2002/06: Patriotismus
thema
Rudolf Maresch: Are you passionate?
Seit 50 Jahren wurde den Einwohnern der Vereinigten Staaten wiederholt und ständig gesagt, dass sie das einzig fromme, aufgeklärte und freie Volk seien. Sie [...] haben eine immens hohe Meinung von sich selbst, und es fehlt nicht viel, dass sie glauben, eine Art von Species jenseits der menschlichen Rasse zu sein.Alexis de Tocqueville, Demokratie in AmerikaPatriotismus ist eine Erfindung der europäischen Frühmoderne – auch wenn seine Wurzeln vermutlich bis ins alte Rom zurückreichen. Laut Dirk Richter zeichnet er sich dadurch aus, dass er eine strikte Trennung zwischen „Wir“ und „Ihr“ zieht, das Eigene positiv besetzt und das Andere abwertet.
Trotz dieser klaren Parteinahme für das Bekannte, Vertraute und Überlieferte hält der Patriot ein friedliches Nebeneinander (Koexistenz) zwischen Nachbarn, Staaten und Kulturen grundsätzlich für möglich. Der aufrechte Patriot ist kein „Halunke“, wie Voltaire vermutete, sondern versteht sich zugleich als Weltbürger, der „das Wohlergehen der Menschheit zu seiner Sache macht“ (Enzyklopédia). Die Kluft zwischen dem Partikularen und dem Allgemeinen überbrückt eine universalistische Moral, die im Staatsbürger konkrete Gestalt und tätige Form annimmt. Sie garantiert, dass dieser seine Rechte nicht über die der Menschheit erhebt...
( merz 2002/06, S. 347 - 355 )
Georg Seesslen: Wie deutsch ist es?
Patriotismus ist eine Empfindung, womöglich nicht viel weniger fundamental als Impulse des Erotischen, des Religiösen, des Kulturellen, aber offenkundig dynamischer, instabiler und in gewissem Sinne ungenauer. Vom Nutzen solcher Impulse ist genug die Rede, von ihrer Gefährlichkeit muss man niemanden überzeugen, der sich je ein paar Geschichtsbücher vorgenommen hat. Das Subjekt von "Patriotismus" ist so wenig eindeutig wie das Objekt; ICH kann nur patriotisch sein, sofern WIR es sind.
Die schöne Idee vom "Verfassungspatriotismus", also die mehr oder weniger glühende Zuneigung und Verteidigung eines Textes, in dem Rechte und Pflichten der Menschen in einem bestimmten staatlichen Zusammenhang geregelt sind, erscheint daher als eine etwas karg-utopische Idee eines Ich-Patriotismus. Und das Objekt des Patriotismus - nennen wir es "Deutschland" – wie sollten wir das definieren?Zwei widersprüchliche Möglichkeiten bieten sich schon im Kern an: die Nation als ein historischer Zusammenschluss mit Interessen und Grenzen, als kontrollierter Wirtschaftsraum einerseits, und das Volk als Zusammenhang von "Rasse", Kultur, Sprache und Religion (machen wir uns nichts vor: einen "deutschen Muslim" können wir uns immer noch schwer vorstellen, auch wenn es genügend und ausgesprochen freundliche Beispiele dafür gibt). Patriotismus, so scheint es, funktioniert als nützlich-gefährlicher Impuls nur, wenn uns der Widerspruch zwischen beiden Konstruktionen, einer rationalen und einer mythischen, nicht recht zu Bewusstsein kommt.
Vielleicht ist Patriotismus auch eines der vielen Mittel, eben diesen Widerspruch zu lösen: Der Impuls richtet sich auf ein Sowohl-als-auch. Aber zur gleichen Zeit trägt er wohl die Gefahr der Spaltung in sich, und der völkische Patriotismus, der zum deutschen Faschismus geführt hat, dürfte seinen Schrecken in der Geschichte nie verlieren. Eine "normale Nation" zu werden ist daher für Deutschland nicht allein deswegen so schwierig, weil eine "normale Nation" nirgendwo auf der Welt existiert, sondern auch, weil die völkische Perversion des Patriotismus noch nicht einmal aufgearbeitet, geschweige denn überwunden ist. Immer noch, und im Gegensatz zu anderen "normalen" Nationen definieren unsere Gesetze und unsere Gebräuche das Deutschsein eher völkisch als national, durch "Blut" statt durch Entscheidung, eher durch Gefühl als durch Wissen...
( merz 2002/06, S. 356 - 359 )
Hartmut Gieselmann: Virtuelle Stahlgewitter
Die Kriegssimulation „Americas Army“, die von der US-Armee gezielt zur Rekrutenwerbung eingesetzt wird, hat die Diskussion um Militarismus und die Funktion von Computerspielen als virtuelle Kriegspropaganda neu entfacht. Realistische Kriegsszenarien erfreuen sich derzeit großer Beliebtheit, sei es nun der Zweite Weltkrieg oder die Jagd auf Terroristen. Neben „normalen“ Spielern und Hobbymilitaristen sind auch immer mehr Neo-Nazis bei den Online-Gefechten mit von der Partie.„Guten Morgen Rekrut, heute lernen sie den Umgang mit dem M16A2-Maschinengewehr, wodurch sie zur meist gefürchteten Kampfmaschine auf diesem Planeten werden: einem US-Army-Infanteristen.“ So beginnt die Ausbildung bei „Americas Army“, einem neuen Computerspiel, das die US-Armee ganz offiziell zur Rekrutenwerbung einsetzt und kostenlos über Spielezeitschriften und das Internet verteilt.
Das erste, was der Spieler zu lernen hat, ist Gehorsam. Er darf nur das tun, was die Regeln ihm erlauben und nur auf die Ziele schießen, die ihm befohlen werden. Bricht er die Regeln oder schießt auf Kameraden, landet er nach einer Verwarnung in der virtuellen Einzelzelle.„Americas Army“ ist ein so genannter Online-Shooter, bei dem zwei Parteien von bis zu 16 Mitspielern über das Internet gegeneinander kämpfen. Dabei gehört das jeweils eigene Team zur US-Armee, der jeweilige Gegner wird als Terrorist dargestellt. Bevor der Spieler jedoch an den Online-Kämpfen teilnehmen kann, muss er sich in diversen Trainingseinheiten als Ranger, Fallschirmspringer oder Scharfschütze qualifizieren. Die US-Armee registriert alle Spieler mit Usernamen und E-Mailadresse und speichert deren Fortschritte. Wer auf eigene Kameraden schießt oder im Chat Mitspieler beschimpft, wird von den offiziellen Servern ausgeschlossen.
