes Erforschen der Medienaneignung und aktives Arbeiten mit Medien sind bis heute grundlegend für die Medienpädagogik. Im Zuge der Medienentwicklung haben sich das Spektrum der Forschungsfragen, der zu untersuchenden Populationen und die Zielgruppen medienpädagogischen Handelns er-heblich erweitert. Kinder und Jugendliche sind nur noch eine Zielgruppe, weitere Alterssegmente wie ältere Menschen werden heute von der medienpädagogischen Forschung und Praxis ebenso in den Blick genommen wie unterschiedliche Herkunftsmilieus oder soziale Gruppen. Die Forschungsfragen umfassen das Spektrum des Medienensembles, wobei aktuell die digitale Medienwelt und ihre Auswirkungen auf die Subjekte und ihre Lebensvollzüge Vorrang haben, werfen sie doch viele und teilweise neuartige Fragen auf, deren wissenschaftliche und praktische Bearbeitung erhebliche Herausforderungen ethischer und methodologischer Natur beinhaltet. merz hat die Paradigmenwechsel nicht nur begleitet, indem sie qualitativen Studien und emanzipatorischen Praxismodellen Raum gegeben und damit für ihre Verbreitung gesorgt hat. Sie hat vor allem an wichtigen Einschnitten breit angelegte Diskussionen über grundlegende (medien-)pädagogische Fragen initiiert. Den Anfang machte 1976 die Diskussion unter dem Titel: ‚Medienpädagogik‘ – was ist das? Thesen zu einer umstrittenen Disziplin (merz 1/1976 bis 3/1976). Es folgten: Neue Medien und die Pädagogik (merz 2/1981 bis merz 4/1981), Hat die Medienpädagogik eine Chance, die neuen Medien in den Griff zu bekommen? (merz 6/1984, merz 1/1985) und Multimedia und Pädagogik (merz 4/1996). Mit solchen Diskussionen wird die Impulsfunktion einer Fachzeitschrift wie merz wirksam eingelöst, denn Positionen werden nicht nur dargestellt, sondern miteinander in Beziehung gesetzt.
merz in der Zukunft
"Zentrale Aufgabe von Erziehung und Bildung war und ist es, für das Leben unter zukünftigen Bedingungen zu befähigen und die Menschen zugleich in den Stand zu setzen, inhumanen, irrführenden, ausbeuterischen und verdummenden Zumutungen zu widerstehen" (Theunert 1996, S. 26).
Die Orientierung an diesem Kern der Humboldt‘schen Bildungsidee, der traditionelles Selbstverständnis der Pädagogik und Medienpädagogik ist, forderte Helga Theunert im Kontext der Debatte um die Vernetzung der Medienwelt und die damit verbundenen Herausforderungen für die Medienpädagogik.
"Es geht darum, herauszufinden, was die Menschen mit diesem Netz machen bzw. was sie damit machen könnten. Es geht darum zu eruieren, welche Kompetenzen sie brauchen, um mit diesem Netz Sinnvolles zu tun" (ebd.).
Das Medienspektrum hat sich mittlerweile er¬weitert und verändert (siehe Ulrike Wagner und Kathrin Demmler in dieser Ausgabe), einerseits durch die Vernetzungsstrategien, die über den Medienmarkt und über nationale Grenzen hinausreichen, und andererseits durch die Subjekte, die sich der Medien kommunikativ und produktiv bedienen und sich in vernetzten Räumen vergemeinschaften. Öffentlichkeit ist heute mehr denn je Medienöffentlichkeit, aber das ist nicht – wie historisch erhofft – unbedingt mit Emanzipation verbunden, sondern gerade mit der Gefahr, demokratische Errungenschaften wie informationelle Selbstbestimmung aufzugeben. Erweitert und verändert haben sich auch die Zielgruppen medienpädagogischen Handelns. Im Umgang mit dem undurchschaubaren Mediennetz, das sich längst über unsere privaten, sozialen und gesellschaftlichen Lebensbereiche gelegt hat, braucht nicht nur die heranwachsende Generation Begleitung. Eltern und Erziehende, aber auch Erwachsene in allen Lebensphasen benötigen sie genauso, um die Medienwelt im Griff zu behalten und in der mediatisierten Gesellschaft Teilhabe und Souveränität realisieren zu können. Schließlich hat sich das Themenfeld, mit dem Medienpädagogik sich befassen muss, ausgeweitet, mehr und mehr auch hin zu Themen von gesamtgesellschaftlicher Relevanz wie etwa Datenschutz. Diese Themen zu beforschen und zum Nutzen der Subjekte in pädagogischen Prozessen bearbeitungsfähig zu machen und ihnen in Öffentlichkeit und Politik Gehör zu verschaffen, markiert eine Aufgabe, die die Medienpädagogik nicht allein bewältigen kann und will. Sie muss sich dazu in eine Allianz kritischer Human- und Sozialwissenschaften einbinden, der es darum getan ist, die Entwicklung der Medienwelt nicht dem Kalkül ökonomischer und ideologischer Interessen zu überlassen, sondern auf der Mitgestaltung der Subjekte zu beharren und die Mediatisierung der Gesellschaft in den Dienst konsequenter Demokratisierung zu stellen. Eine Fachzeitschrift wie merz kann hierbei Impulsfunktion übernehmen, sie muss aber auch den Finger in die Wunden legen, auf Versäumnisse in Theorie, Forschung und Praxis der Medienpädagogik hinweisen oder zur Prüfung und Reflexion fragwürdiger Positionen auffordern. Abgesehen davon, dass merz weiterhin ein Forum für den Diskurs über medienpädagogische Theorie, Forschung und Praxis sein muss, hängen die künftigen Aufgaben mit den Herausforderungen der skizzierten Entwicklung zusammen und erstrecken sich in unserer Sicht auf folgende Punkte:- Im Zuge der Mediatisierung der Gesellschaft steht für die Medienpädagogik mehr denn je die Frage im Mittelpunkt, wie sich Menschen in den verschiedenen Lebensphasen und in unterschiedlichen sozialen Lebensverhältnissen die Medienwelt aneignen, welchen Gewinn sie daraus für ihr Denken und Handeln ziehen können und welche gesellschaftliche Bedeu¬tung diese Medienaneignungsprozesse haben, seien dies Problemlagen oder Potenziale. Will merz Forum medienpädagogischer Reflexion sein, ist sie gefordert, diesen Zusammenhang von Medien, Subjekt und Gesellschaft kontinuierlich im Themenhorizont zu halten, dazu zu ermutigen, medienpädagogisches Handeln daran auszurichten und das Leugnen dieses Zusammenhangs zurückzuweisen. Damit kann sie dazu beitragen, Medienpädagogik im öffentlichen Raum zu positionieren und ihr im Kanon der ideologischen und ökonomischen Interessen der Mediendebatte Gewicht und Stimme zu sichern.
- Da die Medienwelt immer stärker mit gesamtgesellschaftlichen Herausforderungen, Problemlagen und Potenzialen verquickt ist, muss Medienpädagogik zentraler Bestandteil einer ganzheitlichen Bildungsvorstellung sein, die darauf zielt, den Menschen im Gesamt seiner Lebensvollzüge, auch in denen, die mit Medien verwoben sind, Handlungskompetenz und Souveränität zu sichern. Weder eine nur problem-, noch eine nur funktionsorientierte oder eine nur euphorische Sicht taugen als Grundlage. Vielmehr ist die Medienwelt als ein Zusammenhang zu sehen, in dem die Menschen beeinflusst werden und selbst Einfluss nehmen. Die Abspaltung des didaktischen Einsatzes von Medien in den offiziellen Bildungsinstitutionen vom Umgang mit der Medienwelt in Alltagszusammenhängen ist vor diesem Hintergrund endgültig obsolet, ja kontraproduktiv. Die Medien sind heute mehr denn je Mittler und Mittel zugleich und sie sind das in ein- und demselben Kontext. Die mit der Separierung pädagogischer Verwendungszusammenhänge verbundenen Fehlentwicklungen müssen in merz thematisiert und im Licht der aktuellen Medienentwicklung reflektiert werden. Insbesondere ist merz gefordert, pädagogische Ansätze, Modelle und Materialien zu entdecken und solchen Unterfangen Öffentlichkeit zu verschaffen, die medienpädagogisches Handeln im Kontext ganzheitlicher Bildung umsetzen. Dadurch kann merz zur Breitenwirkung einer die Medienpädagogik einschließenden ganzheitlichen Bildung beitragen.
- Grundlage jeder medienpädagogischen Praxis ist Forschung, die auf einem humanitären Menschenbild gründet und davon ausgehend untersucht, in welcher Weise sich die Men¬schen Medien aneignen, welchen Einfluss dabei die Medien in ihrer gesellschaftlichen Verfasstheit, die Sozialisationsinstanzen und personale Bedingungen wie Herkunft, Alter, Geschlecht et cetera und nicht zuletzt Politik und Ökonomie im globalen Kontext haben. Kurz: Forschung, die mit qualitativen Verfahren das Gesamt der Lebenszusammenhänge der Subjekte durchdringt und die Bedeutung der Medien darin klärt. Angesichts der Ausuferung medienbasierter Einflüsse und Tätigkeiten in die Lebensverhältnisse und Lebensvollzüge der Menschen muss medienpädagogische Forschung besonderes Augenmerk auf die Möglichkeiten richten, die die Subjekte selbst suchen bzw. finden, um sich gegenüber der Macht der Medien zu behaupten bzw. diese in demokratischer Weise zu beeinflussen. Pädagogisch ausgerichtete Medienforschung ist nicht akzeptanz- und verwertungsorientiert: sie strebt eine kritische Begleitung des Ist- Zustands an, mit dem Ziel dessen stetiger Verbesserung für die Subjekte, sie ist in ihren Fragestellungen und ihren Methoden qualitativer Forschung verpflichtet und sie liefert relevante Ergebnisse für diejenigen, die in (medien-) pädagogischen Zusammenhängen agieren und diejenigen, die in und mit Medien verantwortlich handeln wollen. In einem Fachforum, wie merz es gerade auch in der jährlichen Wissenschaftsausgabe bietet, ist dieser Anspruch medienpädagogischer Forschung regelmäßig zu thematisieren und durch den Diskurs über theoretische Ansätze und empirische Studien weiter zu entwickeln.
- Die Medienwelt wird nicht stagnieren, die technische Entwicklung und Vernetzung wird fortschreiten und weitere Bereiche unseres Lebens werden von Medien, besser von digitalen Gestaltungs- und Kommunikationstech-niken tangiert, durchdrungen und gesteuert werden. Medien werden immer weniger singulär betrachtet und bearbeitet werden können und sie werden sich immer weniger aus dem Gesamt gesellschaftlicher Gegebenheiten und Lebensvollzüge isolieren lassen. Die Entwicklung der Medien, die Mediatisierung der Gesellschaft und das Medienhandeln der Subjekte wirken in enger Verzahnung auf die gesellschaftliche Kommunikation und auf gesellschaftliche Wandlungsprozesse. Die Medienpädagogik hat es schon seit gerau¬mer Zeit mit gesamtgesellschaftlichen Themen zu tun, die den pädagogischen Raum überschreiten. Sie tut gut daran, sich ihrer Grenzen hinsichtlich der Bearbeitung dieser Themen bewusst zu werden, sie öffentlich zu artikulieren und offensiv die Etablierung interdisziplinärer Verbünde einzufordern. Der Schulterschluss mit human- und sozialwis-senschaftlichen Disziplinen und zusätzlich die Vernetzung der Bildungsorte können sichern, dass die Mediatisierungsprozesse in der Gesellschaft die Subjekte nicht überrollen, sondern von ihnen als Souveräne mitgestaltet werden. merz kann den Sinn solch interdisziplinärer Zusammenschlüsse zur Bearbeitung ge-samtgesellschaftlicher Themen, Probleme und Potenziale, die mit Medien in Zusammenhang stehen, in den Horizont heben und sie kann unter Beteiligung einschlägiger Disziplinen initiieren, die Weiterentwicklung der Medien im gesellschaftlichen und sozialen Zusammenhang konstruktiv und vorausschauend zu bearbeiten.
Literatur
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Autor: Bernd Schorb, Helga Theunert
Beitrag als PDFEinzelansichtHans-Dieter Kübler: Konjunkturen medienpädagogischer Paradigmen
‚Medienpädagogik‘ ist nicht nur ein schillernder Sammelbegriff, son¬dern auch eine (Teil-)Disziplin, die in verschiedenen Wissenschaftsbe¬reichen beheimatet ist und ihre Theoreme primär von diesen entleiht. Ihre Theoriegeschichte lässt sich daher am besten anhand historisch-populärer Paradigmen rekonstruieren. Von praktischer Medienerzie¬hung über Mediendidaktik hin zu modernen, intentionalen Konzepten der Medienkompetenz und Medienbildung – ihre Geschichte ist geprägt von gesellschaftliche Entwicklungen, medientechnischen Innovationen und zahlreichen Begriffsbezeichnungen, die es zu reflektieren gilt.
Literatur:
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Beitrag aus Heft »2016/02: 60 Jahre merz – 60 Jahre Medienpädagogik«
Autor: Hans-Dieter Kübler
Beitrag als PDFEinzelansichtRoland Bader: Sorgenpüppchen
Medienpädagogik begleitet die Reaktionen der Gesellschaft auf Medien(-entwicklungen) und widmet sich der Bearbeitung gesellschaftlicher Sorgen. Sie vervielfachten sich besonders mit dem Aufkommen ‚Neuer Medien‘ in den 1980er-Jahren: Computerspiele, Privatfernsehen, Homevideo. Die potenziellen Risiken unkontrollierbarer Medientechnologien, eine intensive Gewaltdiskussion in den 1990er-Jahren, eine optimistische Kompetenzdiskussion und schließlich die Angst vor der Spaltung der Gesellschaft und die Abhängigkeit sind die Themen, in denen die Medienpädagogik gesellschaftliche Diskurse aufgriff, die (nicht nur) mit Medienentwicklungen in Verbindung standen und stehen.
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Beitrag aus Heft »2016/02: 60 Jahre merz – 60 Jahre Medienpädagogik«
Autor: Roland Bader
Beitrag als PDFEinzelansichtUlrike Wagner und Kathrin Demmler: Von der Irritation zum Handeln
Medienpädagogik als Fachdisziplin muss mit kontinuierlichen Veränderungen und Umbrüchen umgehen, allen voran mit medientechnischen Entwicklungen. Nicht selten werden diese von Irritationen begleitet, die Impulse für medienpädagogische Forschung und Praxis liefern können. Vor allem die Digitalisierung bringt Irritationen mit sich und stellt Handlungsanforderungen an die Medienpädagogik. Aktuelle Irritationen kommen darüber hinaus aus dem Inneren der Disziplin, beispielsweise im Rahmen diffuser Begriffsdiskussionen oder Kompetenzstreitigkeiten.
Literatur:
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Charlton, Michael/Neumann, Klaus (1986). Medienkonsum und Lebensbewältigung in der Familie. Methode und Ergebnisse der strukturanalytischen Rezeptionsforschung, mit 5 Falldarstellungen. München/Weinheim: Psychologie-Verlags-Union.
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Geulen, Dieter (2005). Subjektorientierte Sozialisationstheorie. Sozialisation als Epigenese des Subjekts in In¬teraktion mit der gesellschaftlichen Umwelt. Weinheim/ München: Juventa.
Hüther, Jürgen/Podehl, Bernd (2005). Geschichte der Me¬dienpädagogik. In: Hüther, Jürgen/Schorb, Bernd (Hrsg.), Grundbegriffe Medienpädagogik. 4. vollständig neu konzipierte Aufl. München: kopaed, S. 116–127.
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Beitrag aus Heft »2016/02: 60 Jahre merz – 60 Jahre Medienpädagogik«
Autor: Kathrin Demmler, Ulrike Wagner
Beitrag als PDFEinzelansichtDagmar Hoffmann: Im Spiegel des Zeitgeistes und jenseits von Medienhypes
Medienpädagogische Ansätze entwickeln sich nicht losgelöst vom Wandel der Medien und Medienumbrüchen, auf die sie mit angemessenen Methoden und Praxiskonzepten reagieren müssen. Die Digitalisierung, Medienkonvergenz sowie mobile und multimodale Nutzungsweisen stellen bewährte Programme der Medienpädagogik auf den Prüfstand und fragen nach deren Leistungsfähigkeit. Die Zielvorstellungen der Medienpädagogik können sich heute weniger an Gebrauchsweisen und einzelnen Medienangeboten ausrichten. Es gilt, vor allem die Leitgedanken von Kompetenz, Partizipation und Mündigkeit in Anbetracht neuer Formen von Öffentlichkeiten neu zu justieren.
Literatur:
Aufenanger, Stefan (2000). Medien-Visionen und die Zukunft der Medienpädagogik. In: medien praktisch, 24 (93), S. 4–8.
Baacke, Dieter (1973). Kommunikation und Kompetenz. Grundlegung einer Didaktik der Kommunikation und ihrer Medien. München: Juventa.
Carstensen, Tanja/Schachtner, Christina/Schelhowe, Heidi/Beer, Raphael (2014). Subjektkonstruktionen im Kontext Digitaler Medien. In: Carstensen, Tanja/Schachtner, Christina/Schelhowe, Heidi/Beer, Raphael (Hrsg.), Digitale Subjekte. Praktiken der Subjektivierung im Medienumbruch der Gegenwart. Bielefeld: transcript, S. 9–27.
Hoffmann, Bernward (2003). Medienpädagogik. Eine Einführung in Theorie und Praxis. Paderborn: Ferdinand Schöningh.
Hoffmann, Dagmar (2016). Good Citizens. Eine akteursorientierte Perspektive auf die Bedingungen und Wirklichkeiten politischer Teilhabe. In: Pöttinger, Ida/Kalwar, Tanja/Fries, Rüdiger (Hrsg.), Doing Politics. Politisch agieren in der digitalen Gesellschaft. Schriften zur Medienpä¬dagogik. München: kopaed, S. 39–50.
Hugger, Kai-Uwe (2001). Medienpädagogik als Profession. Perspektiven für ein neues Selbstverständnis. München: kopaed.
Hugger, Kai-Uwe (2008). Professionalisierung der Medienpädagogik. In: Sander, Uwe/von Gross, Friederike/Hugger, Kai-Uwe (Hrsg.), Handbuch Medienpädagogik. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 559–563.
Richard, Birgit/Grünwald, Jan/Recht, Marcus/Metz, Nina (2010). Flickernde Jugend – Rauschende Bilder. Netzkul¬turen im Web 2.0. Frankfurt am Main/New York: Campus.
