2002/05: Migration und Medien
thema
Sabine Handschuck, Hubertus Schröer: Tanz der Kulturen
GlokalisierungGlobalisierung sei das „Buzzword“ der 90er Jahre, stellten die Autorinnen Breidenbach und Zukrigl (2000) in ‚Tanz der Kulturen’ fest. Während in führenden Lexika bis in die 90er Jahre der Begriff nicht zu finden war, waren die neuen Medien schneller. Die Internetsuchmaschine AltaVista führte 1997 bereits über dreitausend Einträge unter dem Suchbegriff an. Vierzehn Monate später hatten sie sich verdreißigfacht. Inzwischen sind es bei Google ca. 287 000.Die in deutschen Medien geführte Globalisierungsdiskussion konzentriert sich auf wirtschaftliche Entwicklungen und daraus resultierende internationale Wanderungsbewegungen.
Lokal werden Szenarien konstruiert von gewalttätigen Migrantenjugendlichen, die einen inneren Kulturkonflikt nicht angemessen verarbeiten, Kindern, die, zwischen den Kulturen hin und her gerissen, Sprachdefizite haben und vielleicht doch für die miesen Ergebnisse der Pisa-Studie verantwortlich sind und jungen Mädchen, die aus Angst vor den Eltern zu Hause ein Kopftuch tragen und sich auf der Schultoilette in nabelfreie Tops und enge Jeans zwängen, um dann doch gegen ihren Willen verheiratet zu werden. Wenn man sie aber befragt, diese Jugendlichen, als was sie sich sehen, dann antworten sie: als Münchnerin, als Berliner usw., beschreiben also zunächst eine lokale Identität und erst viel später, wenn überhaupt, eine nationale.
Dieses komplexe Miteinander von globalen und lokalen, von transkulturellen und ethnisch-kulturellen Einflussfaktoren kann vielleicht am besten mit dem Begriff „Glokalisierung“ umschrieben werden.Im Alltag begegnen sie uns, die Kinder der Glokalisierung, und wenn nicht, erfahren wir aus der Presse von ihnen. Wir glauben sie zu kennen. Nicht nur sie, sondern auch ihre Probleme und kulturellen Eigenheiten. Wie zum Beispiel den netten jungen Schwarzen, der in der überfüllten Straßenbahn seinen Platz anbietet.
Nicht mir, der Frau, sondern meinem Partner, dessen weißer Bart die Achtung gegenüber dem Alter herausfordert. Bei diesen Kulturen wird mit Alter noch Weisheit verknüpft. So ganz freut meinen Partner die höfliche Geste nicht, denn hier ist sie eher denen vorbehalten, die zum alten Eisen gehören und nicht mehr so ganz rüstig sind. Doch interkulturelle Verständigungskompetenz ist inzwischen ein Muss. Es wird sich höflich bedankt. „Passt scho“ ist die Antwort und im breiten Bayerisch hinten an: „Hoabs eh glei“. Vielleicht doch ein schwarzer Deutscher, der noch nie in Afrika war...
(merz 2002/05, S. 275 - 281 )
Beitrag aus Heft »2002/05: Migration und Medien«
Autor: Sabine Handschuck, Hubertus Schröer
Beitrag als PDFEinzelansichtUrsula Neumann: Die Darstellung von Migrantinnen und Migranten
Das Thema "Zuwanderung" hat in den beiden vergangenen Jahren 2000 und 2001 eine bedeutende Rolle in der politschen Diskussion eingenommen und eine entsprechende Resonanz in der Medienberichterstattung erfahren. Anders als in den vielen Jahren zuvor ging es nicht hauptsächlich um die Abwehr von Flüchtlingseinwanderung, die Beschneidung des Asylrechts oder die Instrumentalisierung von Migrationsproblemen im Wahlkampf, sondern um die Frage einer konstruktiven Gestaltung von Einwanderungspolitik und Integrationsprozessen in der deutschen Gesellschaft. Der Bericht der Unabhängigen Kommission "Zuwanderung", die Konzepte der grossen Parteien und zuletzt das Zuwanderungsgesetz boten reichlich Stoff für politische Debatten in Talkshows, Presseerklärungen und Kommentaren in allen Medien. Was dabei zu kurz kam, war die Beteiligung der Bevölkerung, die seit dem Anwerbestopp von 1973 fast dreissig Jahre lang gepredigt bekommen hatte, dass Deutschland kein Enwanderungsland sei.
Dies änderte sich erst im September 2001 mit den schrecklichen Attentaten in New York und Washington. Sie haben nicht nur die terroristischen Aktivitäten bestimmter weltweit operierender Gruppen in den Vordergrund gerückt, sie leiteten auch eine integrationspolitsche Zäsur in der Bundesrepublik Deutschland ein. Der muslimische Hintergrund der Attentäter und ihrer Unterstützer sowie die folgende politische Diskussion um die Erhöhung der inneren Sicherheit in Deutschland mit besonderem Blick auf muslimische Extremisten haben tiefe Spuren hinterlassen. Das vorhandene Grundvertrauen in die eigene Sicherheit wurde erschüttert. Insbesondere Menschen, von denen vermutet wurde, sie könnten Muslime sein, sahen sich Beleidigungen und Verdächtigungen ausgesetzt, die sie nach eigener Auskunft nicht für möglich gehalten hatten und sie daran zweifeln ließen, ob Deutschland wirklich ihre Heimat sei...