Auch bei der virtuellen Armee herrscht Zucht und Ordnung.Das Spiel konzentriert sich auf die Gruppentaktik und die akkurate Simulation der Handfeuerwaffen. Erschießt man einen Gegner, setzt sich dieser nur hin. Pixelblut ist nicht zu sehen, weswegen das Spiel in den USA ab 13 Jahren freigegeben ist. Doch das Spiel zu beherrschen ist recht schwierig, was größtenteils an der akkuraten Techniksimulation liegt. Bei einem Scharfschützen bewegt sich etwa das Zielfernrohr im Atemrhythmus. Laut Werbung der Armee soll im Spiel alles genau so ablaufen, wie in der realen Ausbildung und bei den realen Einsätzen. „Americas Army“ ist also kein fiktives Spiel, sondern eine Simulation der Wirklichkeit mit dem Wahrheitsanspruch eines Dokumentarfilms. Dies mag auf die technischen Details zutreffen, die Darstellung der Opfer ist jedoch geschönt und präsentiert die Einsätze der US-Armee als sauberes, unblutiges Räuber-und-Gendarm-Spiel und zerstreut so jedwede kritischen Einwände gegen Kriegseinsätze...
( merz 2003/06, S. 360 - 365 )
Michael Haller: Der Journalismus: Rollenspieler im Medien-Theater
Wenn in der Mediengesellschaft von Journalismus die Rede ist, dann geht es in erster Linie um den Bedarf nach Orientierung: Die journalistischen Medien – darüber besteht zwischen Mediennutzern und Medienmachern weithin Konsens – haben zur Aufgabe, die Gesellschaft über das aktuelle Geschehen, so weit von allgemeinem Interesse, zu orientieren. In dieser Umschreibung fehlt das Wort Informationen. Bislang wurde es als Kern und Inhalt journalistischer Vermittlung gesehen und systemtheoretisch begründet. Natürlich geht es, wenn von Orientierung die Rede ist, auch um Information, d.h. um Aussagen über Vorgänge in der Realität, die zutreffend sein sollen.
Der Unterschied zur bedeutsam gewordenen Orientierungsfunktion ist folgender: Informationen können, , auch wenn sie zutreffen, also wahr sind, das Geschehene keineswegs verstehbar machen. Was haben die Fernsehzuschauer angesichts der Videobilder des 11. September vom Ereigniszusammenhang jener Katastrophe verstanden? Es waren Puzzlestücke, die erst zu einem Bild zusammenzusetzen waren und wohl noch immer – mehr als ein Jahr später – zusammenzusetzen sind. In der sich globalisierenden Mediengesellschaft ist das Zusammenbauen solcher Informationen nicht einfach. Selbst die unmittelbaren Geschehensabläufe sind transkulturell, gehören also unterschiedlichen Sinnkontexten an, die sich nicht über faktische Informationen erschließen lassen.
Doch der Zusammenbau fällt umso leichter, je mehr sich Journalisten und Rezipienten an ihren Vor-Bildern und –Urteilen orientieren. Jedes Puzzle fügt sich so in den einen, den schon bekannten Sinnkontext. Und je weniger Bausteine man zur Verfügung hat, desto stärker wirkt die Ordnungskraft des Vorurteils in unseren Köpfen. Die bedeutet, dass oftmals Orientierung nur vorgegeben, nur inszeniert wird – tatsächlich aber die überkommenen Selbst- und Fremdbilder als Klischées reproduziert, auch inszeniert werden: Selbstmörderische Palästinenser rund um Israel, Warlords in Afghanistan, fanatisch-durchgeknallte Tschertschenen...( merz 2002/06, S. 370 - 373 )
medienreport
Claudia Schmiderer: Ein ganz normaler Tag in Amerika
Michael Moore, 1954 in Flint, Michigan, geboren, dort, wo 1999 die 6-jährige Kayla Rolland von einem gleichaltrigen Jungen erschossen wird, begann als Journalist und wurde als Dokumentarfilmer 1989 mit „Roger & Me“ berühmt. In diesem preisgekrönten Dokumentarfilm griff er die Massenentlassungen bei General Motors in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts auf, die verheerende Konsequenzen für die Autostadt Flint hatten. Neben weiteren ausgezeichneten Dokumentarfilmen, produzierte er verschiedene Serien und schrieb mehrere Bestseller.„Bowling for Columbine“ beginnt an einem ganz normalen Tag in Amerika, an dem Farmer ihre Felder bestellen, Milchmänner die Milchflaschen ausliefern, der Präsident Bomben über einem Land abwerfen lässt, dessen Namen wir nicht einmal aussprechen können, Lehrerinnen und Lehrer im ganzen Land ihre Schüler zu einem neuen Schultag begrüßen und zwei Jungs in Littleton, Colorado, zum Bowlingskurs gehen. An diesem 20. April 1999 sterben einige Stunden später 12 Schüler und ein Lehrer, zahlreiche Kinder und Jugendliche werden verletzt. Das Columbine Highschoole Massaker findet am gleichen Tag statt, an dem die USA die meisten Bomben über dem Kosovo abwerfen.
Angst hat KonjunkturDamit ist auch schon der Kreis beschrieben und die Frage gestellt, die sich durch Michael Moores gesamte Dokumentation zieht. Warum werden in den USA jährlich durchschnittlich 11.000 Menschen erschossen, mehr als in allen anderen Ländern, in denen genauso viele Waffen in Umlauf sind und die zurückliegende Geschichte zumeist noch gewalttätiger war? Seine Antwort beschreibt eine „Theory of Fear“: „Es gefällt uns, wenn man uns Angst einjagt. Wir lieben Horrorfilme und Halloween ... Aber es gibt da einen großen Unterschied. Im Kino Angst zu bekommen, ist eine Sache. Manipuliert zu werden durch Nachrichtensendungen, Reality-TV oder einen Präsidenten, der dir sagt, dass es irgendwo einen federführenden Bösewicht gibt, der dich jederzeit töten kann, das ist ein ganz andere Sache.“ Ausgehend von der heute allgegenwärtig auch durch die Medien geschürten Angst vor dem Terror der Gewalt, wird ein Comicfilm eingespielt, der diesen Ursachen nachgeht – angefangen bei den ersten Pilgern, die aus Angst vor Verfolgung nach Amerika kamen. Diese Geschichte erzählt dann von der Angst der Weißen vor Indianern, Hexen, vor den Briten und natürlich bis heute vor den Schwarzen. Heute sind ca. eine Viertelmilliarde Waffen in den Händen vorwiegend Weißer, die in vorstädtischen Wohngebieten ohne besonders auffällige Kriminalitätsraten leben. Und hier geht Michael Moore mit seinen unschuldig anmutenden Fragen nah an die Menschen heran, an die freiwilligen Milizionäre, die bis an die Zähne bewaffnet, sich und ihre Familie vor den Feinden schützen müssen, da es sonst niemand tut. Der Waffenbesitz darf laut Artikel 2 der amerikanischen Verfassung nicht eingeschränkt werden und Serienmorde wie die des „Snipers von Washington“ bestärken nur diese Haltung. Nur aus seiner „kalten, toten Hand“ lasse er sich die Waffe winden, so der Schauspieler Charlton Heston in seiner Paraderolle als Präsident der National Rifle Association (NRA), wobei er in Moores Film, im direkten Interview mit ihm stetig an Souveränität verliert und am Ende die Filmszene verlässt. „Ohne Waffen“, so James Drury, der einstige Westernheld der Serie „The Virginian“ aus den 60er-Jahren, „wäre Amerika verloren“.