Röll, Franz Josef (2006). Methoden der Medienpädagogik. In: Lauffer, Jürgen/Röllecke, Renate (Hrsg.), Methoden und Konzepte medienpädagogischer Projekte. Dieter Baacke Preis Handbuch 1. Bielefeld: Gesellschaft für Medienpädagogik und Kommunikationskultur in der Bundesrepublik, S. 10–28.
Sander, Uwe/von Gross, Friederike/Hugger, Kai-Uwe (Hrsg.) (2008). Handbuch Medienpädagogik. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Schachtner, Christina/Duller, Nicole (2014). Kommunikationsort Internet. Digitale Praktiken und Subjektwerdung. In: Carstensen, Tanja/Schachtner, Christina/Schelhowe, Heidi/Beer, Raphael (Hrsg.), Digitale Subjekte. Praktiken der Subjektivierung im Medienumbruch der Gegenwart. Bielefeld: transcript, S. 81–154.
Schmidt, Jan-Hinrik/Paus-Hasebrink, Ingrid/Hasebrink, Uwe (Hrsg.) (2009). Heranwachsen mit dem Social Web. Zur Rolle von Web 2.0-Angeboten im Alltag von Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Berlin: Vistas.
Schorb, Bernd (1995). Medienalltag und Handeln. Medienpädagogik in Geschichte, Forschung und Praxis. Opladen: Leske + Budrich.
Süss, Daniel/Lampert, Claudia/Wijnen, Christine W. (2013). Medienpädagogik. Ein Studienbuch zur Einführung. 2. überarb. u. erw. Aufl. Wiesbaden: Springer VS.
Tulodziecki, Gerhard (1997). Medien in Erziehung und Bildung. Grundlagen und Beispiele einer handlungs- und entwicklungsorientierten Medienpädagogik. 3. überarb. u. erw. Aufl. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
Beitrag aus Heft »2016/02: 60 Jahre merz – 60 Jahre Medienpädagogik«
Autor: Dagmar Hoffmann
Beitrag als PDFEinzelansichtFred Schell: Handlungskonzepte
Medien dienten bis Ende des 19. Jahrhunderts im Rahmen der Unterweisung ausschließlich als Anschauungsmittel. Gegenstand des Unterrichts im Sinne von Reflexion und Auseinandersetzung waren sie nicht. Eine erste pädagogische Befassung mit Medien, die wir aus heutiger Sicht als Beginn medienpädagogischer Bemühungen bezeichnen können, setzte mit dem Aufkommen der Massenmedien, insbesondere des Films Anfang des 20. Jahrhunderts ein. Welche Konzepte die (Medien-)Pädagogik mit welchen Zielsetzungen und Vermittlungswegen seit dieser Zeit entwickelte und aktuell praktiziert, ist gebündelt und idealtypisch Gegenstand dieser Ausführungen.
Literatur:
Baacke, Dieter (1973). Kommunikation und Kompetenz. Grundlagen einer Didaktik der Kommunikation und ihrer Medien. München: Juventa.
Brecht, Bertold (1967). Radiotheorie 1927 bis 1932. In: Brecht, Bertold (Hrsg.), Gesammelte Werke. Band 18. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 117–134.
Dröge, Franz/Göbbel, Narciss/Loviscach, Lisa/Müller- Dohm, Stefan (1979). Der alltägliche Medienkonsum. Grundlagen einer erfahrungsbezogenen Medienerziehung. Frankfurt am Main: Campus Verlag.
Enzensberger, Hans M. (1970). Baukasten zu einer Theorie der Medien. In: Kursbuch, 5 (20), S. 159–186.
Hartung, Anja/Lauber, Achim/Reißmann, Wolfgang (Hrsg.) (2013). Das handelnde Subjekt und die Medienpädago¬gik. Festschrift für Bernd Schorb. München: kopaed.
Holzer, Horst (1974). Materielle Basis, politische Qualität und herrschaftliche Funktion der Fernsehkommunikation. In: Baacke, Dieter (Hrsg.), Kritische Medientheorien. Kon¬zepte und Kommentare. München: Juventa, S. 107–125.
Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W. (1947). Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Amsterdam: Querido.
Hülsewede, Manfred (1974). Gegenwärtige Positionen der Medienpädagogik. In: Diel, Alex (Hrsg.), Kritische Medienpraxis. Ziele-Methoden-Mittel. Köln: M. DuMont Schauberg, S. 12–24.
Hüther, Jürgen/Podehl, Bernd (2005). Geschichte der Medienpädagogik. In: Hüther, Jürgen/Schorb, Bernd (Hrsg.), Grundbegriffe Medienpädagogik. München: kopaed, S. 116-127.
Hüther, Jürgen/Schorb, Bernd (2005). Medienpädagogik. In: Hüther, Jürgen/Schorb, Bernd (Hrsg.), Grundbegriffe Medienpädagogik. 4. neu konzipierte Aufl. München: kopaed, S. 265-274.
Hüther, Jürgen/Schorb, Bernd (Hrsg.) (2005). Grundbegriffe Medienpädagogik. 4. neu konzipierte Aufl. München: kopaed.
Keilhacker, Martin (1968). Der Mensch von heute in der Welt der Informationen. In: Jugend Film Fernsehen, 12 (3), S. 131–146.
Kerstiens, Ludwig (1961). Filmerziehung. Eine Einführung in die Filmpädagogik. Münster: Aschendorff Verlag.
Knilli, Friedrich (Hrsg.) (1971). Die Unterhaltung der deutschen Fernsehfamilie. Ideologiekritische Kurzanaly¬sen von Serien. München: Carl Hanser Verlag.
Lukács, Georg (1920). Alte Kultur und neue Kultur. In: Kommunismus: Zeitschrift der kommunistischen Internationale für die Länder Südosteuropas, 1 (43), S. 1538- 1549.
Mollenhauer, Klaus (1977). Erziehung und Emanzipation. Polemische Skizzen. München: Juventa.
Negt, Oskar/Kluge, Alexander (1973). Öffentlichkeit und Erfahrung. Zur Organisationsanalyse von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Niesyto, Horst (1991). Erfahrungsproduktion mit Medien.Selbstbilder, Darstellungsformen, Gruppenprozesse. München: Juventa.
Peters, Otto (1976). Was leistet das Konzept der Unterrichtstechnologie. Eine notwendige Begriffs- und Aufgabenbestimmung. In: Issing, Ludwig J./Knigge-Illner, Helga(Hrsg.), Unterrichtstechnologie und Mediendidaktik. Grundfragen und Perspektiven. Weinheim/Basel: Beltz, S. 39–61.
Picht, Georg (1964). Die deutsche Bildungskatastrophe. Olten/Freiburg: Walter.
Prokop, Dieter (1974). Massenkultur und Spontaneität. Zur veränderten Warenform der Massenkommunikation im Spätkapitalismus. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
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Röll, Franz J. (2013). Medienpädagogik als Wahrnehmungsbildung. In: Hartung, Anja/Lauber, Achim/ Reißmann, Wolfgang (Hrsg.), Das handelnde Subjekt und die Medienpädagogik. Festschrift für Bernd Schorb. München: kopaed, S. 295–302.
Schell Fred (2003). Aktive Medienarbeit mit Jugendlichen. Theorie und Praxis. München: kopaed.
Schell, Fred/Demmler, Kathrin (2013). Aktive Medienarbeit. Theoretische Einordnung, Ziele, Lernprinzipien und Lernbereiche. In: Hartung, Anja/Lauber, Achim/ Reißmann, Wolfgang (Hrsg.), Das handelnde Subjekt und die Medienpädagogik. Festschrift für Bernd Schorb. München: kopaed, S. 243–250.
Schell, Fred/Stolzenburg, Elke/Theunert, Helga (Hrsg.) (1999). Medienkompetenz. Grundlagen und pädagogi¬sches Handeln. München: kopaed.
Schiefele, Hans (1974). Lernmotivation und Motivlernen. Grundzüge einer erziehungswissenschaftlichen Motivationslehre. München: Ehrenwirth. Schorb, Bernd (1995). Medienalltag und Handeln. Medienpädagogik in Geschichte, Forschung und Praxis. Opladen: Leske + Budrich.
Spanhel, Dieter (2013). Medienerziehung. In: Hartung, Anja/Lauber, Achim/Reißmann, Wolfgang (Hrsg.), Das handelnde Subjekt und die Medienpädagogik. Festschrift für Bernd Schorb. München: kopaed, S. 267–274.
Stückrath, Fritz (1953). Der Film als Erziehungsmacht. Hamburg: Verlag der Gesellschaft der Freunde des vaterländischen Schul- u. Erziehungswesens.
Wasem, Erich (1957). Jugend und Filmerleben. Beiträge zur Psychologie und Pädagogik der Wirkung des Films auf Kinder und Jugendliche. München/Basel: Ernst Reinhard Verlag.
Wasem, Erich (1959). Presse, Rundfunk, Fernsehen, Reklame pädagogisch gesehen. München/Basel: Ernst Reinhard Verlag.
Witzke, Margit (2004). Identität, Selbstausdruck und Jugendkultur. Eigenproduzierte Videos Jugendlicher im Vergleich mit Selbstaussagen. München: kopaed.
Zacharias, Wolfgang (2001). Alles ist ästhetisch – irgendwie und sowieso. Plädoyer für die Bedeutung der ästhetischen Dimension der Medien. In: merz | medien + erziehung, 45 (3), S. 147–156.
Beitrag aus Heft »2016/02: 60 Jahre merz – 60 Jahre Medienpädagogik«
Autor: Fred Schell
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spektrum
Andreas Breiter: Medienpädagogische Forschung und die Datifizierung
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Interdisziplinärer Diskurs
Medien vor 60 Jahren – Medien heute. Da ist vieles gleich geblieben und doch irgendwie alles ganz anders. Wir sind vernetzt, online und mobil, Medien sind immer und überall – und aus keinem Lebensbereich und keiner (humanwissenschaftlichen) Disziplin wegzudenken. merz, seit 60 Jahren Forum der Medienpädagogik, nimmt ihren Geburtstag zum Anlass, um dies im interdisziplinären Horizont zu erörtern. Wir fragten Kolleginnen und Kollegen verschiedenster Disziplinen: Was macht den Mehrwert medienpädagogischer Forschung und Praxis in der zunehmend mediatisierten Gesellschaft aus?
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Auch wenn der Begriff Big Data unscharf ist und von Befürwortenden wie Gegnerinnen und Gegnern gleichermaßen zur Panikmache oder als Revolutionsankündigung genutzt wird, lässt sich parallel zu einer fortschreitenden Digitalisierung von Medien, der dadurch möglichen permanenten Konnektivität und ubiquitären Erreichbarkeit auch die Auswertung großer Datenmengen als gesellschaftlicher Trend identifizieren. Dabei geht es nicht nur um strukturierte und gezielt gesammelte Daten, sondern zunehmend um Datenspuren (digital traces), die Menschen bewusst oder unbewusst hinterlassen und aus denen neue Verhaltens- und Bewertungsmuster mit Hilfe komplexer Algorithmen rekonstruierbar werden. Die Datifizierung (datafication) umfasst dabei nicht nur die Algorithmen und Datenstrukturen und deren zugrundeliegenden Infrastrukturen, sondern beschreibt ein gesellschaftliches Phänomen der Entscheidungsfindung über die Auswertung großer Datenmengen und damit einen Prozess der sozialen Konstruktion von Wirklichkeit. Die Beispiele sind vielfältig: von den Empfehlungssystemen in Online-Shops über die Bewertung der Kreditwürdigkeit und der Geldanlage in Aktienfonds bis zur Schulwahl auf Basis komplexer Rankingsysteme und der automatischen Berechnung adaptiver Lernumgebungen (learning analytics).
Warum ist dies für die Medienpädagogik relevant?
Zum ersten, weil die Datifizierung aller Lebens- und Arbeitsbereiche – vom quantified self bis zu learning analytics – auch die Medienpädagogik vor große Herausforderungen stellt. Dies betrifft die Datafizierung als Forschungsgegenstand im Kontext sozial- und technikwissenschaftlicher Theorien, als auch die Potenziale der Analyse großer Datenmengen als methodischem Zugang im Sinne von smart data. Darüber hinaus wird der verantwortungsvolle Umgang mit Daten sich nicht mehr nur auf Datenschutzbestimmungen zurückführen lassen, sondern Datifizierung und pausenlose Bewertung und Auditierung mit Hilfe digitaler Medien wird Inhalt medienpädagogischer Praxis werden.Zum zweiten gilt: Was nicht messbar ist, ist nicht steuerbar und nicht zu managen – und wird damit als weniger relevant erachtet. Hier kann die medienpädagogische Forschung im Austausch mit der Bildungspraxis entscheidende Aspekte behandeln, um Fragen nach dem ‚Mehrwert‘ nicht ausschließlich den Messverfahren aus der Psychologie zu überlassen. Jegliche Formen von Technologien in Bildungskontexten müssen als Teil einer ökonomischen Eigenlogik gesehen werden, hinter der global agierende IT-Unternehmen ebenso stecken wie Content Provider, deren neues ‚Öl‘ die Daten der Nutzenden sind.Für die medienpädagogische Forschung eröffnen sich neue, spannende Themen, die aber nur gemeinsam mit anderen Disziplinen zu leisten sein werden. Die kritische Informatikforschung liefert zahlreiche Anknüpfungspunkte und hilft beim Verstehen der Algorithmen. Der medienpädagogische Data Scientist könnte zur Schnittstelle mit der Informatik werden und dabei eine Brücke zwischen Medienkompetenz und computational literacy aufbauen.
Dr. Andreas Breiter ist Professor für Angewandte Informatik an der Universität Bremen sowie wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Informationsmanagement Bremen GmbH. Seine Schwerpunkte sind unter anderem Medienkompetenz, Medienintegration, E-Learning, IT Governance sowie Wissensmanagementsysteme
Hans-Bernd Brosius: Die pädagogische Perspektive
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Interdisziplinärer Diskurs
Medien vor 60 Jahren – Medien heute. Da ist vieles gleich geblieben und doch irgendwie alles ganz anders. Wir sind vernetzt, online und mobil, Medien sind immer und überall – und aus keinem Lebensbereich und keiner (humanwissenschaftlichen) Disziplin wegzudenken. merz, seit 60 Jahren Forum der Medienpädagogik, nimmt ihren Geburtstag zum Anlass, um dies im interdisziplinären Horizont zu erörtern. Wir fragten Kolleginnen und Kollegen verschiedenster Disziplinen: Was macht den Mehrwert medienpädagogischer Forschung und Praxis in der zunehmend mediatisierten Gesellschaft aus?
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Wenn man Medien denkt, meint man zwangsläufig auch Kommunikation. Im Spannungsfeld von Medien und Kommunikation tummeln sich zahlreiche sozial- und geisteswissenschaftliche Disziplinen, jeweils mit ganz unterschiedlichen Vorstellungen dessen, was eigentlich Medien und Kommunikation sind bzw. was die Besonderheit des jeweiligen fachlichen Zugangs ausmacht. Damit wären Medien und Kommunikation ein Paradebeispiel für ein interdisziplinär zu bearbeitendes Forschungsfeld, in dem sicherlich auch die Medienpädagogik eine zentrale Rolle spielen kann. Die Betonung liegt auf ‚wäre‘!Wenn man die vergangenen merz-Ausgaben Revue passieren lässt, dann fällt eine ungemeine Breite von Themen auf, die auf eine vage Vorstellung des Medienbegriffs und dessen Grenzen schließen lässt. Das ist nicht untypisch für kommunikationswissenschaftliche oder medienwissenschaftliche Zeitschriften. Ob man ein Gerät, einen Inhalt, eine Institution oder ein gesellschaftliches Äquivalent für Öffentliche Meinung meint, ‚Medien‘ sind ein kümmerlicher gemeinsamer Nenner. Dadurch dass ‚Medien‘ in jeder pädagogischen, psychologischen, informatorischen, kommunikationswissenschaftlichen, geisteswissenschaftlichen Zeitschrift in jedweder Breite vorstellbar sind, machen sich alle Zeitschriften letztlich überflüssig, da kein erkennbarer Mehrwert einer einzelnen im Vergleich zu den anderen mehr erkennbar ist.Der Beitrag von merz für die ‚mediatisierte Gesellschaft‘ wird also genau darin bestehen, die pädagogische Perspektive im Blickfeld zu behalten und nicht ein Wirrwarr von Beiträgen anzubieten, die in der einen oder anderen Perspektive den einen oder anderen Blickwinkel auf die ‚Mediengesellschaft‘ – was immer das auch sein soll – werfen. Pointiert disziplinäre Facetten auf eine interdisziplinär amorphe Masse werden die Strahlkraft einer Zeitschrift stärken. Damit wünsche ich Erfolg und Ruhm!
Dr. Hans-Bernd Brosius ist Professor am Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung sowie Dekan der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München. Seine Schwerpunkte sind Mediennutzung, Medienwirkung und Methoden der empirischen Sozialforschung.
Beitrag aus Heft »2016/02: 60 Jahre merz – 60 Jahre Medienpädagogik«
Autor: Hans-Bernd Brosius
Beitrag als PDFEinzelansichtUlrich Deinet: Raumaneignung, Mobilität, Medien
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Interdisziplinärer Diskurs
Medien vor 60 Jahren – Medien heute. Da ist vieles gleich geblieben und doch irgendwie alles ganz anders. Wir sind vernetzt, online und mobil, Medien sind immer und überall – und aus keinem Lebensbereich und keiner (humanwissenschaftlichen) Disziplin wegzudenken. merz, seit 60 Jahren Forum der Medienpädagogik, nimmt ihren Geburtstag zum Anlass, um dies im interdisziplinären Horizont zu erörtern. Wir fragten Kolleginnen und Kollegen verschiedenster Disziplinen: Was macht den Mehrwert medienpädagogischer Forschung und Praxis in der zunehmend mediatisierten Gesellschaft aus?
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Jugendliche sind in der Lage, wichtige gesellschaftliche Orte wie die Schule, aber auch kommerzielle Bereiche wie Shopping-Malls und Fastfoodketten in ihrer Weise zu (be-)leben, das heißt neben deren offizieller Funktion als Bildungsinstitution bzw. Einkaufswelt, dort ihr jugendliches Leben zu entwickeln und sich eigene Räume zu schaffen. Dies gelingt durch Raumaneignung als „Spacing“ (Löw 2001), Umwidmung, Veränderung von Räumen und Situationen auch durch die Verknüpfung von gegenständlichen und virtuellen Räumen. ‚Räume‘ entstehen dann, wenn Jugendliche eine Möglichkeit finden, ihre Kulturen zu leben oder teilweise zur Geltung zu bringen. Solche Prozesse können als Aneignungsprozesse interpretiert werden, zum Beispiel als (sichtbare) körperliche Inszenierung (wie Skaten), fast immer verbunden mit einer medialen oft virtuellen Inszenierung.