Genauso verloren wie wahrscheinlich Kanada, wo Michael Moore nach den Ängsten der Menschen sucht, nach dem Grund dafür, dass sie ihre Häuser Tag und Nacht unverschlossen lassen. Nicht überall ist Amerika! Und dennoch, auch hierzulande überbieten sich die Berichterstattungen der Medien mit bedrohlichen Szenarien, auch Deutschland blickt auf eine Geschichte mit massenhaften Morden zurück, und auch hier gibt es Amokläufe wie der von Erfurt. Dennoch kann auch hierbei nicht alles mit Video- und Computerspielen und mit gewalthaltigen Filmen erklärt werden. Auf die sozialen Ursachen macht Moore aufmerksam im Fall des 6-jährigen Jungen aus seiner Heimatstadt Flint, der eine Mitschülerin erschossen hat und so die Aufmerksamkeit erfahren hat, die ihm sonst nicht zuteil wurde. Nicht zuteil werden konnte aufgrund der familiären Situation, da die Mutter gezwungen war, den ganzen Tag unterwegs zu sein, um Geld zu verdienen, das dann noch nicht einmal für die Miete reichte.What a wonderful worldDie Diskussion in Deutschland nach der Tat von Erfurt schwoll an, und vor allem die politischen Aussagen gingen dahin, dass künftig Gewalt grundsätzlich geächtet werden müsse. Nicht davon ist geblieben. Auch die Geschichte hat gezeigt, dass dies nur Formeln sein können. Moore hat in „Bowling for Columbine“, untermalt vom bekannten Evergreen „What a wonderful world“, das aggressive militärische Vorgehen der USA in den letzten 50 Jahren vorgeführt – in Chile, Persien/Iran, Panama, Vietnam, etc.
Dass diese Gewalt nicht isoliert gesehen werden kann von der häuslichen Gewalt, von den sozialen Problemen dieser Welt und von den Machtansprüchen der westlichen Regierungen, ist eine der Aussagen dieses Films. Vieles hat Michael Moore in seine Dokumentation gepackt, manchmal vielleicht etwas zu viel, vor allem aber seinen sozialkritischen Standpunkt. Gelungen ist ihm eine Annäherung an Geschichte und an eine Problematik, die keine monokausalen Zusammenhänge zulässt. Michael Donovan, einer der Produzenten von „Bowling for Columbine“, hat Michael Moore sowohl einen führenden amerikanischen Sozialkritiker als auchn eine der größten Patrioten bezeichnet. Das, so ist zu vermuten, werden allerdings „Heroen“ wie Charlton Heston nicht so sehen.
Erwin Schaar: Die Welt in unseren Gedanken
Gebundene und geheftete HerausforderungenEs war in den frühen 50er Jahren, der gefürchtete Gymnasial-Direktor betrat mit heftiger Bewegung das Klassenzimmer und forderte die sofort aus ihren Bänken geschossenen und nun aufrecht stehenden Kinder auf, den gesamten Inhalt ihrer Schultaschen zu entleeren. Der Zweck der intimen Durchsuchung war die Sicherstellung sogenannter Schundhefte mit Abenteuer- oder Cowboy-Geschichten. Billy Jenkins oder Tom Prox hießen z.B. die Helden unserer einfachen Sehnsüchte - geächtet von Lehrern und Eltern. Die Schund und Schmutz-Hysterie - was Film und Literatur betraf - trieb wenige Jahre nach der Diktatur absonderliche Blüten. Mit den restaurativen Tendenzen und der Wiedereinsetzung alter Kämpfer in ihre früheren Stellungen suchte ein rigider 'Jugendschutz' einen leicht zu bekämpfenden Feind.Zensur wurde und wird immer noch als ein probates Mittel angesehen, eine Gesellschaft in die Bahnen lenken zu wollen, die Machtausübenden für ihre Ziele gezogen haben. Und den sogenannten Sittenwächtern soll sie die Gewissheit geben, unlautere, zerstörende Gedanken und Handlungen für die Zukunft ungeschehen zu machen.Die Bayerische Staatsbibliothek hat in ihrer Reihe kleiner und feiner Ausstellungen eine Auswahl ihrer einst weggesperrten, also zensurierten Bücher in der Schau "Der Giftschrank. Remota" zusammengestellt. Die Bibliothek bezeichnet mit dem lateinischen Begriff Remota (weit entfernt, unbekannt) die Drucke, die aus verschiedenen Gründen und zu verschiedenen Zeitpunkten gesondert archiviert wurden.
Es waren Schriften, die nicht im öffentlichen Katalog verzeichnet und sehr schwer zugänglich waren.In sechs Abteilungen werden die einmal verbotenen Schriften präsentiert. Wie man sich denken kann, stehen die erotischen und politischen Bücher im Mittelpunkt der Ausstellung. Erstere begegnen uns als "gemeinschädliche erotische und sogenannte sexualwissenschaftliche Werke", wobei als zeitliche Schwerpunkte 1920 bis 1933 und 1950 bis 1970 gewählt sind. Die Zeit der Nazidiktatur brachte eine andere Art von Zensur: sie betraf die "antinationalsozialistische Literatur". Übrigens treffen wir bei den "gemeinschädlichen" Werken wieder die erwähnten Wildwest-Heftchen, denen die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften in den Fünfzigern besonders hinterher war. Die sittlich entrüstende Literatur reichte vom Roman der Wiener Dirne Josefine Mutzenbacher (ca. 1905) über Georg Queris "Kraftbayrisch" (1912) zu Hermann Kestens "Casanova" (1952) und des Sexualforschers Volkmar Sigusch "Exzitation und Orgasmus bei der Frau" (1970). Aber auch der "Weckruf für Eheleute! Mittel und Methoden zur wirksamen Empfängnisverhütung" (1951 !) hatte die Zensoren auf den Plan gerufen.In einer Exkursion in weiter zurückliegende Jahrhunderte wird Einblick in die Bibliothek eines hohen bayerischen Finanzbeamten (1762 - 1819) der Montgelas-Zeit gegeben: "Franz von Krenners schlüpfrige und schmutzige Bücher".
Dort mag der sittliche Kleingeist genügend erotisches Material finden, dem er auch heute keine Existenzberechtigung zubilligen wird.Die "Antinationalsozialistische Literatur" 1933 bis 1945 enthält u.a. Schriften zum Reichstagsbrand, zur Lage der Kirchen, zur Rassenpolitik ("Das Schwarzbuch. Tatsachen und Dokumente. Die Lage der Juden in Deutschland 1933"). Fach Remota V "Nur für den Dienstgebrauch", etwa 1955 entstanden, beinhaltet neben Publikationen für den Dienstgebrauch auch Schriften wie "Texte: der RAF", die 1977 in Malmö erschienen sind und 1978 in bundesdeutschen Buchläden beschlagnahmt wurden. Was bei den Bücherverbrennungen 1933 von der neuen 'Elite' vernichtet wurde, bildet Remota VI: "Bolschewistische, marxistische oder pazifistische Schriften". Dafür mögen Namen wie Annette Kolb, Irmgard Keun, Anna Seghers, Ernst Glaeser, Klaus Mann, Egon Erwin Kisch, George Grosz und und und stehen. Das deutsche Geistesleben wurde von Leuten bekämpft, die auch nach 1945 nicht alle verschwunden waren, nur frisch maskiert erneut tätig wurden.Gleichwohl sollte nicht verkannt werden, dass die heute noch oder wieder indizierten Bücher wie "Der Holocaust-Schwindel" oder "Kriegshetze gegen Deutschland" das Missfallen an der Zensur schon problematisieren. Eine gebildete, humane und tolerante Gesellschaft würde eigentlich keine benötigen, aber... Doch wer gibt dann die Kriterien vor?Medien-Trompe-l'OEilDer im Oktober in Italien angelaufene neue Film von Roberto Benigni, "Pinocchio", der als teuerster italienischer Film aller Zeiten gilt und das ganze Land in Begeisterung versetzte, hat vor allem an der Ausstattung nicht gespart. Kutschen, Möbel, Spielsachen wurden nicht als Kulissengegenstände erstellt, sondern mussten dem Wirklichkeitsanspruch Stand halten.
Die Filmgeschichte kennt mehrere solcher Fälle, in denen Utensilien oder das Ambiente trotz nur kurzen Auftauchens im Bild wie zum alltäglichen Gebrauch hergestellt oder gestaltet wurden. Der Täuschungsmöglichkeit des Filmbildes wurde nicht entsprochen, so als ob die wirkliche Wirklichkeit abgebildet werden sollte. Regisseure und Schauspieler scheinen dabei aus den 'harten Fakten' die Sicherheit für ihre Gestaltung gewinnen zu wollen, um den Zusehern bildlich zurufen zu können "Alles echt!".Aber es gibt auch die theoretisch reflektierenden Künstler, die gerade mit dem Gegenteil überzeugen möchten, die Alltägliches mit künstlichen Mitteln konstruieren und mittels der Bilder, die sie davon erstellen, uns davon überzeugen wollen, wie Bilder die Wirklichkeit real werden lassen können, wenn sie die Täuschung beabsichtigen. Der Österreicher Lois Renner versteht es, so den Betrachter in die Irre zu führen, wenn er mit kleinsten Modellen chaotisch ausstaffierte Räume in großformatigen Fotografien präsentiert, die sich erst durch bewusst gesetzte Details als Modellaufnahmen enttarnen. Die abfotografierte Puppenstubenwirklichkeit und das große Bildformat entsprechen Vexierbildern, bei denen eine Figur in eine andere umkippt, die ein ständiges Hin und Her beim Betrachten erzeugen können. Man erkennt die Winzigkeit der Gegenstände im Detail und hat wieder einen großen Raum vor sich, wenn das Bild als Ganzes rezipiert wird.
Der Müncher Thomas Demand, dessen Bilder und Filme noch bis 19. Januar im Münchner Lenbachhaus zu betrachten sind, konstruiert ebenso augentäuschende Bilder, die aber noch mit inhaltlichen Assoziationen der Betrachter gefüllt werden können oder sollen. Der Bildhauer Demand baut Räume und Gegenstände nahezu in realer Größe nach und markiert damit meist Ereignisse, die als reale Bilder in die Köpfe der Medienkonsumenten eingegangen sind. Was aber fehlt, sind die Personen, die diesen Räumen ihre kollektive Bedeutung verschafft haben. Dadurch müssen diese Bilder aber nicht mit medial geprägten Bedeutungen gefüllt werden. Sie können auch als Realitätsausschnitte abstrakt bleiben, als reines Trompe l'OEil verstanden bzw. erkannt werden. Die Abwesenheit von Personen irritiert zudem Kunstrezipienten durch den ästhetischen Minimalismus. Langsam mag sich dann die scheinbare Bedeutungslosigkeit der Abbildungen mit Assoziationen füllen, die aber individuell trotzdem verschieden sein werden, weil das gezeigte Ambiente als alltägliches figuriert, erst mit den unsichtbaren Protagonisten die konkrete Zuweisung erhalten würde.Der Blick in ein Badezimmer mit halb verdeckter wassergefüllter Wanne; die Pulte mit nummernlosen Telefonen und nicht angeschlossenen Kabeln, Lochkarten und Taschenlampen; Fahraufnahmen durch einen leeren Tunnel (mit zwei Einstellungen in einer Filmschleife) - die Werke heißen "Badezimmer" (1997), "Poll" (2001) und "Tunnel" (1999).