Kinder und Jugendliche wachsen heute in einer verinselten Lebenswelt und in einer Mediengesellschaft mit veränderten Kommunikationsformen auf, wodurch sie nicht nur diskontinuierliche Raumvorstellungen entwickeln, sondern gleichzeitig auch die Fähigkeit erlernen, in unterschiedlichen Räumen gleichzeitig zu agieren.Für die skizzierten Raumaneignungsformen von Jugendlichen ist auch ihre Mobilität ein entscheidender Faktor. Nicht nur die Verknüpfung von Räumen, sondern die gesamte Bewegung von Jugendlichen zwischen und in unterschiedlichen Räumen (zum Teil zur gleichen Zeit) sind ohne Mobilität nicht denkbar. Claus Tully (2011) sieht einen direkten Zusammenhang zwischen dem modernen mobil sein mit effektiven Transportmitteln und der entsprechenden Kommunikationstechnik.
Die von ihm beschriebenen Trends in der Jugendmobilität versteht Tully einerseits als Zunahme des Unterwegs-Seins von Jugendlichen in sehr unterschiedlichen Verkehrsmitteln, insbesondere auch im öffentlichen Personennahverkehr, andererseits wird diese Mobilität durchzogen durch die modernen Medien und ihre Allgegenwärtigkeit und Nutzbarkeit, auch in den Transportmitteln.Vor diesem Hintergrund sind ein sozialraumorientiertes Aneignungskonzept (vgl. Deinet 2013) und eine medienpädagogische Forschung keine getrennten fachwissenschaftlichen Ansätze mehr, sondern zwei Forschungsrichtungen, die zwischen Gegenständlichkeit und Virtualität immer stärker aufeinander bezogen sein müssen. Genauso wie in der Praxis die Schnittmenge zwischen sozialraumorientierter Pädagogik und medienpädagogischer Arbeit immer größer wird!
Literatur:
Deinet, Ulrich (Hrsg.) (2009). Methodenbuch Sozialraum. Wiesbaden: VS Verlag fürSozialwissenschaften.
Deinet, Ulrich/Reutlinger, Christian (2014). Tätigkeit – Aneignung – Bildung. Positionierungen zwischen Virtualität und Gegenständlichkeit. Wiesbaden: Springer VS.
Löw, Martina (2001). Raumsoziologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Tully, Claus (2011). Mobilisierung des Mobilen. Trends in der Jugendmobilität. Anmerkungen zur Veränderung des Mobilitätsverhalten. In: Der Nahverkehr. Öffentlicher Personenverkehr in Stadt und Region, 29 (7–8), S. 12–15.
Tully, Claus/Alfaraz, Claudio (2010). Technikbasierte Raumbezüge im Jugendalltag. In: Deutsche Jugend, 58 (3), S. 122–129.
Dr. Ulrich Deinet ist Professor im Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften der Hochschule Düsseldorf und Leiter der Forschungsstelle für sozialraumorientierte Praxisforschung und Entwicklung. Seine Fachgebiete sind Didaktik und Methoden der Sozialarbeit/Sozialpädagogik.
Beitrag aus Heft »2016/02: 60 Jahre merz – 60 Jahre Medienpädagogik«
Autor: Ulrich Deinet
Beitrag als PDFEinzelansichtStephan Dreyer: Medienpädagogik und Medienrecht
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Interdisziplinärer Diskurs
Medien vor 60 Jahren – Medien heute. Da ist vieles gleich geblieben und doch irgendwie alles ganz anders. Wir sind vernetzt, online und mobil, Medien sind immer und überall – und aus keinem Lebensbereich und keiner (humanwissenschaftlichen) Disziplin wegzudenken. merz, seit 60 Jahren Forum der Medienpädagogik, nimmt ihren Geburtstag zum Anlass, um dies im interdisziplinären Horizont zu erörtern. Wir fragten Kolleginnen und Kollegen verschiedenster Disziplinen: Was macht den Mehrwert medienpädagogischer Forschung und Praxis in der zunehmend mediatisierten Gesellschaft aus?
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Die traditionelle Sicht auf das Verhältnis von Medienrecht und Medienpädagogik ist dichotom. Medienrecht bietet im besten Fall vollziehbare Normen für professionelle Regelungsadressatinnen und -adressaten, Medienpädagogik bereitet die vermeintlich uninformierten Rezipierenden auf den Umgang mit eben jenen Medien vor. Die Veränderungen der letzten Zeit aber führen zu einer notwendigen Neubestimmung dieses Verhältnisses. Wo Rezipierende zu ‚Produtzerinnen und Produtzern‘ werden und die Zahl und Vielfalt der Anbieter und Angebote sich vermillionenfacht, wird aus einer One-to-Many-Medienindustrie eine Many-to-Many-Gesellschaft. Das hat Konsequenzen für die medienpädagogisch-medienjuristische Beziehung.Klassischerweise bestehen bleibt nach wie vor die Erkenntnis, dass Recht ein (Teil-)Bezugssystem der Medienpädagogik ist. Neben sozialen Normen und den immer relevanter aufscheinenden Fragen nach der normativen Kraft von Softwarecode prägen medienrechtliche Vorgaben immer noch Teile des Vermittlungsinhalts der Medienpädagogik.Aus Regulierendensicht aber sind Betrachtungen neu, die in die entgegengesetzte Richtung gehen: Die medienpädagogische Praxis ist Spiegel und Gradmesser für die Praxistauglichkeit und Akzeptanz medienrechtlicher Vorgaben. Die medienpädagogischen Erfahrungen und Rückmeldungen bei der Vermittlung des – teils vormodernen – Ordnungsrahmens, die praktischen Hürden beim Einsatz mediendidaktischer Tools und der ungeschönte Blick auf die wirkliche Nutzungspraxis der Bevölkerung sind ein wichtiger Teil des regulatorischen Entscheidungswissens. Die ‚regulatory choice‘, die Medienregulierende treffen müssen, ist auf derartiges Praxiswissen angewiesen, wenn Medienregulierung alltagstauglich sein soll. Medienpädagogische Erkenntnisse bilden eine wichtige Grundlage für Medienregulierung!
Die skizzierten Veränderungen zeigen traditioneller Medienregulierung in vielen Bereichen ihre Grenzen auf. In der digitalen Gesellschaft sind Medienregulierung und Medienpädagogik zwangsweise verschränkt, sei es im Datenschutz (Datenschutznormen einerseits, Selbstdatenschutz als soziale Praxis und Kompetenz andererseits), im Jugendmedienschutz (Jugendmedienschutzvorgaben hier und Ermöglichung des Selbstschutzes und Copings mit ungeeigneten Inhalten da) oder im Urheberrecht (Urheberrechtsgesetze jenseits und der reflektierte Umgang mit eigenen und fremden Werken diesseits des Medienalltags). Dort, wo bisherige Regulierungsansätze ihre ‚Waffen‘ strecken müssen oder implizite Regelungsadressaten (Eltern!) nicht weiter belasten kann, bietet Medienpädagogik nicht nur – wie bisher – mögliche Präventionsmaßnahmen, sondern kann an sich einen alternativen Steuerungsansatz darstellen, der beobachtbare Regelungsdefizite klassischer Medienpolitik kompensieren kann. Medienpädagogik ist so ein wichtiger Teil der Mediengovernance. Medienregulierung braucht Medienpädagogik!Folge dieser Erkenntnis muss sein: Beide Bereiche, Medienrecht und Medienpädagogik, dürfen nicht mehr als Alternativen gegeneinander ausgespielt werden, sondern sie müssen als ineinandergreifende Komplexe begriffen und als solche (besser) genutzt werden. Dafür bedarf es eines systematischen Austauschs beider Perspektiven. Dass merz hier seit 60 Jahren Ansichten, Erkenntnisse und Ansätze vermitteln hilft, ist an Wichtigkeit nicht zu überschätzen. Moderne Medienregulierung bedankt sich!
Stephan Dreyer ist wissenschaftlicher Referent am Hans-Bredow-Institut für Medienforschung. Sein Forschungsinteresse gilt dem Recht der neuen Medien, insbesondere rechtlichen Fragestellungen im Schnittbereich von Jugendschutz, Datenschutz und Verbraucherschutz angesichts neuer Technologien.
Beitrag aus Heft »2016/02: 60 Jahre merz – 60 Jahre Medienpädagogik«
Autor: Stephan Dreyer
Beitrag als PDFEinzelansichtAnja Hartung-Griemberg: Medienpädagogik und Altersforschung
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Interdisziplinärer Diskurs
Medien vor 60 Jahren – Medien heute. Da ist vieles gleich geblieben und doch irgendwie alles ganz anders. Wir sind vernetzt, online und mobil, Medien sind immer und überall – und aus keinem Lebensbereich und keiner (humanwissenschaftlichen) Disziplin wegzudenken. merz, seit 60 Jahren Forum der Medienpädagogik, nimmt ihren Geburtstag zum Anlass, um dies im interdisziplinären Horizont zu erörtern. Wir fragten Kolleginnen und Kollegen verschiedenster Disziplinen: Was macht den Mehrwert medienpädagogischer Forschung und Praxis in der zunehmend mediatisierten Gesellschaft aus?
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Im Selbstideal der wachstumsorientierten Gegenwartsgesellschaft ist die Idee einer potenten Mediengesellschaft fest verankert. Medien, insbesondere Informations- und Kommunikationstechnologien haben einen großen Anteil an Wertschöpfung, Wirtschaftswachstum und internationaler Wettbewerbsfähigkeit und versinnbildlichen damit zugleich das Ideal des Fortschritts durch permanente Innovation. Anschaulich wird dies an den umfangreichen Bestrebungen, die Bevölkerung an die jeweils neuen medialen Entwicklungen anzupassen. Das Alter wird dabei überwiegend als besorgniserregender Zustand zum Thema, der geprägt ist von einem Verlust an Medienkompetenz. Ausgehend von der Behauptung eines kohortenspezifischen Nutzungsdefizits werden Produkte und Dienstleistungen offeriert, die Ältere im Umgang mit Computer und Internet qualifizieren sollen. Getragen wird diese Sicht häufig von einem normativen Anspruch, ohne dass dieser in seiner Bedeutung reflektiert in Bezug zur Lebenswelt und den höchst unterschiedlichen Bedürfnislagen Älterer gesetzt wird. Im Vordergrund steht die Frage: Was leistet das Alter für eine Gesellschaft, die eine hochdynamische Mediengesellschaft ist. Selten wird danach gefragt, was Medien für das Alter(n) und das Alter für eine humane Entwicklung unserer Medienkultur bedeuten können. In der medienpädagogischen Forschung und Praxis wurde der Konnex ‚Medien und Alter(n)’ bislang noch ausgesprochen temporär, disparat und undifferenziert in den Blick genommen. Während sich im Umfeld der Kinder- und Jugendmedienforschung eine vielschichtige Forschungslandschaft entwickeln konnte, die eine elaborierte Grundlagen- und Spezialliteratur hervorgebracht hat, findet sich kaum Vergleichbares für das höhere Lebensalter.
Eine solche pädagogisch grundierte Forschung aber ist nicht zuletzt deshalb notwendig, weil unsere mediatisierte Lebenswirklichkeit nicht nur als Problem für das Alter zu denken ist, sondern diese gleichsam Potenziale für neue Lebensformen, neue (medienvermittelte) Partizipationsformen, aber auch für Lern- und Bildungsprozesse birgt. Wenn wir davon ausgehen, dass Alter(n)swirklichkeiten von Medien beeinflusst und durch Altersbilder konstituiert sind, so ist es von großer Bedeutung, inwieweit ältere Menschen von ihrem Standpunkt aus medial präsent sind und damit ein medienvermitteltes Gespräch und ein Verständnis ihrer Situation in öffentlicher Auseinandersetzung um Alter(n) ermöglicht werden. In der Medienpädagogik hat dieser Gedanke im Ansatz der ‚aktiven Medienarbeit‘ eine lange Tradition. Medienpraxisprojekte können Möglichkeitsräume für die Auseinandersetzung mit dem Alter, mit antizipierten gesellschaftlichen Erwartungen, aber auch mit altersbezogenen Ängsten und Herausforderungen eröffnen. Das ist vor allem deshalb relevant, weil das Alter zunehmend auch eine Lebensphase der Erkundung neuer Möglichkeiten und Lebensweisen als auch der Entstehung von Alter(n)ssubkulturen darstellt. Dazu bedarf es aber einer Forschung und Praxis, die nicht auf Anschluss defizitärer Medienakteurinnen und -akteure fokussiert, sondern Ältere als erfahrene und wertvolle Subjekte ernst nimmt und deren kritisches Bewusstsein hinsichtlich verschiedener Medien in Projekten konstruktiv aufgegriffen werden kann. Beides vermag medienpädagogisches Handeln zu leisten.
Prof. Dr. Anja Hartung-Griemberg leitet die Abteilung Kultur-und Medienbildung der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg sowie das Institut für Medien und gesellschaftlicher Wandel Leipzig. Ihre Schwerpunkte sind Medienhandeln älterer Menschen und mediatisierte Rahmenbedingungen des Alter(n)s in zeitgenössischen Gesellschaften.
Beitrag aus Heft »2016/02: 60 Jahre merz – 60 Jahre Medienpädagogik«
Autor: Anja Hartung-Griemberg
Beitrag als PDFEinzelansichtHeinz Hengst: Forschung heute
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Interdisziplinärer Diskurs
Medien vor 60 Jahren – Medien heute. Da ist vieles gleich geblieben und doch irgendwie alles ganz anders. Wir sind vernetzt, online und mobil, Medien sind immer und überall – und aus keinem Lebensbereich und keiner (humanwissenschaftlichen) Disziplin wegzudenken. merz, seit 60 Jahren Forum der Medienpädagogik, nimmt ihren Geburtstag zum Anlass, um dies im interdisziplinären Horizont zu erörtern. Wir fragten Kolleginnen und Kollegen verschiedenster Disziplinen: Was macht den Mehrwert medienpädagogischer Forschung und Praxis in der zunehmend mediatisierten Gesellschaft aus?
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Wenn Medien – wie das heute der Fall ist – nahezu überall sind, dann können sie nicht überall eine Hauptrolle spielen. Andererseits führt die Omnipräsenz dazu, dass dort Medieneinflüsse registriert werden, wo das primäre Interesse ganz anderen Phänomenen gilt. Die Konsequenzen sind unter anderem an Veränderungen der wissenschaftlichen Arbeitsteilung ablesbar. Und sie betreffen die Praxisrelevanz und Zuständigkeit von Forschungsansätzen und -ergebnissen.Schaut man in die sozial- und kulturwissenschaftlichen Arbeiten der letzten Jahrzehnte, dann stößt man auf widersprüchliche Interpretationen gegenwärtigen kulturellen Wandels. Zum einen wird die zunehmende Bedeutung des Medial-Virtuellen betont. Zum anderen gibt es viele Hinweise auf die wachsende Bedeutung des Materiellen. Wenn beide Diagnosen – die einer zunehmenden Bedeutung des Materiellen und die der Entmaterialisierung – zutreffend sind, dann ist eine Neuorientierung des Nachdenkens über gegenwartstypische kulturelle Praktiken und Erfahrungen angebracht. In diesem Statement gilt die Aufmerksamkeit emergenten Phänomenen. Es ist nicht als Absage an Ansätze und Praktiken zu verstehen, die stärker auf die digitale und analoge Medienwelt fixiert sind, sondern als diskutables Komplement.Sinnvoll erscheint mir eine Perspektive im Sinne einer erweiterten Konvergenzthese.
Diese betont, dass in gegenwartstypischen kulturellen Praktiken nicht nur Beschäftigungen mit alten und neuen Medien, sondern darüber hinaus auch (ganz unterschiedliche) mediale und nicht-mediale Aktivitäten kollidieren, koexistieren und konvergieren. Ansatzpunkte für die Konkretisierung einer solchen Perspektive findet man nicht zuletzt in neueren soziologischen Arbeiten zu Veränderungen in den zeitgenössischen Objektwelten. Konstatiert wird dort unter anderem eine Artefaktexplosion. Man spricht darüber hinaus nicht mehr nur von Intersubjektivität, sondern auch von Interobjektivität. Es ist die Rede von postsozialen Beziehungen, also davon, dass die zeitgenössischen Konsumformen zwischenmenschliche Qualitäten in die Welt der Dinge tragen. Diese Sicht wird – etwa von Karin Knorr Cetina – mit einer neuen Lesart von Sozialisationsprozessen verknüpft. Außerdem werden Zweifel an der binären Opposition von Produktion und Rezeption angemeldet. Produkte, so die These von Scott Lash und Celia Lury, zirkulieren nicht mehr als identische, bereits fertige Objekte. Sie vermehren und verändern sich vielmehr im Gebrauch, durch Zufälle ebenso wie durch Planung, auf globaler Ebene wie in Alltagskontexten, zirkulieren in Serien, Netzwerken und Verbundsystemen. Materielle Dinge werden mediatisiert (mediation of things) und Medienangebote verdinglicht (thingification of media).
Auf der Subjektseite werden ständige Wechsel zwischen unterschiedlichen Produzenten- und Rezipientenpraktiken zur Normalität.Als Konzept, mit dem sich diese Zusammenhänge analysieren lassen, bieten sich Theorien kultureller Praktiken an. Sie sollten allerdings so konzipiert sein, dass Untersuchungen im Mikrobereich mit signifikanten Entwicklungen auf der Makroebene in Verbindung stehen. Praxeologische Ansätze zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass sie (Alltags-)Praktiken zu Schlüsseleinheiten der Analysen erklären. Sie sind offen für Flüchtiges und Konstantes, für neue Konfigurationen von Interessen, Aktivitäten, Akteurinnen und Akteuren, Materialien, Medien und Kontexten. Theorien sozialer Praktiken werden zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht nur in den Sozial- und Kulturwissenschaften – national und international – intensiv diskutiert. Auch in der englischsprachigen Kinder- und Jugendmedienforschung ist inzwischen von kulturellen Praktiken als Analyseeinheiten die Rede. Es handelt sich dabei um Projekte mit praktisch-pädagogischer Zielrichtung.
Dr. Heinz Hengst ist Professor für Sozial- und Kulturwissenschaften im Ruhestand. Seine Schwerpunkte sind zeitgenössische Kindheit sowie Kinderkultur und Generationenverhältnis unter besonderer Berücksichtigung der Medien, des Konsums und des internationalen Vergleichs.
Beitrag aus Heft »2016/02: 60 Jahre merz – 60 Jahre Medienpädagogik«
Autor: Heinz Hengst
Beitrag als PDFEinzelansichtFriedrich Krotz: Forschung und Praxis heute
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Interdisziplinärer Diskurs
Medien vor 60 Jahren – Medien heute. Da ist vieles gleich geblieben und doch irgendwie alles ganz anders. Wir sind vernetzt, online und mobil, Medien sind immer und überall – und aus keinem Lebensbereich und keiner (humanwissenschaftlichen) Disziplin wegzudenken. merz, seit 60 Jahren Forum der Medienpädagogik, nimmt ihren Geburtstag zum Anlass, um dies im interdisziplinären Horizont zu erörtern. Wir fragten Kolleginnen und Kollegen verschiedenster Disziplinen: Was macht den Mehrwert medienpädagogischer Forschung und Praxis in der zunehmend mediatisierten Gesellschaft aus?
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Medienpädagogische Forschung und Praxis (MF&P) muss, wenn sie ihre Zielgruppe erreichen will, vor allem aktuell sein und bleiben. Dies ist vor dem Hintergrund der oft zu beobachtende Gemächlichkeit und Traditionsorientierung anderer Disziplinen oder Institutionen ihr erstes wichtiges Charakteristikum. MF&P muss deswegen als ein sich immer weiter entwickelnder Prozess der Analyse und des Verständnisses sich entwickelnder und aufkommender neuer Medien in der Perspektive der jugendlichen Nutzenden verstanden und betrieben werden. Sie ist dadurch gleichzeitig Seismograph für die mit dem Medien- und Kommunikationswandel verbundenen tiefgreifenden Veränderungen – die zu untersuchen und zu ordnen auch Anliegen der Mediatisierungsforschung ist. Denn MF&P lässt sich so immer neu auf neue Kohorten und Generationen ein, für die die Medienumgebung, die sie entdecken, erproben und weiter gestalten, quasi natürlich vorgegeben ist. MF&P hat also ihr Ohr am Puls der Entwicklung – weit mehr, als die meisten anderen wissenschaftlichen oder praktischen Zugänge.
Ein zweites Charakteristikum von MF&P liegt in ihrer zivilgesellschaftlichen Orientierung, die den Wissenschaften an der Universität im Zeitalter einer ökonomisch und staatlich ausgerichteten Restrukturierung immer mehr abhanden kommt. Zumindest von ihrem Anspruch her fühlt sich MF&P weder primär den Medieninstitutionen, den ökonomischen Zielen und staatlichen Anpassungen, den Algorithmikern und Auftraggebenden verpflichtet noch den Internetgiganten wie Facebook, Amazon oder Google oder der die Entwicklung vorantreibenden Wirtschaft, Industrie und Technik. Sondern den Kindern und Jugendlichen und ihrer Zukunft.An ihrem dritten Charakteristikum muss die MF&P noch etwas arbeiten. Nämlich an einer kontinuierlichen und lauten Teilhabe an den öffentlichen Diskussionen über weitere Entwicklungspfade der Mediatisierung. Immer noch werden Entscheidungen etwa über Netzneutralität oder nicht zwischen Staat und Ökonomie ausgehandelt, die Zivilgesellschaft wird dabei erfolgreich übersehen.
Immer noch weigern sich die Schulen und andere jugendbezogene Einrichtungen sowie die dafür verantwortlichen Institutionen überwiegend, der Medienpädagogik einen angemessenen Platz einzuräumen und ihr die notwendigen Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Immer noch wird MF&P darauf verkürzt, dass sie eine enge Medienkompetenz zu untersuchen und zu vermitteln habe, obwohl sie mittlerweile eine Pädagogik für das Aufwachsen in mediatisierten Welten geworden ist: Sie will und kann ein mediensouveränes Handeln vermitteln, mittels dessen sich Kinder und Jugendliche ein selbstbestimmtes Leben in einer demokratischen Gesellschaft erarbeiten können. Sie wird auch angesichts ihrer Ziele und ihres Engagements dafür gebraucht, zusammen mit sozialen Basisbewegungen, mit den diffamierten Hackerinnen und Hackern oder auch einer Kommunikationsguerilla gegen die Machtstukturen anzugehen, die das Internet auf Überwachung und Konsum beschränken wollen.
Dr. Friedrich Krotz ist Professor für Kommunikations- und Medienwissenschaft mit dem Schwerpunkt soziale Kommunikation und Mediatisierungsforschung an der Universität Bremen. Er ist Koordinator des DFG-Schwerpunktprogramms 1505 „Mediatisierte Welten“.
Beitrag aus Heft »2016/02: 60 Jahre merz – 60 Jahre Medienpädagogik«
Autor: Friedrich Krotz
Beitrag als PDFEinzelansichtThomas Krüger: Medienbildung und Politische Bildung
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Interdisziplinärer Diskurs
Medien vor 60 Jahren – Medien heute. Da ist vieles gleich geblieben und doch irgendwie alles ganz anders. Wir sind vernetzt, online und mobil, Medien sind immer und überall – und aus keinem Lebensbereich und keiner (humanwissenschaftlichen) Disziplin wegzudenken. merz, seit 60 Jahren Forum der Medienpädagogik, nimmt ihren Geburtstag zum Anlass, um dies im interdisziplinären Horizont zu erörtern. Wir fragten Kolleginnen und Kollegen verschiedenster Disziplinen: Was macht den Mehrwert medienpädagogischer Forschung und Praxis in der zunehmend mediatisierten Gesellschaft aus?
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Wer vor der Etablierung des Internets medienpädagogische Themen wie Datenschutz oder Urheberrecht vermitteln wollte, hatte es schwer, ein Problembewusstsein hierfür zu wecken. Der Ausbau der Informations- und Kommunikationstechnologie brachte einerseits Vorteile wie besseren Zugang zu Informationen und neue Formen der gesellschaftlichen Teilhabe. Andererseits entstanden angesichts der wirtschaftlichen und politischen Bedeutung der Medienwelt neue Fragen: Wie reagieren Staat und Gesellschaft auf die mit den neuen Medien verbundenen Problematiken im Bereich des Datenschutzes oder Urheberrechts? Wie verändern sich dadurch (mediale) Öffentlichkeit oder informationelle Selbstbestimmung? Diesen Fragen widmete merz schon 2008 mit Staat – Macht – Medien (merz 4/2008) eine gesamte Ausgabe. Heute sind mit jeder Google-Suche und mit jedem Facebook-Posting all diese Themen durchgängig berührt und verknüpft.Spätestens mit Big Data wird deutlich, dass Medienbildung und politische Bildung zusammenwachsen. Medienpädagogische Forschung und Praxis haben in vielen Studien und Praxisprojekten – darunter zahlreiche hervorragende des JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis – gezeigt, wie tiefgreifend der digitale Wandel unsere Gesellschaft und unsere Politikkonzeptionen berührt und verändert. merz kommt das Verdienst zu, hierzu immer wieder wichtige Impulse ausgesandt zu haben. Was vor Jahren Thema bei merz war, wie Privatsphäre und Datenschutz im Netz (merz 3/2012) oder Medienpädagogik und Inklusion (merz 1/2012), das setzt die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) heute in ihren Angeboten um.
Wer in der digitalen Mediengesellschaft partizipieren will, muss die medialen Möglichkeiten zur politischen Beteiligung erkennen und nutzen. In Deutschland leben über zehn Millionen Menschen – manche sagen sogar 20 Millionen – mit Leseschwäche. Alte und junge Menschen, die Gründe sind ganz unterschiedlich. Sie benötigen geeignete Angebote, welche die aktuellen, hochkomplexen Themen verständlich aufbereiten. Wir versuchen, mit Materialien in einfacher Sprache – wie dem Reihenpiloten einfach INTERNET – den ersten Schritt zu gehen, damit aus politischer Bildung inklusive Medienbildung wird. Das Ziel muss sein, allen Menschen die selbständige souveräne Mediennutzung und somit die aktive Teilhabe an der digitalen Gesellschaft zu ermöglichen.Heute erzeugen wir alle dabei fortlaufend Datenströme, ob wir kommunizieren, uns fortbewegen, arbeiten oder am Strand liegen. Wenn aus diesen Daten das zukünftige Verhalten jedes einzelnen Menschen hochgerechnet werden kann – das Bildungsverhalten, das Freizeitverhalten, das Arbeitsverhalten oder gar das Wahlverhalten –, dann ist gerade das Phänomen Big Data eine Herausforderung für die politische Bildung.Wir fragen daher: Hilft uns Big Data, die Welt besser zu verstehen? Wie viel Transparenz oder Regulierung ist nötig? Wie erhalten wir unsere Handlungsfreiheit in der digitalen Gesellschaft?Durch die Verzahnung medienpädagogischer Forschung und Praxis greift merz in 60 Jahren impulsgebenden Ausgaben Fragen wie diese auf, die zeigen: Digitale Medien bieten die Chance, dass sich mit ihnen Medienpädagogik, inklusive Medienbildung und politische Bildung vereinen – zu einer gesellschaftlichen Bildung.
Thomas Krüger ist Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung und des Deutschen Kinderhilfswerkes. Außerdem ist er Mitglied der Kommission für Jugendmedienschutz und Forschungsbeirat des Programms ‚Kultur und Außenpolitik‘ des Instituts für Auslandsbeziehungen.
Beitrag aus Heft »2016/02: 60 Jahre merz – 60 Jahre Medienpädagogik«
Autor: Thomas Krüger
Beitrag als PDFEinzelansichtOskar Negt: Medienpädagogik und Soziologie
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Interdisziplinärer Diskurs
Medien vor 60 Jahren – Medien heute. Da ist vieles gleich geblieben und doch irgendwie alles ganz anders. Wir sind vernetzt, online und mobil, Medien sind immer und überall – und aus keinem Lebensbereich und keiner (humanwissenschaftlichen) Disziplin wegzudenken. merz, seit 60 Jahren Forum der Medienpädagogik, nimmt ihren Geburtstag zum Anlass, um dies im interdisziplinären Horizont zu erörtern. Wir fragten Kolleginnen und Kollegen verschiedenster Disziplinen: Was macht den Mehrwert medienpädagogischer Forschung und Praxis in der zunehmend mediatisierten Gesellschaft aus?
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In herkömmlichen Traditionsmilieus mag es eine besondere Bedeutung haben, wenn die Lebensdauer von 60 Jahren Anlass für eine Festschrift ist; im Falle von merz ist das anders. Allein der Tatbestand, dass es eine solche Zeitschrift noch gibt, dokumentiert eine politische Bedeutung.Seit nunmehr über 40 Jahren mit soziologischen und philosophischen Problemen der Öffentlichkeit befasst, fällt es mir zunehmend schwer, am Verbindungsfaden zwischen Öffentlichkeit, Aufklärung und Emanzipation fortzuspinnen. Denn das war ja die theoretische Grundüberzeugung, als ich mit Alexander Kluge Öffentlichkeit und Erfahrung schrieb. Diese teilten wir auch mit Hannah Ahrendt und Jürgen Habermas; ein gewisses Pathos steckte in dieser Haltung. Herstellung von Öffentlichkeit war das Leitmotiv jeder Herrschaftskritik. Das ist gewiss auch heute nicht falsch, aber viel zu wenig, um den Wahrheitsversprechen der Aufklärung gerecht zu werden, wie Immanuel Kant es formuliert hatte: Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit. Durch Privatisierung der Öffentlichkeit hat sich innerhalb von zwei Jahrzehnten die Medienlandschaft so grundlegend verändert, dass die alten begrifflichen Muster weder gesellschaftstheoretischen Analysen noch für die Praxis hinreichen.Es ist das entstanden, was Emile Durkheim einen anomischen Zustand nannte: Alte Regeln gelten nicht mehr unbesehen, neue sind noch nicht gefunden, werden aber gesucht.
Die geistige Situation der Gegenwart lässt sich kennzeichnen als kulturelle Suchbewegung. Aber was wird hier gesucht? Die neuen Medien sind konstitutioneller Bestandteil der Gegenstandswelt, sie lassen sich von den Lebenszusammenhängen nicht mehr trennen. So kommt es darauf an, sie unter Gesichtspunkten der sinnvollen Verwendung zu überprüfen. In einem gesamtgesellschaftlichen Zustand, den wir Demokratie nennen, sind differenzierte Lernprozesse notwendig, um das Orientierungswissen zu erweitern. Es ist weitgehend Verfügungswissen, was den heutigen Umgang mit den Medien kennzeichnet.Demokratie ist die einzige staatlich verfasste Gesellschaftsordnung, die gelernt werden muss; alltäglich und bis ins hohe Alter hinein. Ich kann mir vorstellen, dass eines Tages Medienbildung und Medienerziehung selbstständige Unterrichtsfächer neben den traditionellen Fächern wie Naturwissenschaften, Sprachen und Mathematik stehen werden. Die Zeitschrift, die im Namen Medien und Erziehung trägt, ist mit zahlreichen Beiträgen dieser Aufklärungslinie gefolgt. Es ist zu hoffen, dass sie diese Ziele noch lange weiterverfolgt und damit zu allgemeiner Medienmündigkeit beiträgt.
Oskar Negt ist Sozialphilosoph und emeritierter Professor für Soziologie der Leibniz Universität Hannover. Er gilt unter anderem auch als Vertreter der kritischen Theorie.
Beitrag aus Heft »2016/02: 60 Jahre merz – 60 Jahre Medienpädagogik«
Autor: Oskar Negt
Beitrag als PDFEinzelansichtThomas Rauschenbach: Kindheits- und Jugendforschung
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Interdisziplinärer Diskurs
Medien vor 60 Jahren – Medien heute. Da ist vieles gleich geblieben und doch irgendwie alles ganz anders. Wir sind vernetzt, online und mobil, Medien sind immer und überall – und aus keinem Lebensbereich und keiner (humanwissenschaftlichen) Disziplin wegzudenken. merz, seit 60 Jahren Forum der Medienpädagogik, nimmt ihren Geburtstag zum Anlass, um dies im interdisziplinären Horizont zu erörtern. Wir fragten Kolleginnen und Kollegen verschiedenster Disziplinen: Was macht den Mehrwert medienpädagogischer Forschung und Praxis in der zunehmend mediatisierten Gesellschaft aus?
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Digitale Medien spielen in der Alltagswelt von Kindern und Jugendlichen inzwischen eine ebenso wichtige wie elementare Rolle. Mediale Aktivitäten stehen in Konkurrenz zu herkömmlichen Freizeitbeschäftigungen, etwa dem Sport oder kulturellen Angeboten, werden aber auch zunehmend mit diesen verwoben. In den letzten Jahren ist eine rasante Zunahme der Medienausstattung festzustellen. Der Zugang zum Internet und die zunehmende Verbreitung internetfähiger Geräte (Smartphones, Tablet, Computer) bieten Heranwachsenden neue Möglichkeiten der Mediennutzung. Mobile Endgeräte stehen heute schon Kindern im Kleinkindalter zur Verfügung, digitale Medien haben den Einzug in die Lebenswelt der Klein- und Vorschulkinder vollzogen.Infolgedessen ist sowohl von einer ‚Miterziehung‘ durch die Medien als auch von einer Welt der Medien als einem alltäglich werdenden Setting des Aufwachsens neben Familie, Schule und Peers die Rede, so der 14. Kinder- und Jugendbericht (2013) des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Und dennoch kann man einen Eindruck nicht ganz vom Tisch wischen: Der Schulterschluss von Jugendforschung und Medienpädagogik ist noch nicht so richtig gelungen. Ähnliches gilt auch für die Bildungs-, Sozialisations- und die Kindheitsforschung: Auch dort sind die Auswirkungen des digitalen Zeitalters noch kein selbstverständlicher, integraler Bestandteil der Forschungs- und Reflexionsbemühungen.So werden Mediennutzung oder Medienerziehung heutzutage zwar verstärkt sozialwissenschaftlich thematisiert, auch werden medienpädagogische Diskurse, insbesondere mit dem Fokus auf digitale Medien zunehmend breiter rezipiert. Einvernehmen besteht beispielsweise darüber, dass die Digital Natives im Vergleich zu früheren Jugendgenerationen hinsichtlich ihrer Mediennutzung und dem Erwerb von Medienkompetenz andere Möglichkeiten und Chancen, aber auch Risiken zu bewältigen haben.
Dennoch fällt auf, dass die mediatisierte, digitale Gesellschaft noch nicht so selbstverständlich in vielen sozialwissenschaftlichen Debatten als Querschnittsthema mitgedacht wird, wie dies auch bei anderen Themen – Geschlecht, Migration, Herkunft – vielfach gefordert worden ist. Bisweilen handelt es sich beim Medienthema eher um einen Appendix, ein Add-On, mit dem man irgendwie der Neuformatierung des Aufwachsens gerecht zu werden versucht, ohne dass in wissenschaftlichen Diskursen und empirischer Forschung wirklich schon von einer integrierten Vorgehensweise gesprochen werden kann.Wenn das vor allem mit der ‚generationalen Ordnung‘ dieser Forschungsbereiche zu tun hat, also mit einer biografisch bedingten Distanz oder Unerfahrenheit der älter werdenden Generation der Kindheits-, Jugend- und Bildungsforscherinnen und -forscher, dann wird es – wie bei anderen Themen auch – eben seine Zeit dauern, bis der wissenschaftliche Nachwuchs diesbezüglich eine neue Ära einläutet. Wenn das Argument der noch nicht erfolgten Integration dieser beiden ‚Welten‘ jedoch zutrifft, spricht einiges dafür, dass eine intensive Auseinandersetzung und wechselseitige Durchdringung von Medienpädagogik und Kindheits-, Jugendforschung und Bildungsforschung noch bevorsteht.
Prof. Dr. Thomas Rauschenbach ist Vorstandsvorsitzender und Direktor des Deutschen Jugendinstituts München. Seine Schwerpunkte sind unter anderem Bildung im Kindes- und Jugendalter, Theorie der Sozialen Arbeit, Verbände- und sozialpädagogische Forschung sowie Kinder- und Jugendhilfestatistik.