Die Bilder wurden von Thomas Demand den Vorgängen um den Tod Uwe Barschels, die umstrittene Wahl George W. Bushs bei der Lochkartenauszählung, den Tod von Lady Diana entnommen, mit Pappe im Atelier rekonstruiert, höchst artifiziell ausgeleuchtet und dann in Fotos und Filmen festgehalten. "Wir finden uns vor der Struktur eines Ereignisses wieder, aus dem alle Ereignishaftigkeit systematisch entfernt wurde, um uns an einen Ort zu entlassen, an dem Handlung und Chronologie zu fiktiven Größen werden, die allein unserem eigenen Vorstellungsvermögen entspringen." (Neville Wakefield im Katalog).Bilder dienen Demand eben auch als Aufforderung zu Assoziationen - das Kunstwerk vollendet sich immer erst mit den Gedanken des Betrachters, bleibt ansonsten so wichtig oder unwichtig wie ein x-beliebiger Detailausriss. Dabei darf an eine Ausstellung der "Stern"-Anzeigenabteilung 1987 erinnert werden, die 38 schwarze Tafeln mit Texten zu bekannten Bildern präsentierte, wie z.B. "Mitglieder der Kommune I nackt von hinten", was aber den Wissenden und Informierten sofort die entsprechende Fotografie im Gedächtnis abrufen ließ. Wer Demands Verlangen folgt, muss nicht dessen ursächliche Gedanken teilen, die Auflösung wird nicht gegeben. Die Bilder werden nur zu Metaphern einer letztlich doch nicht objektiv bestehenden Realität des Lebens.Der Giftschrank. Remota: Die weggesperrten Bücher der Bayerischen Staatsbibliothek. Ausstellung bis 17. Dezember 2002. Der vorzügliche Katalog, hrsg. von Stephan Kellner (232 S. mit über 300 Abb.), mit vielen Beiträgen kostet 14,80 EuroThomas Demand. Ausstellung im Lenbachhaus, München bis 19. Januar 2003. Katalog bei Schirmer/ Mosel, München 2002, 173 S. + Bildanhang, 25,00 Euro
Michael Bloech: Über den Dächern...
Im Kinderfilm gibt es bestimmte Dinge, die eigentlich immer direkt ins Chaos, sprich zu Verrissen der Presse und Enttäuschungen beim Publikum führen. Zum einen ist es ein ungeheueres Risiko, die Hauptrollen eines Kinderfilms nicht mit Kindern zu besetzen und zum anderen ist es ziemlich gefährlich, in einem Realfilm Tiere sprechen zu lassen. Dennoch geht Vincent Bal mit seinem Kinderfilm „Die geheimnisvolle Minusch“ ganz bewusst diese beiden Wagnisse ein: beide Protagonisten sind Erwachsene und dann unterhalten sich auch noch ungeniert die Katzen im Film. Zudem wird ein weibliches Rollenbild präsentiert, das quer zum politisch korrekten Frauenbild einer dynamischen Karrierefrau oder eines erotischen Weibchens des Fernsehserien-Mainstreams liegt. Das macht die Rezeption möglicherweise nicht gerade glatt oder erleichtert den Filmkonsum. Aber haben Kinder tatsächlich mit diesem Film Probleme, da er mit herkömmlichen Sehgewohnheiten, Erwartungen und Rollenbildern bricht?Die pädagogisch distanzierte Perspektive ist schnell vergessen, wenn man in die charmante Geschichte des Films abtaucht. Grundlage bildet ein Roman der in den Niederlanden sehr populären Kinderbuchautorin Anna Maria Geertruida Schmidt, der vor rund 30 Jahren zum ersten Mal veröffentlicht wurde. Vincent Bal übernimmt dabei die nostalgische Atmosphäre der Vorlage. Im Zentrum der Geschichte steht zunächst der erfolglose, verträumte oder vielleicht sogar ein bisschen trottelige junge Journalist Tibbe, der von seiner Chefredakteurin eine letzte Chance bekommt. Wenn es ihm nicht gelingt eine interessante Story für die Kleinstadtzeitung zu produzieren, verliert er endgültig seinen Job. Frustriert von dem Erfolgsdruck lernt er auf seinem Nachhauseweg eine junge Frau kennen, die sich vor einem bissigen Hund auf einen Baum geflüchtet hat.
Die geheimnisvolle Frau behauptet, die Katze Minusch zu sein, die nur durch einen seltsamen Zwischenfall von einer Katze in eine junge Frau verwandelt wurde. Ungläubig begibt sich Tibbe in seine kleine Dachwohnung und wagt sich an seinen Artikel. Währenddessen streift die junge Frau Minusch wie eine Katze über die regennassen Dächer. Wie es der Zufall bzw. Autor will, treffen die beiden am Fenster aufeinander und Tibbe hat Mitleid mit der armen, bedauernswerten Minusch. Die beiden werden bald ein Team, denn Minusch, als Dank für die trockene Bleibe, versorgt ab diesem Zeitpunkt Tibbe mit Informationen aus der Katzenwelt, die er wunderbar gebrauchen kann. Sei es der Fund von wertvollen Münzen auf dem Friedhof oder einem Unfall mit Fahrerflucht, nichts bleibt den umherstreunenden Katzen verborgen. Tibbe wird mit diesen Informationen schnell zum Starreporter und Minusch seine Assistentin. Doch als Minusch und Tibbe sich mit dem Unternehmer Ellemeet anlegen, der den Bürgermeister in eine Korruptionsaffäre hineinziehen will, muss der junge Journalist bald seine Grenzen erkennen. Der Fabrikant hat mächtige Verbindungen, die selbst bis in die Redaktion hineinreichen. Da er sich nicht lächerlich machen möchte, kann Tibbe auch nicht seine Informanten, die Katzen, preisgeben. Doch wieder ist es Minusch, die ihm hier raffiniert aus der Klemme hilft. Schließlich muss sich Minusch aber doch entscheiden, entweder für die Welt der Katzen oder für eine gemeinsame Zukunft mit Tibbe.VorbilderMinusch hat ihre weiblichen Vorbilder in Grace Kelly („Über den Dächern von Nizza“), Julie Andrews („Mary Poppins“) und natürlich vor allem in Audrey Hepburn („Frühstück bei Tiffany“, „Sabrina“). All diesen Frauen ist das Geheimnisvolle, Mysteriöse und auch Schutzbedürftige gemeinsam. Carice van Houten gelingt es in der Rolle der Minusch vorzüglich, die geheimnisvolle Fragilität mit dem Katzenhaften, Schreckhaften zu verbinden. In einer Szene, in der sie sich als Katze in Menschengestalt in die Enge getrieben fühlt, zeigt sie Tibbe buchstäblich ihre Krallen und verletzt ihn dabei.