Jan-Uwe Rogge: „Früher war‘s doch anders! Oder?“
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Interdisziplinärer Diskurs
Medien vor 60 Jahren – Medien heute. Da ist vieles gleich geblieben und doch irgendwie alles ganz anders. Wir sind vernetzt, online und mobil, Medien sind immer und überall – und aus keinem Lebensbereich und keiner (humanwissenschaftlichen) Disziplin wegzudenken. merz, seit 60 Jahren Forum der Medienpädagogik, nimmt ihren Geburtstag zum Anlass, um dies im interdisziplinären Horizont zu erörtern. Wir fragten Kolleginnen und Kollegen verschiedenster Disziplinen: Was macht den Mehrwert medienpädagogischer Forschung und Praxis in der zunehmend mediatisierten Gesellschaft aus?
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Erinnerungen und Gedanken eines Digital Immigrant
- Als ich diesen Artikel konzipiert habe, kam die Nachricht, Moderator Peter Lustig, der Kinder mit seinen Sendungen, aber auch mich zu meiner Doktorarbeit – unter anderem über ‚Löwenzahn‘ und ‚Pusteblume‘ – begleitet hat, sei verstorben. Lustig war mit seiner Latzhose ein Aushängeschild, ein Symbol dafür, komplexe Sachverhalte auf einfache Art und Weise zu erklären, ohne auf unzulässige Weise zu vereinfachen. Er dachte vom Kind aus, hatte die Fähigkeit, sich in diese hineinzuversetzen. Er nahm den Satz des Pädagogen Pestalozzi ernst, der vor mehr als 240 Jahren formulierte, dass das Begreifen über das Greifen geht. Er führte eindringlich vor: Man muss hinter die Dinge schauen, neugierig sein, um Wirklichkeit zu begreifen, zu verstehen, geht doch jeder intellektuellen Erfahrung eine Körperliebe voraus. Lustig war nicht Freund, sondern Partner der Kinder: Ich bin nicht gleichrangig, ich bin älter. Aber er zeigte: Ich bin gleichwertig, ich erkläre euch die Wirklichkeit, indem ich von euch, euren Fragen und euren Denkweisen lerne. Für ihn gab es ein produktives Nebeneinander von medialer und unmittelbarer, erlebbarer Wirklichkeit. Unvergessen sein Schlusswort einer jeden Sendung: „Abschalten!“ Anders formuliert: „Geht raus und erobert eure Welt!“ Bei „Abschalten!“ fällt mir allerdings ein, was der ehemalige Kultusminister Mayer-Vorfelder Ende der 1970er-Jahre über die Medienerziehung formulierte: Er sagte sinngemäß, dass man die nicht brauche, da jedes Fernsehgerät doch einen Ausschaltknopf habe. So einfach kann man es sich machen. Die einen nehmen Kinder ernst, den anderen sind die Sorgen und Nöte der Eltern, die um die Faszination der Medien wissen, ziemlich egal.
- Mein erster Beitrag für merz erschien 1980 und hieß Kinder filmen ihre Umwelt. Für alle Digital Natives: In dieser Zeit redete man über Videorecorder, darüber, welche Gefahren von diesem neuen (!) Medium ausgehen könnten. Horrorvideos waren in aller Munde, eine Vervielfachung des Medienkonsums. Medienpädagogische Fachkräfte schienen Suchtexpertinnen und -experten zu sein! Es war die Zeit, in der Marie Wynns Bestseller Die Droge im Wohnzimmer elterliche Alarmleuchten blitzen ließ. Und Neil Postmans Wir amüsieren uns zu Tode beschwor in eindringlichen Worten einen kulturpessimistischen Untergang abendländischer Kultur. Was diese Publikationen einte: Medien standen im Mittelpunkt, der Mensch, vor allem Kinder waren ihnen hilflos ausgeliefert. Bei mir aber standen Heranwachsende im Zentrum. Ich wusste, dass sie den Medien nicht hilflos ausgeliefert sind, sondern eigenständige Persönlichkeiten, die begleitet und ernstgenommen werden wollen. Mein Ansatz war, das kreative Potenzial, das in den Medien schlummert, zu betonen. Und das kreative Potenzial hervorzuheben, das sich in Heranwachsenden verbirgt.
- Erziehung – auch Medienerziehung – ist Beziehung. Erziehung hat nichts mit Ziehen zu tun. Ein indisches Sprichwort sagt: „Schau dem Grashalm beim Wachsen zu. Zieh nicht, damit es schneller wächst. Dann reißt du es raus!“ Erziehung stellt sich eben nicht nach dem Motto ‚je früher, desto besser‘ als Vorbereitung auf das Leben dar. Auf medienpädagogische Überlegungen angewendet: Hier gab (und gibt) es Ansätze, man muss (!) frühzeitig beginnen, um Kinder vor dem verhängnisvollen Einfluss von Medien zu immunisieren, damit sich irgendwann kompetente Mediennutzende – heute: User – herausbilden. Erziehung ist Begleitung der Kinder ins Leben – nicht die Vorbereitung darauf! Das gilt gleichermaßen für die Erziehung zum Umgang mit Medien. Sie stellt sich im Kleinkindalter anders dar als in der Pubertät.
- Über Medien werden Beziehungen thematisiert. Heranwachsende fahren auf Medien ab, grenzen sich darüber zugleich von vorangegangenen Generationen ab. Sie bringen ihre Eltern auf die Palme, rauben ihnen den letzten Nerv. Aber Medien sind noch viel mehr: Wenn sich Medien wandeln – wenn aus der analogen Welt eine digitale wird –, sind damit zugleich zwischenmenschliche Beziehungen berührt. Waren beim Lesen lernen Kinder noch auf Erwachsene angewiesen, so ist es beim Computer (fast) anders. Soll heißen: Sich auf die digitalen Fähigkeiten von Heranwachsenden einzulassen, ohne seine (analogen) Kompetenzen (Erziehungsverantwortung!) zu vergessen, ist ein Gebot der Stunde. Heranwachsende lieben authentische Persönlichkeiten, das ist eine Chance angesichts der Vielfalt der Medien.
- Wenn man zurückblickt, stellt sich natürlich die Frage: Habe ich etwas unterschätzt? Zweifelsohne habe ich Anfang der 1980er-Jahre das Suchtpotenzial der – wie man sie damals nannte – neuen Medien nicht angemessen eingeschätzt. Mittlerweile weiß ich aus meiner Arbeit als Kommunikationspädagoge und Familienberater, dass die Möglichkeit nicht-stoffgebundener Süchte sehr wohl gegeben ist. Und damit bin ich beim Ausgangspunkt: Es geht nicht um den Stoff, sprich Medien, es geht um den Menschen, darum, welche Lebensumstände ihn abhängig werden lassen.
Dr. Jan-Uwe Rogge ist Autor zu den Themen Kinder und Erziehung. Außerdem ist er selbstständiger Berater für Familien und pädagogisches Fachpersonal.
Beitrag aus Heft »2016/02: 60 Jahre merz – 60 Jahre Medienpädagogik«
Autor: Jan-Uwe Rogge
Beitrag als PDFEinzelansichtSigmar Roll: Medienpädagogik und Kinder- und Jugendschutz
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Interdisziplinärer Diskurs
Medien vor 60 Jahren – Medien heute. Da ist vieles gleich geblieben und doch irgendwie alles ganz anders. Wir sind vernetzt, online und mobil, Medien sind immer und überall – und aus keinem Lebensbereich und keiner (humanwissenschaftlichen) Disziplin wegzudenken. merz, seit 60 Jahren Forum der Medienpädagogik, nimmt ihren Geburtstag zum Anlass, um dies im interdisziplinären Horizont zu erörtern. Wir fragten Kolleginnen und Kollegen verschiedenster Disziplinen: Was macht den Mehrwert medienpädagogischer Forschung und Praxis in der zunehmend mediatisierten Gesellschaft aus?
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Seit Medien Thema des Kinder- und Jugendschutzes sind, wird die Frage in den Raum gestellt, ob es nicht besser wäre, anstatt mit Mitteln der Aufsicht und Kontrolle mit originär pädagogischen Mitteln zum gefahrlosen Umgang mit Medien und deren Inhalten anzuleiten. Daraus ist nicht selten eine polemische Konfrontation der Ansätze entstanden, in denen ‚Idealistinnen und Idealisten‘ und ‚Hardliner‘ gegenübergestellt wurden. Auch nachdem der erzieherische Kinder- und Jugendschutz eigener gesetzlicher Regelungsinhalt (§ 14 SGB VIII) neben der Jugendarbeit (§ 11 SGB VIII) geworden war, ist ein entspanntes Verhältnis leider nicht eingetreten. Dabei gäbe es doch genügend Möglichkeiten, das je spezifische Potenzial der unterschiedlichen Ansätze als wertvolle Ergänzung bei der Förderung der Entwicklung der jungen Generation zu begreifen. Kann innerhalb der Jugendarbeit allgemeine Prävention erfolgen und den Interessen der jungen Menschen und ihrem Drang nach neuen Erfahrungen Raum gegeben werden, so ist der erzieherische Kinder- und Jugendschutz auf gefährdungsspezifische Prävention ausgerichtet und wendet sich dabei nicht nur an junge Menschen, sondern auch an Eltern und pädagogische Fachkräfte.
Medienpädagogische Forschung beschränkt sich dabei glücklicherweise nicht allein darauf, Umstände und Interessen junger Menschen bei der Mediennutzung zu erheben oder die Nutzenden bei der Entdeckung des vielfältigen Nutzungsspektrums zu fördern, sondern ist an einer Weiterentwicklung des Umgangs mit Chancen und Risiken der Nutzung neuer Medien durch junge oder sogar sehr junge Userinnen und User interessiert. Andererseits ist sie aber nicht gefährdungsfixiert, so dass sie mit ihren Ergebnissen die Chance für einen fundierten Austausch der Akteurinnen und Akteure in den beiden Aufgabenfeldern bietet. Dass medienpädagogische Forschung auch in Zukunft den Spagat aushält, sich mit den Chancen der Mediennutzung und deren Vermittlung zu befassen, ohne bestehende Risiken zu negieren, kleinzureden oder als Forschungsinhalt zu vernachlässigen, ist aus meiner Sicht die zukunftsweisende Aufgabe.
Sigmar Roll ist Richter in der Bayerischen Sozialgerichtsbarkeit. Nebenbei ist er tätig als juristischer Kommentator zum Kinder- und Jugendschutz und Mitglied der Kommission für Jugendmedienschutz (KJM).
Beitrag aus Heft »2016/02: 60 Jahre merz – 60 Jahre Medienpädagogik«
Autor: Sigmar Roll
Beitrag als PDFEinzelansichtHeidi Schelhowe: Medienpädagogik und Informatik
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Interdisziplinärer Diskurs
Medien vor 60 Jahren – Medien heute. Da ist vieles gleich geblieben und doch irgendwie alles ganz anders. Wir sind vernetzt, online und mobil, Medien sind immer und überall – und aus keinem Lebensbereich und keiner (humanwissenschaftlichen) Disziplin wegzudenken. merz, seit 60 Jahren Forum der Medienpädagogik, nimmt ihren Geburtstag zum Anlass, um dies im interdisziplinären Horizont zu erörtern. Wir fragten Kolleginnen und Kollegen verschiedenster Disziplinen: Was macht den Mehrwert medienpädagogischer Forschung und Praxis in der zunehmend mediatisierten Gesellschaft aus?
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Kaum ein Bereich der Gesellschaft bleibt heute von der Informatik unberührt. Informatik ist eine Wissenschaft und Praxis, die sich in allen Poren der Gesellschaft einnistet und zahlreiche Gebiete verändert. Diese Veränderungen haben mit zunehmender Rationalisierung, Formalisierung und Standardisierung zu tun, aber – wenn es gut läuft – auch mit kreativen und interaktiven Formen des Umgangs von Menschen mit regulierten und von Maschinen ausgeführten Prozessen.Der Computer hat als elektronische und programmierbare Rechenmaschine in den 1940er-Jahren begonnen und inzwischen als Medium in viele Bereiche des Alltags Einzug genommen. Er erscheint in Form von Smartphones, Tablets, intelligenten Chips in Alltagsgeräten oder als Instrument, das Bewegungen misst und bewertet. Dies ist nicht nur der Schrumpfung der Hardware in eine Mikrogröße zu verdanken, sondern auch der Tatsache, dass die Bedienung so einfach geworden ist, dass das Rechnen unauffällig im Hintergrund stattfindet.Will die Informatik den Menschen in ihrem Umgang mit Maschinen Handlungsfreiheit und Kreativität ermöglichen, ist sie auf Wissen und Kenntnisse des Anwendungsbereichs angewiesen. Dies gilt nicht zuletzt für Gebiete, in denen es um persönliche Entwicklung geht.Viel zu oft sind informatische Produkte im Bildungskontext gekennzeichnet von behavioristischen und instruktionistischen Vorstellungen des Lernens, die mit Bildung nicht viel zu tun haben und Menschen als zu füllende Gehirne statt in ihrer ganzen Fülle wahrnehmen.Medienpädagogische Forschung und Praxis liefern Grundlagen dafür, dass wir in der Informatik Hardware und Software entwickeln können, die sich auf nachweislich wirksame pädagogische Theorie und Praxis stützt. Medienpädagogik ist ein notwendiger und wichtiger Partner bei der Entwicklung von computergestützten Lernumgebungen. Sie liefert für die Implementierungen die Kenntnisse und Erfahrungen, auf die Informatik sich stützen muss, um nicht regulierend oder das Denken ersetzend, sondern unterstützend im Lernprozess wirksam werden zu können.Lange Zeit hat auch die Informatik-Didaktik sich in ihrem Mainstream gegen zu viel Nähe zur Medienpädagogik gesträubt. Der Computer als Rechenmaschine war das Paradigma, das es – so der Glaube – gegen eine ‚Verwässerung‘ durch den ‚weichen‘ Bereich der Medien zu verteidigen galt. Heute vollzieht sich eine Annäherung. Nicht nur in der Schweiz mit dem Lehrplan 21, sondern auch in Deutschland wird seit einigen Jahren eine brüderliche bzw. schwesterliche Verbindung von informatischer Bildung und Medienbildung begrüßt. Ein historisch längst fälliger und begrüßenswerter Schritt!Ich gratuliere merz zum sechzigsten Geburtstag und danke für die zahlreichen Untersuchungen, Studien und Berichte, die ich wie viele andere, die sich mit Softwareentwicklung im Bildungskontext befassen, als ausgesprochen hilfreich und notwendig empfinde. Ich freue mich auf viele weitere Beiträge in den kommenden Jahren!
Dr. Heidi Schelhowe ist Professorin für Digitale Medien in der Bildung an der Universität Bremen und Leiterin der Arbeitsgruppe dimeb. Ihre Schwerpunkte sind unter anderem Software- und Hardwareentwicklung für Bildungskontexte, Interaktionsdesign, Medienbildung sowie Digitale Medien in der Hochschullehre.
Beitrag aus Heft »2016/02: 60 Jahre merz – 60 Jahre Medienpädagogik«
Autor: Heidi Schelhowe
Beitrag als PDFEinzelansichtRudolf Tippelt: Medienpädagogik und Erziehungswissenschaft
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Interdisziplinärer Diskurs
Medien vor 60 Jahren – Medien heute. Da ist vieles gleich geblieben und doch irgendwie alles ganz anders. Wir sind vernetzt, online und mobil, Medien sind immer und überall – und aus keinem Lebensbereich und keiner (humanwissenschaftlichen) Disziplin wegzudenken. merz, seit 60 Jahren Forum der Medienpädagogik, nimmt ihren Geburtstag zum Anlass, um dies im interdisziplinären Horizont zu erörtern. Wir fragten Kolleginnen und Kollegen verschiedenster Disziplinen: Was macht den Mehrwert medienpädagogischer Forschung und Praxis in der zunehmend mediatisierten Gesellschaft aus?
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Die besondere Relevanz der Medienpädagogik liegt darin, dass sie überfachliche Kompetenzen wie Lernkompetenz, personale Kompetenz oder Medienkompetenz stärkt und damit zur Teilhabe am lebenslangen Lernen von Menschen in allen Alters- und Bildungsphasen beiträgt. Ausgehend von einem Kompetenzbegriff, der neben kognitiven auch motivationale und volitionale Komponenten umfasst, fördert die Medienpädagogik metakognitive Lernstrategien und die Bereitschaft, an formalen und informalen Lernprozessen teilzuhaben. Dadurch wiederum trägt Medienpädagogik dazu bei, dass die Digitalisierung vieler Arbeitsfelder und Lebensbereiche gesellschaftlich und individuell bewältigt werden kann.Die zunehmende Nutzung von Internet-Technologien hat im globalen und regionalen Kontext zu massiven Veränderungen von Dienstleistungs- und Produktionsprozessen geführt und dabei wird sichtbar, dass die neuen Anforderungen im beruflichen Bereich mittlerweile alle Bildungsgruppen erreichen. Die neuen Qualifikationsanforderungen beziehen sich einerseits auf den Umgang mit der über das Internet verfügbaren Vielfalt an Informationen sowie auf gelingende Kommunikation mit Kundinnen und Kunden und Kooperationspartnern über virtuelle Plattformen, andererseits sind durch die Verbreitung interaktiver Internetanwendungen auch Fragen des Datenschutzes und der Vertraulichkeit für einen immer größeren Teil der Arbeitnehmenden bedeutsam. Aber die neuen mediengestützten Anforderungen an Kommunikation und Kooperation gehen über den beruflichen Bereich weit hinaus und prägen mittlerweile auch die sozialen Lebenswelten von Menschen entscheidend.
Eine moderne Medienkompetenz ist daher mehr als Mediennutzungskompetenz.Die Medienpädagogik hat im Rahmen einer differenzierten Erziehungswissenschaft und der Bildungsprozesse über die Lebensspanne unter anderem die Aufgabe übernommen, neue kommunikative, interkulturelle und rechtliche Kompetenzen zu untersuchen und diese in zielgruppenadäquaten pädagogischen Arrangements und Lernsettings zu vermitteln und zu reflektieren. Dabei spielen informelle wie formelle, berufliche wie außerberufliche Kontexte eine Rolle.Wir wissen, dass die Vermittlung der genannten überfachlichen Kompetenzen und insbesondere einer allgemeinen Medienkompetenz schwierig ist, auch ist man mit einer deutlichen Differenz zwischen den Fähigkeiten und Kenntnissen von Lernenden und den Anforderungen im jeweiligen Berufsfeld oder auch den Lebenswelten konfrontiert. Medienpädagogik thematisiert daher neben Medienerziehung und Mediendidaktik auch Fragen der Mediensozialisation, um beispielsweise generative Unterschiede des medienbasierten Lernens sichtbar und bearbeitbar zu machen. Es ist ein Faktum, dass Ältere in unserer Gesellschaft meist noch weit weniger mit modernen Medien und digitalen Technologien konfrontiert waren als Jüngere, entsprechend verfügen die Älteren über weniger ausgeprägte Fähigkeiten und Wissensressourcen im Umgang mit den modernen Medien. Eine besondere medienpädagogische Herausforderung ist es daher, situiertes und kompetenzbasiertes Lernen zu realisieren, denn es geht darum, erfahrungsnahe Problemstellungen zu bearbeiten und Lernende der verschiedenen Alters- und Bildungsstufen ihren Lernprozess selbst steuern und kontrollieren zu lassen. Medienpädagogik stärkt damit selbstverantwortliches Lernen und Handeln.
Dr. Rudolf Tippelt ist Professor am Lehrstuhl für Allgemeine Pädagogik und Bildungsforschung der Ludwig-Maximilians-Universität München. Seine Schwerpunkte sind unter anderem Bildungsforschung, Erwachsenen- und Weiterbildung sowie Bildungsprozesse über die Lebensspanne.
Beitrag aus Heft »2016/02: 60 Jahre merz – 60 Jahre Medienpädagogik«
Autor: Rudolf Tippelt
Beitrag als PDFEinzelansichtWolfgang Zacharias: Medienpädagogik und Kulturwissenschaft
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Interdisziplinärer Diskurs
Medien vor 60 Jahren – Medien heute. Da ist vieles gleich geblieben und doch irgendwie alles ganz anders. Wir sind vernetzt, online und mobil, Medien sind immer und überall – und aus keinem Lebensbereich und keiner (humanwissenschaftlichen) Disziplin wegzudenken. merz, seit 60 Jahren Forum der Medienpädagogik, nimmt ihren Geburtstag zum Anlass, um dies im interdisziplinären Horizont zu erörtern. Wir fragten Kolleginnen und Kollegen verschiedenster Disziplinen: Was macht den Mehrwert medienpädagogischer Forschung und Praxis in der zunehmend mediatisierten Gesellschaft aus?
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Das Folgende ist eine Art erweiterte kunst- und kulturpädagogische Sichtweise sowohl als Beobachter wie als Betroffener und Beteiligter an der sich professionalisierenden kulturpädagogischen und medienbildenden Entwicklungsdynamik von 1956 bis heute – zwischen Realität (offline) und Virtualität (online), im professionell kulturell- und medienbildenden Interesse, mehr oder weniger bewusst, sozusagen auch im offenen Spiel: Von Sinnen und Medien (JFF 1991) sowie interaktiv zwischen den Feldern Medien, Kulturen, Künste, informellen, non-formalen, formalen Spiel und Lernfeldern sowie ‚vom Sinnenreich zum Cyberspace und zurück‘ – wie unsere Begriffsformeln so heißen zugunsten neuer multimedialer Spiel- und Lernwelten. Für ungewisse multimedialer Zukünfte bilden? Das ist die sinnlich-reale und symbolisch-digitale Auftragslage, damals wie heute und ‚multimedial‘ im weitesten Sinn, nicht nur auf technischer Basis: „Auch eine multimediale Zukunft wird auf den existenten Bedingungen dieser Welt aufbauen und darin manches Phänomen pointieren, ausbauen und verstärken“ (Schorb 2000, S. 15). Hier ist das Kooperationspostulat, bildungs-, sozial-, kultur-, medienräumlich immanent enthalten, das zukunftsperspektivisch nach wie vor und mehr denn je geboten ist. Und dafür gilt es als professionelles Bildungsziel einen Art ‚Kompetenzpool‘ zu ermöglichen.
Medienbildung ist, von lokal bis global (glokal), vom Ästhetischen bis zum Ethischen (esthetisch), kein nur fach- oder spartenspezifisch abgrenzbares Feld. Im Horizont von Lernen, Weltaneignung und Bildung in einem weiten Horizont und von Spiel bis Schule, Kommerz bis Kunst, Imagination und Initiative, Ethik und Ästhetik ist Medienbildung von zentraler Bedeutung. Eins ist dabei sicher: Medienwelten und das Aufwachsen in ihnen werden sich verändernde Beschleunigung bedeuten. Aber wie, wann, für wen konkret? Who knows? Nobody … Bildungs- und Kunst- Kultur/Ästhetikrelevanzen? Die Zukunft ist offen – die realmediale (Um-)Welt ist in permanenter Transformation, sozusagen aktiv-transgressiv sowie autogenerativ und formatierungskreativ – und damit durchaus ästhetisch, weil von Formprozessen und nicht Inhaltsdefinition gesteuert. Medienbildung wurde und wird weiterhin zu einer Schlüsselkompetenz in der Wahrnehmung und Gestaltung der je eigenen Selbst- und Weltwahrnehmung. Die Chance bzw. analytische und phänomenologische Notwendigkeit, Medienbildung neben den Fokussierungen Künste und Kulturen als eine zentrale Querschnittsdisziplin aller kulturellen Sozialisation und Bildung aufzuwerten, liegt eigentlich auf der Hand. Es ist überfällig, entsprechend der „anthropologischen Konstituivität des Medialen“ (Jörissen 2014). Die wechselseitigen, wertschätzenden und bedeutungsqualifizierenden Diskurse zwischen Kultureller Bildung als pluraler Rahmen und medialer Bildung als unverzichtbare Querschnittsdisziplin und übergreifendes kulturell-ästhetisches Phänomen sind aktuell in einem positiv hoffnungsvollen integrativem Prozess, eigentlich unausweichlich und vor allem intergenerationell überfällig.
Literatur:
Schorb, Bernd (2000). Multimediale Zukunft. In: Zacharias, Wolfgang (Hrsg.), Interaktiv. Medienökologie zwischen Sinnenreich und Cyberspace. München: kopaed.
Jörissen, Benjamin (2014). Digitale Medialität. In Wulf, Christoph/Zirfas, Jörg (Hrsg.), Handbuch pädagogische Anthropologie. Wiesbaden: Springer, S. 503-514.
Dr. Wolfgang Zacharias ist Vorstand des Vereins Pädagogische Aktion/SPIELkultur e. V. sowie Honorarprofessor für Kultur- und Spielpädagogik an der Hochschule Merseburg. Seine Schwerpunkte sind unter anderem Kinder- und Jugendkultur sowie Kulturelle Bildung.
Beitrag aus Heft »2016/02: 60 Jahre merz – 60 Jahre Medienpädagogik«
Autor: Wolfgang Zacharias
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medienreport
Monaco, James (1980). Film verstehen. Kunst, Technik, Sprache, Geschichte und Theorie des Films. Reinbek: Rowohlt.
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60 Jahre merz Buchklassiker
(Ehemalige) merz-Redakteurinnen und -Redakteure empfehlen medienpädagogische Klassiker: Dazu haben sie jeweils eine ihrer liebsten, interessantesten, herausforderndsten, wichtigsten ... Publikationen aus dem Regal gezogen, aus der sie heute noch Gewinn und Anregungen ziehen.
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Das Medium Film zu verstehen ist neben vielen anderen Dimensionen der Medienpädagogik ein wesentlicher Aspekt medienpädagogischer Praxis. Auch wenn in der aktiven Medienarbeit der Film als rezeptives Moment nicht im Mittelpunkt steht, ist es wichtig, sich auch mit der Entstehung des Films, seiner Geschichte, Sprache, Technik und Theorie auseinanderzusetzen. Das Buch von James Monaco eignet sich dafür hervorragend. Es schlüsselt alle Aspekte des Mediums und ihre Beziehung zueinander auf und vermittelt sehr anschaulich die Grundlagen des Films. Für mich war dieses Buch deshalb der Einstieg für mein Verstehen von Film in seinen verschiedenen Dimensionen, ausgehend vom Film als Kunstform in Bezug zu anderen Künsten wie Theater, Musik, Malerei und Literatur bis hin zu filmtheoretischen Aspekten eines Siegried Kracauers, Sergej Eisensteins und Béla Balázs. Die Publikation macht neugierig, andere Literatur heranzuziehen, um das alles zu vertiefen. Und dann vermittelt Monaco natürlich noch einen ersten Einblick in die Filmgeschichte – angefangen von Lumiére und Méliès über das frühe Hollywood bis hin zur Gegenwart. Das Buch ist inzwischen in der zehnten Auflage erschienen, immer noch aktuell und jederzeit empfehlenswert.
Günther Anfang ist Leiter des Medienzentrums München des JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis. Seine Schwerpunkte sind Medienprojekte mit Kindern und Jugendlichen, auch an Schulen und in Kindertagesstätten. Seit 1986 ist er in der Redaktion von merz | medien + erziehung tätig.
Charlton, Michael/Neumann, Klaus (1986). Medienkonsum und Lebensbewältigung in der Familie. Methoden und Ergebnisse der strukturanalytischen Rezeptionsforschung – mit fünf Falldarstellungen. München/Weinheim: Psychologie Verlags Union.
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60 Jahre merz Buchklassiker
(Ehemalige) merz-Redakteurinnen und -Redakteure empfehlen medienpädagogische Klassiker: Dazu haben sie jeweils eine ihrer liebsten, interessantesten, herausforderndsten, wichtigsten ... Publikationen aus dem Regal gezogen, aus der sie heute noch Gewinn und Anregungen ziehen.
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In der Publikation Medienkonsum und Lebensbewältigung in der Familie wird basierend auf empirischen Studien die Bedeutung und Funktion von Medien, insbesondere Bilderbüchern, Hörkassetten sowie Fernsehern für die kindliche Entwicklung sowie für das Familiensystem analysiert. Anhand von hermeneutisch interpretierten Fallstudien wird sehr anschaulich deutlich gemacht, dass Medien Kindern in ihrer Identitätsfindung helfen können, indem sie sich mit diesen aktiv auseinandersetzen. Auch in Familien spielen Medien als Ausdruck der Regulierung von Nähe und Distanz eine bedeutende Rolle. Mit ihrem Konzept der thematischen Voreingenommenheit sowie dem methodischen Ansatz einer rekonstruktiven Hermeneutik haben die beiden Autoren für ihre Zeit Neuland betreten. Ihre umfangreichen empirischen Studien mit Kindern sowie in Familien haben einen neuen Einblick in die Medienrezeption gegeben und damit auch zu einem Paradigmenwechsel in der Medienpädagogik geführt. Auch heute noch kann dieses Konzept auf die Rezeption digitaler Medien sinnvoll angewandt werden und zu neuen Erkenntnissen führen.
Dr. Stefan Aufenanger ist Professor für Erziehungswissenschaft und Medienpädagogik an der Universität Mainz. Seine Schwerpunkte im Bereich Medien sind Familie und Medien, Multimedia in pädagogischen Kontexten und Medienethik. Von 2004 bis 2010 war er außerdem als Gutachter und im Beirat von merz | medien + erziehung tätig.
Mante, Harald (1969). Bildaufbau – Gestaltung in der Fotografie. Ravensburg: Otto Maier Verlag.
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60 Jahre merz Buchklassiker
(Ehemalige) merz-Redakteurinnen und -Redakteure empfehlen medienpädagogische Klassiker: Dazu haben sie jeweils eine ihrer liebsten, interessantesten, herausforderndsten, wichtigsten ... Publikationen aus dem Regal gezogen, aus der sie heute noch Gewinn und Anregungen ziehen.
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Der Fotograf, Didaktiker, Künstler und Designer Harald Mante erläutert in seinem 1969 erschienen Buch anhand von Schwarz-Weiß-Fotos wesentliche Prinzipien des klassischen Bildaufbaus. Didaktisch verfährt er so, dass 50 großformatige Fotos jeweils von einem knappen, erläuternden Textbaustein begleitet werden. Zusätzlich verdeutlichen kleine, anschauliche Piktogramme die jeweiligen Strukturelemente eines Bildes. So ist gut erfassbar, welche Wirkung sich aus der strukturellen Anordnung der Bildelemente ergibt. Vielleicht ist es etwas gewagt, sich mehr oder weniger losgelöst vom Inhalt auf die Strukturelemente zu konzentrieren. Oder aber dies ist eine effektive Möglichkeit, Fotografien schneller und präziser symbolisch zu entschlüsseln. Zudem ist das Handbuch eine ausgezeichnete Anregung, gezielt fotografisch aktiv zu werden – und Mantes kleine Fibel bereitet auch heute noch Spaß: Ich kann mich einfach nur an den interessanten Bildern erfreuen.Antiquarisch ist das Buch ab etwa 30 € erhältlich – auch in den diversen Neuauflagen zum Beispiel des Verlages Laterna Magica, München 1977.
Michael Bloech ist medienpädagogischer Referent am Medienzentrum München des JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis. Seine Schwerpunkte sind Videoarbeit, Kinderfilm und Technik. Von 1994 bis 2001 war er in der Redaktion und im Beirat von merz | medien + erziehung tätig.
Habermas, Jürgen [1962] (1990). Strukturwandel der Öffentlichkeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
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(Ehemalige) merz-Redakteurinnen und -Redakteure empfehlen medienpädagogische Klassiker: Dazu haben sie jeweils eine ihrer liebsten, interessantesten, herausforderndsten, wichtigsten ... Publikationen aus dem Regal gezogen, aus der sie heute noch Gewinn und Anregungen ziehen.
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Habermas setzt sich in seinem 1962 erschienenen Werk mit der Frage auseinander, was eigentlich die ‚bürgerliche Öffentlichkeit‘ ist und wie sie sich im Laufe der Zeit gewandelt hat. Eine wichtige Rolle spielen dabei die Medien, die schon Ende des 17. Jahrhunderts „nicht in erster Linie Informationen, sondern auch pädagogische Instruktionen, sogar Kritik und Rezensionen enthalten“ (S. 83) und damit die Entwicklung der Gesellschaft beeinflussten.Am spannendsten war für mich Kapitel II, das die sozialen Strukturen der Öffentlichkeit analysiert und in dem deutlich wird, wie fündig die Menschen in den unterschiedlichen Gesellschaftssystemen immer waren, um sich mit den für sie relevanten Themen auseinanderzusetzen und eine Öffentlichkeit dafür zu gewinnen, mit dem Ziel, sich von den Vorgaben der Herrschenden zu emanzipieren. Dieses Phänomen finde ich nach wie vor interessant. Die Medien haben sich zwar verändert, sind vielfältiger geworden und bieten Möglichkeiten der Artikulation und Präsentation, an die in den 1960er-Jahren noch nicht zu denken war. Aber schon damals legt Habermas das Fundament, um ihre Bedeutung für die Gesellschaft einordnen zu können.
Dr. Susanne Eggert ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis. Ihre Schwerpunkte sind Medien in der Familie sowie Medien und Migration. Seit 2002 ist sie in der Redaktion von merz | medien + erziehung tätig, von 2006 bis 2015 war sie verantwortliche Redakteurin.
Postman, Neil (1983). Das Verschwinden der Kindheit. Frankfurt/M: Fischer.
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60 Jahre merz Buchklassiker
(Ehemalige) merz-Redakteurinnen und -Redakteure empfehlen medienpädagogische Klassiker: Dazu haben sie jeweils eine ihrer liebsten, interessantesten, herausforderndsten, wichtigsten ... Publikationen aus dem Regal gezogen, aus der sie heute noch Gewinn und Anregungen ziehen.
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Lohnt es, sich mit einem Buch zu beschäftigen, das 1983, weit vor dem Internetzeitalter, erschien? Ja – wenn es auch heute Inspiration und Herausforderung bietet. Postman tut genau dies. Er entwickelt – unter Zuhilfenahme der Zivilisationstheorien von Freud und Elias – eine Geschichte der Kindheit, die stets gebunden ist an Literalität in der Gesellschaft. Zunächst prägte der Buchdruck das Bild vom Kind, das als ‚lesend und lernend‘ gesehen wurde, mit der Wende von der literalen zur bildhaften Welt dreht sich dieses Bild: Wissen wird nicht mehr jahrelang erworben durch Lesen, sondern ist unmittelbar verfügbar. Der Trennungsstrich zwischen Kindheit und Erwachsensein ist damit aufgehoben – und stellt Postman und seine Leserschaft vor die grundsätzliche – und von ihm nicht beantwortete – Frage, was dies für die Neugier der Kinder und die Autorität der Erwachsenen bedeutet. Postmans Gedanken zu den Veränderungen der Kindheit durch das mediale Zeitalter und Folgerungen für die pädagogische Praxis machten dieses Buch – das ich gelesen habe, als ich in der offenen Jugendarbeit beschäftigt war – für mich zu einer großen Inspiration und zeigten mir: Ganz gleich wie man als Privatperson die medialen Entwicklungen bewertet, es führt für Pädagoginnen und Pädagogen kein Weg dran vorbei, deren Potenziale zu nutzen. Zugleich war das Buch immer auch Herausforderung: Die kulturpessimistischen Haltungen zwangen mich, genau hinzuschauen, selbst zu prüfen und zu erkennen: Postmans Beobachtungen stimmen, aber seine Bewertung, dass damit ein Niedergang der Kultur verbunden sei, liegt wohl eher seiner Wahrnehmung als Ostküsten (der USA)-Professor. Seinen negativen Blick auf die Entwicklung der Moral der Gesellschaft konnte ich bei Jugendlichen nicht nachvollziehen – zumal er soziale Fragen des Zugangs wie auch Fragen nach dem Erwerb einer digitalen Kompetenz generell außer Acht lässt.
Albert Fußmann ist Direktor des Institut für Jugendarbeit Gauting. Seine Schwerpunkte sind Neue Medien und Kulturelle Bildung. Seit 2013 ist er in der Redaktion von merz | medien + erziehung tätig.
Lovink, Geert (1992). Hör zu – oder stirb! Fragmente einer Theorie der souveränen Medien. Berlin: ID Verlag.
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60 Jahre merz Buchklassiker
(Ehemalige) merz-Redakteurinnen und -Redakteure empfehlen medienpädagogische Klassiker: Dazu haben sie jeweils eine ihrer liebsten, interessantesten, herausforderndsten, wichtigsten ... Publikationen aus dem Regal gezogen, aus der sie heute noch Gewinn und Anregungen ziehen.
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Als akustischer Beitrag zu dem Bändchen der Agentur Bilwet aus der Niederlande erschien zusätzlich eine 90 minütige Kassette; 1992 noch ein warenförmiges Audiomedium der Verlagswahl. Dennoch lese ich Hör zu – oder stirb als Befassung mit dem digitalen Zeitalter. Radio als Pilotmedium digitaler Medientheorie. Die Echo-Chamber der ‚deutschen‘ Radiotheorie oder die Fixierung auf das Bewegtbild verstellt gerne den Blick dafür, dass Mixing, die Freude am Sampling, der Flow der Daten und ihre Gesellungsverhältnisse im Radio ankern. Nicht umsonst hat der Hörfunk durch die Digitalisierung dazugewonnen. Quantitativ und qualitativ. Das ist gut für die lebendige Medienpädagogik, jedoch schlecht für die Finanzen, weil die sterbenden Medien für ihre Särge alle Budgets absaugen. Die mitgelieferten Snippets im Klappentext beschreiben tatsächlich den Buch-Inhalt: Eine Kritik an „bürgerlichen oder linken Hörgewohnheiten”. Damit ist es auch eine Selbstkritik: Was habe ich früher ins Buch notiert, was glossiere ich heute?