Das dabei transportierte weibliche Rollenbild ist ähnlich faszinierend und facettenreich wie das in den frühen Rollen von Audrey Hepburn: ein Gegenentwurf zum platten und so oft tradierten Bild einer erotisch, sinnlichen aber dafür inkompetenten Frau, der kein eigener Handlungsspielraum weder zugetraut noch eingeräumt wird. Die Zierlichkeit, die sich dem Androgynen annähert, ist dabei kein Ausdruck von Koketterie sondern entspricht eher einer realistischen Einschätzung der Situation der Protagonistin. Zwar ist Minusch in gewisser Weise Opfer, aber sie ist es, die immer wieder die Initiative ergreift, die Zusammenhänge perfekt analysiert und dann entsprechend handelt. Sie reflektiert dabei ihre Wirkung auf andere und setzt ihre „zauberhafte“ Wirkung bewusst zur Durchsetzung ihrer Interessen ein. Das bedeutet jedoch nicht, dass Minusch eine zynisch kalte berechnende Person ist, die sich hinter einer gespielten Zerbrechlichkeit verstecken muss, sondern hier ist es gerade die natürliche Ausstrahlung und die große Ehrlichkeit mit der Minusch agiert. Leider lässt die Strukturierung Tibbes diese Differenzierung vermissen, er ist zwar ein sympathischer aber eben dennoch nur ein klassischer Loosertyp, der ausschließlich durch die Klugheit Minuschs zum Erfolg kommt. Damit ist er quasi die Spiegelung des weiblichen Klischees, bei der die eigene Rollendefinition stets nur über den jeweiligen Partner erfolgt. Dieser Kritikpunkt findet sich leider auch bei den anderen im Film agierenden Personen. Der Unternehmer Ellemeet, der Bürgermeister, die Chefredakteurin, der Fischhändler, all diese Menschen sind sehr plakativ und flach angelegt, sie sind lediglich Karikaturen ihrer selbst. Das ist insbesondere in Anbetracht der differenziert angelegten Rolle Minuschs ein wenig schade. Allerdings ist dies möglicherweise ein Tribut, das der Regisseur seiner Adressatengruppe, den Kindern, zollen musste.
Vielleicht sind es gerade die Eindimensionalität der Nebenrollen und die recht stringente Story mit einem überaus schematischen Konflikt – Böser Unternehmer besticht Politiker - die helfen sollen, die Einzigartigkeit Minuschs für Kinder nachvollziehbar zu machen. Wenn dies zutrifft, dann überbrückt der Film damit vielleicht auch die Distanz zu den jungen ZuschauerInnen, denn das Agieren der Protagonistin bietet Kindern reichlich Raum für Identifikation und Projektion, das Sperrige und Kantige liefert dabei genügend Reibungsfläche um eigene Rollenbilder zu entwerfen oder zu überprüfen.Neben dem gesellschaftskritischen besitzt der Film noch einen weiteren Aspekt, der ihn wohltuend von anderen Kinderfilmen, oder auch von ganz normalen Kinofilmen unterscheidet. Dem Film gelingt es nämlich stellenweise eine völlig eigene ästhetische Welt aufzubauen, die manchmal an Marc Caros & Jean-Pierre Jeunets „Delicatessen“ erinnert, ohne dabei dessen pessimistisch düsteres Weltbild zu transportieren. Es sind dabei vor allem die nächtlichen Dachaufnahmen, bei denen Minusch im grünen Wollkostüm mit ihrem ebenso grünen Koffer katzengleich wie einst Grace Kelly über den Dächern von Nizza im Regen über die Kamine einer holländischen Kleinstadt balanciert. Diese phantastischen Aufnahmen verleihen dem ganzen Film eine atmosphärische Dichte, einen sehr eigenständigen Charakter. Neben der umwerfend geheimnisvollen Minusch ist es gerade diese absurd heitere Stimmung mit diesen beeindruckenden Bildern, die den Film zu einem wirklichen Ereignis machen, das einem lange im Gedächtnis bleiben dürfte. Da verschmerzt man es auch gerne, wenn sich im strömenden Regen auf dem Dach plötzlich eine Gruppe computeranimierter Katzen trifft und sich in menschlicher Sprache angeregt unterhält.
Die geheimnisvolle Minusch
Regie: Vincent Bal – Buch: Tamara Bos, Burny Bos & Vincent Bal nach dem gleichnamigen Roman von Annie M.G. Schmidt – Kamera: Walther Vanden Ende – Musik: Peter Vermeersch – Darsteller: Carice van Houten, Theo Maassen, Pierre Bokma, Sarah Bannier – Produktion: Holland, USA (Bos Bros., Warner Bros.) 2001 – Länge: 86 Minuten – Verleih: Warner Bros. Film GmbHReinhard Kleber: Klein aber oho!
Während andernorts Filmfestivals aus Spargründen ihre Laufzeit verkürzen, Programmteile streichen und stagnierende Besucherzahlen verkraften müssen, zeigt das Kinderfilmfestival "Schlingel" in Chemnitz Flagge. Bei ihrer jüngsten Ausgabe konnte die kleine, aber feine Filmschau ihre Besucherzahlen auf mehr als 7.000 gegenüber dem Vorjahr verdoppeln. Auf Konsolidierungskurs befindet sich unter der neuen Leitung auch das renommierte Kinderfilmfestival in Frankfurt am Main, das nach konzeptionellen Änderungen in den Vorjahren ins Schlingern geraten war. Für frischen Wind in der deutschen Kinderfilmszene dürfte außerdem Thomas Hailer sorgen, der im Oktober zum neuen Chef des Kinderfilmfests der Berlinale berufen wurde. Frischer Wind kam in Chemnitz vor allem aus Prag. Rick und seine Prager Freunde Peter und Ivana sammeln in ihren Sommerferien bei phantastischen Spielen in einem Flugzeugwrack Erfahrung bei der Suche nach Außerirdischen. Als Ricks älterer Bruder und dessen Freund zu einer geheimnisvollen Mission auf's Land aufbrechen, folgen die drei ihnen heimlich mit vollgepackten Rucksäcken. Am Berg Colorado sollen bald UFOs landen.
Doch dann werden Radek und sein Freund von einem Mädchen in eine Falle gelockt. Die Halbstarkenbande der Göre sieht durch die Jungs nämlich ihr Revier bedroht. Jetzt ist die Hilfe der kleinen Alien-Jäger gefragt. Was sich die Kids so alles einfallen lassen, um die Rabauken zu überlisten und die beiden Jungs vom Marterpfahl zu befreien, das sorgt in dem tschechischen Kinderfilm "Aliens in Colorado" bei Groß und Klein für jede Menge Spaß. Die Zuschauer müssen in dem Abenteuerfilm des Drehbuchautors und Regisseurs Karel Janák zwar über etliche Unwahrscheinlichkeiten hinweg sehen, werden dafür aber mit flotten Dialogen und pointiertem Slapstick reichlich entschädigt. Auf dem 7. Internationalen Kinderfilmfestival "Schlingel" gewannen die tschechischen "Aliens" im Oktober die Herzen der Kinderjury, die der Komödie ihren Preis zusprach, sowie den Publikumspreis. Ein gutes Vorzeichen für interessierte deutsche Verleiher, die noch gesucht werden. Den Hauptpreis des Festivals errang das dänische Sozialdrama "Tinke – Kleines starkes Mädchen". Die sensible Inszenierung schildert in unspektakulären Bildern und mit sparsam eingesetzter Musik die hindernisreiche Resozialisierung eines vom Schicksal gebeutelten Mädchens, das nach dem Tod der Eltern verwildert in einem Wald haust und nach ihrer Entdeckung mühsam lernen muss, sich wieder in eine menschliche Gemeinschaft einzufügen.
In der jungen Hauptdarstellerin Sarah Juel Warner, die mit großen dunklen Augen schon über erstaunliche Ausdruckskraft verfügt, hat der dänische Regisseur Morten Kohlert ein vielversprechendes Talent entdeckt. Erst im September hatte Kohlerts Film auf dem 26. Kinderfilmfestival in Frankfurt den Hauptpreis "Lucas" und den Preis des Internationalen Kinder- und Jugendfilmzentrum CIFEJ gewonnen. Damit steigen die Chancen auch dieser sehenswerten Produktion erheblich, einen deutschen Kinoverleih zu finden. Der Besucherzuwachs des Chemnitzer Festivals, das aus einer 1996 erstmals vom Sächsischen Kinder- und Jugendfilmdienst veranstalteten Kinderfilmschau hervorging, unterstreicht eindrucksvoll den Aufschwung des kleinen Festivals, das mit wachsender Programmqualität auch in Fachkreisen zunehmend Anerkennung findet. So lud der Bundesverband Jugend und Film während des Festivals zum zweiten Mal zu einem Seminar ein. Mit dem iranischen Kinderfilm "Der kleine Vogelnarr" konnte man dieses Mal sogar eine Weltpremiere bieten. Und Frankreich schickte mit der packenden Märchenverfilmung "Der Däumling" von Olivier Dahan eine millionenschwere Produktion mit Stars wie Catherine Deneuve und Elodie Bouchez ins Wettbewerbsrennen. Mit der Auswahl dieses Gruselmärchens, das ab zehn Jahren empfohlen wurde, zeigte die Festivalleitung auch Mut zum Risiko, denn die vielen Gewaltszenen in dem Fantasy-Stück sorgten durchaus für Diskussionsstoff etwa über die Frage der Altersgrenze.
Profil gewann der "Schlingel" vor allem mit seinem Schwerpunkt auf Filmen aus dem östlichen Europa. "Wir wollen das Kinderfilmprogramm zu einem großen Teil mit Filmen aus Osteuropa besetzen," erläutert Festivalchef Michael Harbauer, "nicht mehr als die Hälfte, aber doch mit einem so großen Anteil, um diese Region zu beleuchten und ihr so die Chance zu geben, auch Filme nach Deutschland bringen zu können." In diesem Jahr stellten osteuropäische Länder vier der neun Beiträge im Kinderfilm-Wettbewerb. Als Fenster zum Osten tritt Chemnitz damit teilweise in die Fußstapfen des Festivals des osteuropäischen Films in Cottbus, das vor zwei Jahren bedauerlicherweise seinen Kinderfilmwettbewerb abgeschafft hatte. Mit diesem Schwerpunkt und der Präsentation thematisch ambitionierter Jugendfilme, die dank engagierter Betreuung auf ähnlich starke Publikumsresonanz stießen wie die Kinderfilme, ist der "Schlingel" auf dem besten Weg, in die erste Liga der deutschen Kinder- und Jugendfilmfestivals aufzusteigen. In der ersten Liga spielen Frankfurt und Berlin schon seit langem. Der Glanz der Frankfurter Schau war zuletzt jedoch verblasst. Zum einen hatte die Umstellung auf einen Zwei-Jahres-Rhythmus schon vor Jahren die Auswahl für internationale Gäste eher unattraktiv gemacht, zum anderen war das Profil des ältesten deutschen Kinderfilmfestivals durch die Erweiterung um eine Jugendfilmsektion vor sieben Jahren verwischt worden. Nachdem das erhoffte jugendliche Publikum jedoch ausgeblieben war, hatte der "Lucas" unter der neuen Leitung diese Sektion folgerichtig gestrichen.
Die Rückbesinnung auf die Wurzeln und die Konzentration auf ein qualitätsvolles aktuelles Wettbewerbsprogramm mit wenigen Nebenreihen haben dem Festival, das ausgerechnet in der wichtigsten deutschen Bankenmetropole ständig unter finanziellen Engpässen leidet, gut getan. Angesichts von rund 120 Fachbesuchern aus dem In- und Ausland zeigte sich der neue Festivalleiter Günther Kinstler jedenfalls zuversichtlich: "Durch die Neupositionierung wollen wir auch international den früheren Stellenwert des Festivals zurückgewinnen."Bei der Preisverleihung überraschte Kinstler die Gäste mit der erstmaligen Verleihung eines Ehren-"Lucas" an Walter Schobert, den altersbedingt scheidenden Direktor des Festivals. Schobert, im Hauptamt Chef des Deutschen Filmmuseums in Frankfurt, hatte die Filmschau 1975 gegründet und seitdem mit bewundernswerter Beharrlichkeit am Leben erhalten. In seiner Abschiedsrede bedankte er sich beim Team und den Förderern und appellierte an die Gäste, in zwei Jahren wiederzukommen. Der abschließende Ruf der Jury nach einer Rückkehr zum jährlichen Rhythmus des Festivals, das immerhin den Namen von Schoberts jüngstem Sohn trägt, hat ihn sicher bewegt; die akuten Finanznöte der Stadt Frankfurt lassen dieses Ansinnen jedoch ziemlich unrealistisch erscheinen.
Neue Akzente darf man auch von Thomas Hailer erwarten, der im Oktober in Berlin Renate Zylla nach 16 Jahren an der Spitze des wichtigsten deutschen Kinderfilmfests ablöste. Der gelernte Dramaturg und Filmförderexperte ließ zwar zunächst keine revolutionären Veränderungseifer erkennen und legte mit der Berufung der langjährigen Filmfestmitarbeiterin Maryanne Redpath zu seiner Stellvertreterin ein Bekenntnis zur Kontinuität ab. Doch die Installation eines Auswahlausschusses mit Branchenvertretern nach dem Muster der großen Berlinale-Gremien legt den Schluss nahe, dass an die Stelle subjektiver Individualentscheidungen künftig Konsensbeschlüsse rücken sollen. Trat der neue Berlinale-Chef Dieter Kosslick im Vorjahr mit der Maxime an, dem deutschen Film auf dem Großfestival der Hauptstadt mehr Gehör zu verschaffen, so beabsichtigt Hailer nun, "die Beziehungen zur deutschen Kinderfilmszene und den Kinderfilmproduzenten zu intensivieren". Offenkundig will der 43-Jährige nicht zuletzt das Kinderfilm-Image aufpolieren, das hierzulande leider noch immer mit dem Makel der kommerziellen und künstlerischen Nische behaftet ist.