Ralf Homann ist Bildhauer und Autor. Er untersucht das Verhältnis von physischem Raum und elektronischen Medien. Dabei interessieren ihn Narrative des Wissensdesigns. Er war von 1989 bis 1994 in der Redaktion von merz | medien + erziehung tätig.
Schell, Fred (2003). Aktive Medienarbeit mit Jugendlichen. Theorie und Praxis. Reihe Medienpädagogik, Band 5. 4. Aufl. München: kopaed.
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60 Jahre merz Buchklassiker
(Ehemalige) merz-Redakteurinnen und -Redakteure empfehlen medienpädagogische Klassiker: Dazu haben sie jeweils eine ihrer liebsten, interessantesten, herausforderndsten, wichtigsten ... Publikationen aus dem Regal gezogen, aus der sie heute noch Gewinn und Anregungen ziehen.
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Medien als Unterhalter und Informierer, als Stimulanzien und Zeitfüller, als Lust-, Frust- oder gar Gefahren-Bringer, kurz: Medien als aktiv Einfluss-nehmende Instanzen, denen die Menschen passiv hingegeben bis hilflos ausgeliefert sind. Lange genug spukte dieses Bild durch Köpfe und Literatur. Fred Schell schuf mit seinem Werk zur ‚aktiven Medienarbeit‘ ein Gegengewicht, das lange überfällig war. Basierend sowohl auf Jugendforschung als auch auf Medientheorie stellt Schell das Konzept der aktiven Medienarbeit vor, in der Jugendliche den Medien nunmehr als Gestaltende und Nutzende begegnen, Medien selbst kritisch hinterfragen, für ihre eigenen Zwecke in Dienst nehmen und eigene, neue Produkte und Medien(-Inhalte) kreieren – und somit zu Schaffenden und Gestaltenden ihrer (medialen) Umwelt werden. Nach dem Motto: Wir machen was mit den Medien, nicht die Medien was mit uns. Durchexerziert wird das Konzept nach dessen theoretischer Erarbeitung am Beispiel der aktiven Videoarbeit, einer der ersten, grundlegendsten und immer noch beliebtesten Umsetzungsformen der aktiven Medienarbeit. In dieser doppelten, theoretischen und praktischen Verankerung liegt damit ein Werk vor, das die Medienpädagogik in Theorie und Praxis geprägt hat, das sowohl Begründung als auch praktische Anregung ist und aus medienpädagogischem Forschen und Agieren auch heute nicht wegzudenken ist.
Elisabeth Jäcklein-Kreis ist Mitarbeiterin am JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis sowie im kopaed Verlag. Seit 2009 arbeitet sie in der Redaktion von merz | medien + erziehung.
Beitrag aus Heft »2016/02: 60 Jahre merz – 60 Jahre Medienpädagogik«
Autor: Elisabeth Jäcklein-Kreis
Beitrag als PDFEinzelansichtTurkle, Sherry (2011). Alone Together: Why We Expect More from Technology and Less from Each Other. New York: Basic Books.
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60 Jahre merz Buchklassiker
(Ehemalige) merz-Redakteurinnen und -Redakteure empfehlen medienpädagogische Klassiker: Dazu haben sie jeweils eine ihrer liebsten, interessantesten, herausforderndsten, wichtigsten ... Publikationen aus dem Regal gezogen, aus der sie heute noch Gewinn und Anregungen ziehen.
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Sherry Turkles Werk basiert auf der von ihr selbst benannten „intimen Ethnographie“, die über einen Zeitraum von 15 Jahren erfolgten. Die Soziologin und Sozialpsychologin beschäftigt sich mit zwei Kernthemen: Einmal der Mensch-Computer-Interaktion, bei der insbesondere digitale Geschöpfe wie Tamagotchis von ihr mit Blick auf Mensch-Maschine-Interaktionen analysiert und bewertet werden. Zum zweiten mit dem neueren Phänomen der permanenten Online-Aktivitäten. Insbesondere interessiert sie sich für die Aneignung neuer Technologien durch die junge Generation der sogenannten Digital Natives. Turkle mahnt dabei die Gefahren dieser Entwicklungen an und geht auf die Veränderungen sozialer Beziehungen, das Fehlen von echter Nähe, Intimität und Primärerfahrungen ein. Auch wenn viele empirische Studien die beunruhigenden und negativen Annahmen Turkles in dieser Deutlichkeit keinesfalls stützen, so ist dieses sehr anschaulich und fallbeispielorientierte Werk dennoch eine wertvolle Reflexionsanregung, die zur individuellen Positionierung, zu veränderten Kommunikationskulturen anregt.
Dr. Karin Knop ist akademische Rätin am Institut für Medien- und Kommunikationswissenschaft der Universität Mannheim. Sie beschäftigt sich mit Rezeptionsforschung, aktuellen TV-Entwicklungen und Mobilkommunikation. Seit 2011 ist sie in der Reaktion von merz | medien + erziehung.
Selman, Robert (1984). Die Entwicklung sozialen Verstehens. Entwicklungspsychologische und klinische Untersuchungen. Frankfurt/M: Suhrkamp.
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60 Jahre merz Buchklassiker
(Ehemalige) merz-Redakteurinnen und -Redakteure empfehlen medienpädagogische Klassiker: Dazu haben sie jeweils eine ihrer liebsten, interessantesten, herausforderndsten, wichtigsten ... Publikationen aus dem Regal gezogen, aus der sie heute noch Gewinn und Anregungen ziehen.
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Auf Basis von Piagets Theorie der kognitiven Entwicklung und im Hinblick auf Kohlbergs Theorie der Moralentwicklung zeigt Selman empirisch, wie ein Kind soziales Verstehen erlernt: In vier Entwicklungsschritten erwirbt es grundlegende Fähigkeiten, in unterschiedlichen Handlungsfeldern die Wirklichkeit von sozial gerahmten individuellen Handlungsperspektiven in ihren komplexen Verschränkungen zu berücksichtigen. So versteht und gestaltet es Freundschaft zunächst als physische Interaktion, dann in aufeinanderfolgenden Phasen als einseitige Hilfestellung, konfliktfreie Schönwetter-Kooperation, intimen gegenseitigen Austausch und schließlich als durch Autonomie und Interdependenz geprägte Beziehung. Damit wird mit Hilfe des symbolisch-interaktionistischen Konzepts der Perspektivübernahme deutlich, wie Kinder aktiv Kompetenzen erlangen, die Beziehungen mit anderen sowie eine eigenständige innere Entwicklung ermöglichen – ein Basiswissen auch für Medienpädagogik.
Dr. Friedrich Krotz ist Professor für Kommunikations- und Medienwissenschaft mit dem Schwerpunkt soziale Kommunikation und Mediatisierungsforschung an der Universität Bremen. Er ist Koordinator des DFG-Schwerpunktprogramms 1505 „Mediatisierte Welten“. Seit 2006 ist er im Beirat von merz | medien + erziehung tätig.
Turkle, Sherry (1998). Leben im Netz. Identität im Zeitalter des Internet. Reinbek: Rowohlt.
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60 Jahre merz Buchklassiker
(Ehemalige) merz-Redakteurinnen und -Redakteure empfehlen medienpädagogische Klassiker: Dazu haben sie jeweils eine ihrer liebsten, interessantesten, herausforderndsten, wichtigsten ... Publikationen aus dem Regal gezogen, aus der sie heute noch Gewinn und Anregungen ziehen.
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Sherry Turkle, eine am bekannten MIT arbeitende Psychoanalytikerin, hat sich vor allem mit der psychoanalytisch rekonstruierten Bedeutung der ‚Wunschmaschine Computer‘ und des Internets beschäftigt. In Leben im Netz stellt sie auf Basis qualitativer Interviews und eigener Erfahrungen auf sensible und empathische Weise dar, welche großartigen neuen Potenziale die digitalen Medien beinhalten, ohne dabei deren Gefahren zu übersehen. Unbedingt lesenswert, auch wenn es in der Vor-Facebook-Zeit geschrieben wurde: Damals war das Netz noch kein gigantischer Marktplatz und auch noch nicht von den heutigen Internetgiganten beherrscht, sondern eine zu erkundende und zu gestaltende neue Realität! In Turkles späteren Arbeiten wurde ihr Ton kritischer – aber es wird deutlich, dass nicht die Potenziale der Medienentwicklung die wachsenden Probleme erzeugen, sondern die Art des Umgangs mit diesen Medien, zu der Kinder und Jugendlichen durch Industrie und Ökonomie verführt bzw. veranlasst werden.
Dr. Friedrich Krotz ist Professor für Kommunikations- und Medienwissenschaft mit dem Schwerpunkt soziale Kommunikation und Mediatisierungsforschung an der Universität Bremen. Er ist Koordinator des DFG-Schwerpunktprogramms 1505 „Mediatisierte Welten“. Seit 2006 ist er im Beirat von merz | medien + erziehung tätig.
Grünewald, Dietrich/Kaminski, Winfried (Hrsg.) (1984). Kinder- und Jugendmedien. Ein Handbuch für die Praxis. Weinheim und Basel: Beltz.
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60 Jahre merz Buchklassiker
(Ehemalige) merz-Redakteurinnen und -Redakteure empfehlen medienpädagogische Klassiker: Dazu haben sie jeweils eine ihrer liebsten, interessantesten, herausforderndsten, wichtigsten ... Publikationen aus dem Regal gezogen, aus der sie heute noch Gewinn und Anregungen ziehen.
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Spätestens mit dem Erfolg der Vorschulserie Sesame Street und ihrer internationalen Vermarktung seit Ende der 1960er-Jahre war offenkundig, dass auch Medien für Kinder den globalen Konditionen des Medienmarktes unterliegen. Ob und wieweit sie von deren Imaginations- und Vorstellungswelten zunehmend geprägt werden, wird seither leidenschaftlich diskutiert. Die sich bald formierende Medienwissenschaft für Kindermedien interessierte sich vor allem für Produkte, Genres und Inhalte in ihren jeweiligen medialen Figurationen und Verflechtungen. 1984 gaben die Kunst- und Literaturdidaktiker Dietrich Grünewald und Winfred Kaminski erstmals ein ‚Handbuch für die Praxis‘ zu Kinder- und Jugendmedien heraus. Sie begründeten ihre neue, ganzheitliche Sichtweise zum einen mit dem geschärften Blick auf die Kindheit – nach dem französischen Historiker Philippe Ariès –, zum anderen mit besagter kommerzieller Verquickung der Kindermedien. Die Artikel greifen daher nahezu jedes Medium auf: unter den Oberkategorien ‚Druck‘, ‚bewegtes Bild‘, ‚Audio‘, ‚Theater‘ und ‚Spielzeug‘. Diese Einteilung ist (noch) nicht trennscharf; zudem fehlen Computer, Konsole- und Videospiele gänzlich.
Interessant und bis heute ergiebig sind aber die beiden anderen Zugänge, hier – nicht ganz passend – unter ‚Aussage‘ gefasst: Zum einen sind es ‚Inhalte‘ (besser ‚Themen‘) wie Arbeitswelt, Behinderte, Gewalt, Liebe/Sexualität, Realität, Sport, Werbung, die in den diversen Medien behandelt, verklärt oder auch benutzt werden; zum anderen Gattungen bzw. Genres wie Abenteuer, Krimi, Science Fiction und Western.Die sich vielfältige weiterentwickelnde spezifische Medienwissenschaft beeindruckte mit vielen Befunden und Einblicken und überzeugte darin, dass der Kindermedienmarkt kontinuierlich einer kritischen Sichtung und Analyse bedarf. Allerdings scheint inzwischen das medienwissenschaftliche Interesse für Kindermedien nachgelassen zu haben; vielleicht lässt sich ihr ständig üppiger sprießender Markt nicht mehr angemessen überblicken. Aber brauchen Medienpädagoginnen und -pädagogen nicht just solch sachliche Einsichten in die Welten der kindlichen Illusionen und Begierden, um aktuell und kompetent arbeiten zu können? Darüber wäre zu diskutieren.
Dr. Hans-Dieter Kübler war Professor für Medien-, Kultur- und Sozialwissenschaften an der Hochschule für angewandte Wissenschaften Hamburg und Privatdozent an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Von 2004 bis 2014 war er als Gutachter und im Beirat von merz | medien + erziehung tätig.
Fritz, Jürgen (Hrsg.) (1988). Programmiert zum Kriegsspielen. Weltbilder und Bilderwelten im Videospiel. Frankfurt am Main: Campus (bpb).
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60 Jahre merz Buchklassiker
(Ehemalige) merz-Redakteurinnen und -Redakteure empfehlen medienpädagogische Klassiker: Dazu haben sie jeweils eine ihrer liebsten, interessantesten, herausforderndsten, wichtigsten ... Publikationen aus dem Regal gezogen, aus der sie heute noch Gewinn und Anregungen ziehen.
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Wenn man Titel von Ratgebern zur Medienerziehung liest, ist man nicht selten geneigt, sie eher in der Horror- oder Thrillerabteilung zu suchen als im Regal der Erziehungsratgeber. Da macht das Buch Programmiert zum Kriegsspielen, herausgegeben von Jürgen Fritz, keine Ausnahme. Aber anders als der Titel vermuten lässt, ist das 1988 erschienene Buch eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Faszination, die Videospiele auf Jugendliche ausüben. Auch wenn die heutige Welt der Computerspiele nicht mehr mit der von 1988 vergleichbar ist, wurde in diesem Buch bereits versucht, die Faszination zu ergründen, die Videospiele ausüben und den einfachen Kausalzusammenhang zwischen Gewalt im Spiel und im realen Handeln Jugendlicher zu relativieren. Die zehn Thesen von Jürgen Fritz zur Wirkung von Videospielen sind heute noch ein interessanter Ausgangspunkt, wenn man sich mit der Wirkungsweise von Computerspielen beschäftigt. Jürgen Fritz hat mit seiner langjährigen Forschungsarbeit zum Thema Computerspiele einen Meilenstein in der Medienpädagogik gesetzt, indem er auch diese Spiele zunächst wie jedes andere Brett- oder Gesellschaftsspiel bewertete und sodann die Faszination beleuchtete, die sich aus dem Spielen am PC ergibt. Das Buch Programmiert zum Kriegsspielen ist eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem Phänomen Computerspiele. Es kann auch heute ein Impulsgeber für die Diskussion um moderne Computerspielwelten darstellen.
Klaus Lutz ist pädagogischer Leiter des Medienzentrum PARABOL e. V. in Nürnberg, Fachberater für Medienpädagogik in Mittelfranken, Dozent an der Simon-Georg-Ohm Hochschule Nürnberg sowie stellvertretender Vorsitzender des JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis. Seit 2011 ist er in der Redaktion von merz | medien + erziehung tätig.
Röll, Franz J. (2003). Pädagogik der Navigation. Selbstgesteuertes Lernen durch Neue Medien. München: kopaed.
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(Ehemalige) merz-Redakteurinnen und -Redakteure empfehlen medienpädagogische Klassiker: Dazu haben sie jeweils eine ihrer liebsten, interessantesten, herausforderndsten, wichtigsten ... Publikationen aus dem Regal gezogen, aus der sie heute noch Gewinn und Anregungen ziehen.
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In der heutigen Zeit navigieren uns Computer durch den Alltag. Kaum jemand versucht mehr, sich eine Fahrroute über das mühsame Studium von Karten oder Stadtplänen zu erarbeiten, man lässt sich fast ausschließlich von einer Computerstimme von A nach B lotsen. Der Begriff der Navigation hat im Jahr 2003 bei Franz Josef Röll jedoch eine ganz andere Bedeutung: Nicht Computer sind die Navigatoren, die er im Bildungsprozess einfordert, sondern er will die Transformation des Lehrenden (der alles Wissen in sich trägt) zum Navigator, der durch Begleitung und ‚Störungen‘ des Lernprozesses selbstgesteuertes Lernen befördert und dieses durch die Bereitstellung von Medien ermöglicht. Bezugnehmend auf die Debatte über Medienkompetenz stößt Franz Josef Röll mit seinen Thesen neue Türen auf. Nicht die Medien als Instrument des Lehrens stehen im Zentrum seiner Überlegungen, sondern die durch die Medien veränderten Lebensbedingungen, die ein neues Verständnis von Lernen erforderlich machen. „Vom Lehrer zum Mentor“ ist die von ihm geforderte Transformation. Sicherlich ist dies im Diskurs der Bildung keine neue Forderung. Dies macht aber auch die Stärke seiner Überlegungen aus. In der Tradition der Reformpädagogik untermauert er seine Forderungen nach Veränderung der Bildungslandschaft mit Blick auf die revolutionär veränderten Lebenswelten durch Medien. Die Medien verändern unsere Wahrnehmung und unser Denken und führen somit zu neuen Identitätskonstruktionen. Im Rahmen dieser neuen Identitätskonstruktionen plädiert er für die Vermittlung von ‚Wahrnehmungskompetenz‘ und hebt die Bedeutung der Bildkommunikation in der Mediengesellschaft hervor. In Anbetracht der hohen Nutzungszahlen von YouTube heute sind seine Gedanken von 2003 durchaus visionär.Das Buch von Franz Josef Röll ist ein Kompass durch den Mediendschungel für all jene, die sich ernsthaft mit Medienpädagogik beschäftigen.
Klaus Lutz ist pädagogischer Leiter des Medienzentrum PARABOL e. V. in Nürnberg, Fachberater für Medienpädagogik in Mittelfranken, Dozent an der Simon-Georg-Ohm Hochschule Nürnberg sowie stellvertretender Vorsitzender des JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis. Seit 2011 ist er in der Redaktion von merz | medien + erziehung tätig.
Beitrag aus Heft »2016/02: 60 Jahre merz – 60 Jahre Medienpädagogik«
Autor: Klaus Lutz
Beitrag als PDFEinzelansichtNegt, Oskar/Kluge, Alexander (1972). Öffentlichkeit und Erfahrung. Zur Organisationsanalyse von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
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60 Jahre merz Buchklassiker
(Ehemalige) merz-Redakteurinnen und -Redakteure empfehlen medienpädagogische Klassiker: Dazu haben sie jeweils eine ihrer liebsten, interessantesten, herausforderndsten, wichtigsten ... Publikationen aus dem Regal gezogen, aus der sie heute noch Gewinn und Anregungen ziehen.