Die Branche, monierte Hailer in einen Interview, "nimmt nicht so recht zur Kenntnis, dass unter den fünf erfolgreichsten deutschen Filmen des letzten Jahres drei Kinderfilme waren." Da in der Vergangenheit auf der Berlinale so mancher deutsche Kinder- und Familienfilm aus diversen Gründen außerhalb des Kinderfest-Wettbewerbs blieb oder bleiben musste, sieht die 'Szene' erwartungsvoll der nächsten Festivalausgabe im Februar entgegen.Weitere Infos im Netz: www.ff-schlingel.de, www.berlinale.de, www.lucasfilmfestival.de
kolumne
Krystian Woznicki: Der Patriot als Markenkonsument
"There is nothing wrong with getting somebody who knows how to sell something. We are selling a product. The product we are selling is democracy. We need someone who can rebrand American foreign policy, rebrand diplomacy. She got me to buy Uncle Ben's rice." – Colin Powell legitimierte mit diesen Worten die Anstellung der Marketingspezialistin Charlotte Beers als Under Secretary of State for Public Diplomacy„Beers believes that our country must show that the tragedy of September 11 was an attack on the world, not just America. One tangible way she has done this was to update the US government website with a map showing the more than 80 countries affected by the tragedy.“ – Melissa Overby
Der US-Nachrichtensender CNN betreibt eine Website: www.cnn.com
Dort sind täglich, manchmal sogar auch stündlich neuste Nachrichten zu lesen. Top-Meldungen werden meistens mit einem Bild hervorgehoben, das ungefähr Kreditkarten-gross ist. Auf diesem engen Raum bündeln die CNN-Redakteure visuelle Daten, die so prägnant, aussagekräftig und aufsehenerregend sein müssen, dass sie es schaffen das Auge des Internet-Flaneurs in ihren Bann zu ziehen. Meistens gelingt das mit Bildern des Nachrichtendienstes Associated Press oder Reuters. Besonders wirksam sind jedoch die Eigenkreationen des Hauses CNN: Grafiken und Computer-Collagen mit karthographischen Elementen, eingeblendeten Talking-Heads und symbolischen Elementen. Als ein Leitmotiv kann die US-Amerikanische Flagge ausgemacht werden, dass Sinnbild des Patriotismus. Es gibt ganz klassische Konstellationen. Auf „Iraq Ustates“ ist zum Beispiel ein karthographischer Ausschnitt des nahen Ostens zu sehen, auf dem der Irak farblich hervorgehoben ist. Darüber schweben die irakische und amerikanische Fahne, vis a vis, als würden sich zwei Boxer gegenüber stehen. Zwei souveräne Gebilde (Staaten), die kurz davor stehen miteinander in den Krieg zu treten.
Es gibt jedoch auch Kompositionen, die alles andere als klassisch sind, die uns eigentlich wundern müssten, denn in ihnen erfährt das Symbol des Patriotismus eine Zersetzung. Die Fahne zerfällt in individuelle Elemente. Sie ist in Ausschnitten zu sehen, als semi-transparenter Hintergrund, als abstrahierte Quecksilbermasse. Sie ist flüssig geworden, formbar, rekonfigurierbar. Um ein paar Beispiele zu geben: „Bush Briefing“ heisst ein Bild, auf dem der US-Amerikanische Präsident mit erhobener Stimme dem Betrachter direkt in die Augen schaut. Im Sturzflug-Modus fliegt rechts neben ihm eine Passagiermaschine in den gräulich-porösen Hintergrund, während über seiner linken Schulter zwei kräftige rote Streifen auf weissem Hintergrund so geneigt sind, dass sie eine Aufwärtsbewegung gen Himmel beschreiben. „Padilla Radiation 2“ heisst ein anderes Bild, auf dem ein Schwarz-Weiss-Bild eines mutmasslichen Terroristen in der linken Bildhälfte untergebracht ist. Die andere Hälfte ist vielschichtig belegt: Ein feinmaschiges, mit Computer-Präzision gestanztes Noppen-Raster; eine imaginäre Landschaft von heller werdenden Erhebungen und von Graustufen bis ins Schwarz vordringenden Untiefen; das Symbol für Radioaktivität in dreifacher Ausführung nebeneinander angeordnet, wie die drei Teilansichten des Erdballs und zwischen all diesen Ebenen die rot-weissen Streifen und die blaue Fläche mit weissen Flecken drauf: geisterhaft-verschwommen, konturenlos und blass. Am erstaunlichsten ist allerdings ein Bild, das einfach nur „War On Terror“ heisst. Es besteht aus drei Ebenen und ebenso vielen Elementen: Ein schwarzes Fadenkreuz befindet sich im Vordergrund und überlagert einen blau schimmernden, transparent-gläsernen Globus an der Stelle, wo sich die USA befindet. Der blaue Globus geht fliessend über in das Blau im Hintergrund, das sich neben den roten und weissen Farbtupfern zur Fahne zusammensetzt.
Diese ist flatternd in Bewegung begriffen und scheint – als wäre sie aus noch nicht getrockneten Wasserfarben gemacht – zu zerfliessen. Solche Auflösungserscheinungen zapfen die Angsthormone des Betrachters an; sie schüren Paranoia, schliesslich ist als im Zerfall begriffen dargestellt, was das geliebte Vaterland repräsentiert. Gleichzeitig artikuliert diese visuelle Strategie eine expansive Grossmachtpolitik mit den Mitteln des ästhetischen Cross-Marketings. Das Symbol der „Brand USA“ (Charlotte Beers) wird als wiedererkennbares Logo in die unterschiedlichsten semiotischen Zusammenhänge übersetzt, wobei der Wiedererkennungswert zu steigen scheint, je stärker die Flagge verfremdet wird. Ein solches Branding schult den Patrioten in zeitgenössischer Geopolitik: Das Vaterland ist nicht mehr das, was es mal war. Die Grenzen sind nicht mehr klar umrissen; das heimische Territorium ist eine flexible Größe geworden. Der in Verruf geratene Wahlspruch „Recht oder Unrecht - es ist mein Vaterland!“ wird damit nicht nur wieder aktuell, er erfährt auch eine gänzlich neue Wendung. Im Zweifelsfall dient nicht nur der Erdball als patriotische Projektionsfläche, sondern - CNNs „War On Terror“-Bild legt dies nahe - auch das gesamte Universum.
Ansprechperson
Kati StruckmeyerVerantwortliche Redakteurin
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