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Oskar Negt und Alexander Kluge haben 1972 mit ihrem gemeinsam verfassten Werk eine umfassende und fundierte Öffentlichkeits- und Medienkritik vorgelegt. So analysieren die Autoren unter anderem ausführlich die Lebenswelt der Menschen unter den gegebenen ökonomischen Bedingungen und leiten daraus ab, dass die Zerrissenheit dieser Lebenswelt zu einer Blockierung gesellschaftlicher Erfahrung führt. Dadurch kann der Einzelne seine eigene Position in dieser Gesellschaft nicht mehr objektiv bzw. authentisch wahrnehmen. Die Massenmedien als Instrumente bürgerlicher Öffentlichkeit verstärken die Blockierung des Bewusstseins. Um dies zu ändern, plädieren sie für die Herstellung von Gegenöffentlichkeit als Vorform proletarischer Öffentlichkeit, worunter sie den Prozess der Emanzipation der lohnabhängigen Menschen verstehen oder einfacher: eine neue, vernünftig organisierte Gesellschaft. Mir hat dieses Buch viele Erkenntnisse und Anregungen für meine eigene medienpädagogische Arbeit, vor allem für die konzeptionelle Begründung aktiver Medienarbeit gegeben.
Dr. Fred Schell war geschäftsführender Direktor des JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis. Von 1994 bis 1998 war er in der Redaktion und von 1999 bis 2001 im Beirat von merz | medien + erziehung tätig.
Beitrag aus Heft »2016/02: 60 Jahre merz – 60 Jahre Medienpädagogik«
Autor: Fred Schell
Beitrag als PDFEinzelansichtSontag, Susan (2003). Das Leiden anderer betrachten. München: Carl Hanser Verlag.
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60 Jahre merz Buchklassiker
(Ehemalige) merz-Redakteurinnen und -Redakteure empfehlen medienpädagogische Klassiker: Dazu haben sie jeweils eine ihrer liebsten, interessantesten, herausforderndsten, wichtigsten ... Publikationen aus dem Regal gezogen, aus der sie heute noch Gewinn und Anregungen ziehen.
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Die medial weltweit – mittlerweile fast zeitgleich zum Geschehen – verschickten Bilder der Gewalt, des Krieges und des Terrors, die Flut der ‚miterlebten‘ Tragödien überschwemmen die Menschen. Die Frage, ob diese Bilder abstumpfen oder dazu ermutigen, sich gegen Fanatismus und Töten zu engagieren, behandelt Susan Sontag bereits in ihrem 2003 erschienenen Essay Das Leiden anderer betrachten, der einen kulturgeschichtlichen Bogen von den Anfängen der Kriegsdokumentation bis Afghanistan spannt. Nachrichten und (Krieg-/Terror-)Bilder sind nicht zur bloßen Unterhaltung geworden und lassen die Menschen nicht gleichgültig zurück. Denn „die Bilder sagen: Menschen sind imstande, dies hier anderen anzutun – vielleicht sogar freiwillig, begeistert, selbstgerecht“. Und sie sagen auch: „Setz dem ein Ende, interveniere, handle“. Dazwischen aber muss die Frage stehen, was diese Bilder des Leidens im Betrachter auslösen. Die eigenen Reaktionen und das Wissen über Absenderinnen und -sender bzw. Adressatinnen und Adressaten sowie das Medium zu hinterfragen ist das Eindrücklichste, was man aus diesem Essay immer wieder mitnimmt.
Claudia Schmiderer arbeitet als freiberufliche Publizistin und Dozentin. Ihre Schwerpunkte sind Europäische Kunst- und Kulturgeschichte, Sozialgeschichte Deutschlands nach 1945, urbane Zukunft sowie Medienforschung und Bildwissenschaft. Von 2001 bis 2004 war sie verantwortliche Redakteurin von merz | medien + erziehung.
Baacke, Dieter (1980). Kommunikation und Kompetenz. Grundlegung einer Didaktik der Kommunikation und ihrer Medien. München: Juventa.
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60 Jahre merz Buchklassiker
(Ehemalige) merz-Redakteurinnen und -Redakteure empfehlen medienpädagogische Klassiker: Dazu haben sie jeweils eine ihrer liebsten, interessantesten, herausforderndsten, wichtigsten ... Publikationen aus dem Regal gezogen, aus der sie heute noch Gewinn und Anregungen ziehen.
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In diesem Grundlagenwerk hat Dieter Baacke dargelegt, dass Kommunikation insbesondere im Zeitalter der Massenkommunikation nicht einfach nur stattfinden kann, sondern es nötig ist, Kommunikation zu erlernen. Kommunikation wird somit als Lernziel definiert. Es gilt, kommunikative Kompetenz zu erlangen, ganz besonders in Bezug auf die Massenkommunikation. Damit hat Baacke die Grundlage für die Entwicklung und Ausformung des Begriffs Medienkompetenz gelegt. Für ihn ist „Medienkompetenz eine moderne Ausfaltung der kommunikativen Kompetenz“ (Baacke in Schell et al. 1999, S. 19) und besteht aus vier Dimensionen: Medienkunde, Medienkritik, Mediennutzung und Mediengestaltung. Auch wenn die Definition von Medienkompetenz gerade im Zeitalter von Internet und sozialen Netzwerken immer wieder diskutiert wird, hat Baackes Definition nichts an Aktualität verloren und gilt noch heute als Basis für die medienpädagogische Arbeit. LiteraturSchell, Fred et al. (Hrsg.) (1999). Medienkompetenz. Grundlagen und pädagogisches Handeln. München: kopaed, S. 19
Elke Stolzenburg ist medienpädagogische Referentin am Medienzentrum München des JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis. Ihr Schwerpunkt ist Medienarbeit mit Mädchen. Von 1994 bis 2001 war sie in der Redaktion von merz | medien + erziehung tätig.
Theunert, Helga/Lenssen, Margrit/Schorb, Bernd (1995). „Wir gucken besser fern als ihr!“ Fernsehen für Kinder. München: KoPäd.
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60 Jahre merz Buchklassiker
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„Da kann man was lernen von der Welt“ (S. 70), so hat eine Elfjährige vor gut 20 Jahren ihre Begeisterung für das Fernsehen begründet. Generell lassen sich Kinder schnell vom Fernsehprogramm begeistern und können dabei alles um sich herum vergessen. Aber Kinder verstehen Fernsehen auch – anders: Mit zunehmendem Alter und wachsender Fernseherfahrung verändern sich Verständnis und Vorlieben, Nutzung und Umgangsweisen, Auswahl und Erwartungshaltungen. Helga Theunert, Margrit Lenssen und Bernd Schorb haben das in den 1990er-Jahren aus Kindersicht auf Basis einer Auswahl an Forschungsergebnissen aufgedröselt. Zwar gehen die technischen Möglichkeiten heute weit über den Apparat im häuslichen Wohnzimmer hinaus und manche der aufgeführten Sendungstipps und Fallbeispiele sind nicht mehr ganz aktuell, die kindliche Faszination folgt aber noch immer ihren eigenen Strukturen. Kinder sind noch immer Fernsehanfängerinnen und -anfänger. Die Publikation gewinnt damit heute sogar eine neue Bedeutung: Sie liefert das Angebot, die Fernsehwelt durch Kinderaugen zu sehen und zu verstehen – völlig unabhängig davon, dass das Gerät so einiges mehr bietet als im Fernsehprogramm steht.
Swenja Wütscher ist Mitarbeiterin am JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis sowie im kopaed Verlag. Seit 2013 arbeitet sie in der Redaktion von merz | medien + erziehung, seit 2015 als verantwortliche Redakteurin.
Beitrag aus Heft »2016/02: 60 Jahre merz – 60 Jahre Medienpädagogik«
Autor: Swenja Wütscher
Beitrag als PDFEinzelansichtBenjamin, Walter [1936] (2011). Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Stuttgart: Reclam.
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60 Jahre merz Buchklassiker
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Es ist ein kompaktes Werk, gerade mal knapp 70 Seiten im gelben RECLAM-Heft, das Walter Benjamin auf der Flucht vor dem Nazi-Regime im Pariser Exil geschrieben hat. Künste, Ästhetisches, Wahrnehmung und die damals aktuelle Mediendynamik werden hier entsprechend der darin vorhandenen Verbundsinnovation und Expansionserwartungen verknüpft. So ist das Werk sowohl zugespitzt analytisch komplex wie prophetisch innovativ. Thema sind vor allem die kulturell-ästhetische Transformation vom auratischen, ritualisierten, vor allem historischen Kunstwerk zum technisch (re-)produzierbaren Medienprodukt – damals etwa Druck, Foto, Film, Rundfunk. Die Veränderung betrifft ‚Original‘ und ‚Aura‘, ‚Einmaligkeit‘, ‚Einzigkeit‘ und den elitären Kultcharakter klassischer Künste hin zu kulturell-medialem ‚Schmutz und Schund‘. Benjamin befreit massenhaft reproduzierbare Medienprodukte von der Obsoleszenz des Minderwertigen – weil reproduzierbar und unabhängig von Zeit und Raum präsentabel.
Es ist eigentlich ein Plädoyer für ‚Kultur von, für, mit allen‘ – Jahrzehnte bevor diese Parole in den 1970er-Jahren prominent wurde. Eine zentrale Aussage: „Innerhalb großer geschichtlicher Zeiträume verändert sich mit der gesamten Daseinsweise der menschlichen Kollektiva auch die Art und Weise ihrer Sinneswahrnehmung“ (S. 16). Benjamin schlägt eine erweiterte Neubesetzung des Ästhetischen, Künstlerischen, Kulturellen im medialen Kontext vor und dies ist gerade medienbildend und medienpädagogisch relevant: Medien sind ein sparten- und fachübergreifendes lebensweltliches Phänomen – sie gehen alle überall an. Die expansive Digitalisierung beweist und realisiert Benjamins Vision.Die „Masse ist eine Matrix: Die Quantität ist in Qualität umgeschlagen. Die sehr viel größeren Massen der Anteilnehmenden haben eine veränderte Art des Anteils hervorgebracht“ (S. 49). Diese Analyse am Beispiel Film – neu beispielsweise auf Internet bezogen – hat mich von der Genialität und Langzeitperspektive des Textes fasziniert und überzeugt.
Dr. Wolfgang Zacharias ist Vorstand des Vereins Pädagogische Aktion/SPIELkultur e. V. sowie Honorarprofessor für Kultur- und Spielpädagogik an der Hochschule Merseburg. Seine Schwerpunkte sind unter anderem Kinder- und Jugendkultur sowie Kulturelle Bildung. Von 2004 bis 2006 war in der Redaktion von merz | medien + erziehung tätig.
McLuhan, Marshall (1968). Die magischen Kanäle. Understanding Media. Düsseldorf/Wien: Econ-Verlag.
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60 Jahre merz Buchklassiker
(Ehemalige) merz-Redakteurinnen und -Redakteure empfehlen medienpädagogische Klassiker: Dazu haben sie jeweils eine ihrer liebsten, interessantesten, herausforderndsten, wichtigsten ... Publikationen aus dem Regal gezogen, aus der sie heute noch Gewinn und Anregungen ziehen.
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1964 im englischen Original erschienen beschreibt dieser spekulative und analytische Text die Transformationen durch die globale Medialität geradezu prophetisch als ‚Extension of Man‘ – ‚Erweiterung der menschlichen Sinne und Kommunikationen‘. McLuhan prägte medienrelevante Begrifflichkeiten, die bis heute Faszination ausüben undRelevanz haben: bereits 1962 in seiner ‚Gutenberg-Galaxie‘. 1968, als Die magischen Kanäle erstmals auf deutsch erschienen, faszinierten sie – auch im damaligen gesellschaftlich-pädagogischen Veränderungsinteresse – sofort mit der Ansage: Das Zeitalter der Buchdominanz ist vorbei. Ein Abschied von 500 Jahren Buchkultur. Das Vorwort zur deutschen Ausgabe prognostiziert dazu: „Und das ist doch mit das Wesentlichste und Bedeutendste, was ich bisher über die Welt, die ich sehe und in der ich lebe, gelesen habe.“ Es geht um neue kommunikative und sich transformierende Verhältnisse der menschlichen Sinne und Wahrnehmungen sowie der medialen Apparate und Netze: Medien als ‚Ausweitung‘. Die zentrale Ansage ist gleich die Überschrift des ersten Kapitels: „Das Medium ist die Botschaft“ (S. 13).
Alles Weitere ist eigentlich Illustration und Beweisführung: Worte, Auge, Zahl, Kleidung, Geld, Zeit, Comics, TV, Presse, Auto, Sport, Telefon, Grammophon, Kino, Radio et cetera.Es ist das Medium, das Inhalt, Meinung, Ausdruck vermittelt, das Kommunikation bedeutet, mit welchen Interessen auch immer: gut und schlecht, sozial und herrschaftlich, individuell und kollektiv. Es geht um die Art und Weise, die Form – und neu deren globale Vermittelbarkeit, maschinenbedingt und massenrelevant, aber auch kontrolliert, prinzipiell von/für/mit allen. Eine Konsequenz: „Wenn die gestaltende Kraft bei Medien die Medien selbst sind so ergibt sich darauf eine Vielzahl von Fragekomplexen“ (S. 28). Diesen geht McLuhan auf 380 Seiten nach. Der großartige ‚Schock‘ des Buches ist eigentlich eine ästhetisch-künstlerisch-kulturelle Binsenweisheit – und zugleich ein maximaler Treffer: Dass die Form selbst Inhalt ist, Inhalte definieren und dominieren kann. Richtung 2000 (damals) global, technologisch, maschinell und potenziell von/für/mit allen und alle existentiellen menschlichen Kontexte betreffend: Sozusagen ‚magisch‘. Das war (damals) befreiend und faszinierend. Zu Recht.
Dr. Wolfgang Zacharias ist Vorstand des Vereins Pädagogische Aktion/SPIELkultur e. V. sowie Honorarprofessor für Kultur- und Spielpädagogik an der Hochschule Merseburg. Seine Schwerpunkte sind Kinder- und Jugendkultur sowie Kulturelle Bildung. Von 2004 bis 2006 war in der Redaktion von merz| medien + erziehung tätig.
publikationen
Philipp Walulis: Von Wirklichkeit und Wahnsinn
Das Ende der 1980er-Jahre in Deutschland war eine bewegte Zeit: David Hasselhoff demontierte im Alleingang den antikapitalistischen Schutzwall, Atomstaub aus Tschernobyl legte sich als strahlender Schleier des Fortschritts auf hiesige Heime und findige Fernsehproduzierende kamen auf die wohl irrste Idee: Den Alltag in Deutschland portraitieren. Allerdings mussten ein bisschen Aufregung und menschliche Schicksale schon sein. Daher entschied man sich, Krankenhäuser, Fabriken und soziale Einrichtungen mit der Kamera zu besuchen und auf spannende Geschichten oder zumindest bewegende Schicksale zu stoßen.Jetzt ist es allerdings so: Weder Zuschauende noch TV-Produzierende lieben Überraschungen. Doch eine Reportage bietet – zumindest im Herstellungsprozess – einen ganzen Haufen davon: Der vermeintlich faule Hartz IV-Empfänger entpuppt sich während der Dreharbeiten als strebsamer Arbeiter und Familiendramen sind nach einem gemeinsamen Glas Fernet Branca gelöst. So sehr diese Entwicklungen für das zwischenmenschliche Miteinander zu begrüßen sind, so sehr gehen sie für den TV-Produzierenden ins Geld – denn solch harmonisches Material ist unsendbar.
Idealerweise setzt sich die Familie für eine Privatfernsehreportage so zusammen: Der Familienvater ist übergewichtig, die Frau geht auf den Strich, der Sohn vertickt Drogen und die Tochter ist übergewichtig, geht auf den Strich und vertickt Drogen.
Publikum und Sender gierten nach eben solchen Dramen, Katastrophen und Abgründen, die für die Produzierenden aber immer schwerer zu liefern waren. Was tun in der Not? Die einfache wie geniale Lösung: Laiendarstellerinnen und -darsteller ohne Erfahrung und Drehbücher auf Groschenroman-Niveau. Die sich wacker am Skript abmühenden Hobbydarstellenden werden in ihrer natürlichen, prekären Situation belassen und mit einer pseudo-dokumentarisch verwackelten Kamera gefilmt. Fertig ist die Scripted Reality-Reportage.Da das Spiel dieser Laienkomparsinnen und -komparsen aber nicht immer klar und schlüssig ist, muss ein überdramatisierender Sprecher das gerade Gesehene noch einmal zusammenfassen. Außerdem darf nach jeder Szene die Figur in einer Art Innenschau eigene Emotionen und Intentionen dem Publikum direkt mitteilen, um so auch die letzten Zweifel und Verwirrungen seitens der Betrachtendenauszuräumen. Durch diese Redundanz werden en passant Drehbuchschwächen, fehlendes Schauspieltalent und aufgrund der schnellen und extrem billigen Produktionsweise unweigerlich auftretende Produktionsfehler effizient weggebügelt.
Der Knallchargen-Sender RTL ist sich nicht zu blöd, seinen gesamten Nachmittag mit dieser Produktionsmethode zu füllen. Die Namen der Sendungen sind ähnlich fantasievoll wie die Geschichten: Von Familienfälle über Verdachtsfälle bis Betrugsfälle werden Permutationen des immer gleichen Themas dem weggedösten Publikum kredenzt. Das Ergebnis sind dramaturgische Meisterwerke mit vielversprechenden Folgentitel wie Durchgeknallte FKK-Mutter blamiert Familie, Der Traumbusen, Süchtig nach Schnittkäse oder Zu dick für den Führerschein.Aber ist der Ruf des Senders erst ruiniert, könnte der Sender das Scripted Reality-Konzept auch gleich auf das gesamte Programm ausweiten: Gameshows ließen sich nach Drehbuch gestalten oder die Nachrichten mit Laiendarstellenden einfach für Monate vorproduzieren. Dass kleingeistige Menschen hier von Fake oder Betrug sprechen würden, sollte die Programmverantwortlichen nicht weiter grämen – haben sie doch über Jahre hinweg ihre Verachtung dem Publikum gegenüber beeindruckend demonstriert.
Beitrag aus Heft »2016/02: 60 Jahre merz – 60 Jahre Medienpädagogik«
Autor: Philipp Walulis
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Kati StruckmeyerVerantwortliche Redakteurin
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