( merz 2002/05, S. 282 - 285 )
Leo Selensky: Medien im Alltag von jungen Aussiedlern
Ebenso wie in Alltag und Freizeit von jugendlichen Einheimischen spielen Medien bei jungen Aussiedlern eine herausragende Rolle. Neben dem eigenen Fahrzeug stellen das TV-Gerät, CD-Player und Kassettenrecorder wichtige Anschaffungen dar. Man kann davon ausgehen, dass der Ausstattungsgrad mit allen modernen Medien der Unterhaltungselektronik, die sowohl zu Hause (Fernseher, Videorecorder, Radio, Musikanlage, Computer) als auch außerhalb (Disko, Musikanlage im Auto) genutzt werden (Meister, 1999, S. 107), sehr hoch ist. Untersuchungen wie z.B. die von Dietz & Roll (1998, S. 115ff) belegen, dass neben der Freizeitgestaltung mit Freunden und Diskothekenbesuchen, Lesen, Musik hören und Fernsehen bei Aussiedlern hoch im Kurs stehen; an erster Stelle hierbei vor allem in der ersten Zeit in Deutschland, häufiger als bei einheimischen Jugendlichen und auch häufiger als im Herkunftsland werden fernsehen und Musik hören genannt. Lesen ist, wie bei einheimischen Jugendlichen, bei Mädchen wesentlich beliebter als bei Jungen.
Gesehen werden von den Jugendlichen v.a. amerikanische Action- und Science-Fiction-Filme, Komödien, aber auch Seifenopern und Reportagen und natürlich die verschiedenen Musikkanäle, wie Befragungen von Jugendlichen im Rahmen einer Untersuchung zu gelingender und misslingender Anpassung bei männlichen jugendlichen Aussiedlern (Selensky, in Vorb.) ergeben haben. Darin, wie auch im Umfang des Fernsehkonsums von ca. 3,5 Stunden täglich, unterscheiden sich männliche jugendliche Aussiedler nicht von einheimischen Jugendlichen. Beliebt sind aber auch alte und aktuelle russischsprachige Filme, die in zahlreichen kleinen Läden, in denen auch Videokassetten gekauft oder ausgeliehen werden können, zu beschaffen sind. Satellitenanlagen ermöglichen es zudem, sich russischsprachige Fernsehprogramme ins Wohnzimmer zu holen. Dass der Fernsehapparat nebenbei läuft, auch während den Besuchen von Verwandten und Freunden, ist durchaus üblich und wird nicht als störend empfunden...
( merz 2002/05, S. 286 - 288 )
Susanne Eggert und Helga Theunert: Medien im Alltag von Heranwachsenden mit Migrationshintergrund
Ein beachtlicher Teil der in Deutschland lebenden Menschen, etwa 9% der Gesamtbevölkerung, hat eine nicht-deutsche Herkunft. Bunt und sehr heterogen sind die hier lebenden Menschen mit Migrationshintergrund. „Arbeitsmigranten, ihre Kinder und Kindeskinder, deutsche Spätaussiedler aus den osteuropäischen Ländern, Asylanten, Asylsuchende und Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge und EU-Ausländer, die im Rahmen der Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Union nach Deutschland kommen, sie alle bilden eine heterogene Population, die als Deutsche oder Nicht-Deutsche, als lange hier Lebende, vielleicht hier Geborene oder gerade erst Eingewanderte sehr unterschiedliche Voraussetzungen mitbringen, und die auch hinsichtlich ihres (ausländer-)rechtlichen Status nicht vergleichbar sind.“ (Stellungnahme der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung 2000, S. 149)
Balancieren zwischen den KulturenDie verschiedenen Migrantengruppen bringen – neben spezifischen individuellen und kollektiven Erfahrungen, die beispielsweise bei Kriegsflüchtlingen oder Asylsuchenden oftmals drastisch oder traumatisch sind – eine gewachsene kulturelle Identität mit. Auch wenn sie schon lange hier leben, auch wenn die Kinder und Enkelkinder schon hier geboren sind, Religion, Normen und Wertvorstellungen, Sitten und Gebräuche der Herkunftskultur haben vielfach über Generationen Bestand und spielen auch im Alltag derjenigen eine – mehr oder weniger große – Rolle, die sie nur noch rudimentär oder gar nicht mehr aus eigener Anschauung und Erfahrung kennen. Je größer und vor allem je augenfälliger die Entfernung zur hiesigen Kultur und Lebensweise ist, desto fremder erscheinen die hier lebenden Migrantengruppen.
Ein 14-Jähriger bringt es treffend auf den Punkt: „Wenn ein Schwede nach Deutschland kommt, dann sagt man irgendwie ‚hallo’, und wenn jetzt irgendwie ein Türke oder ein Russe kommt, dann hat man natürlich schon so’n komischen Blick oder man denkt sich schon so’n bisschen was dabei.“ Auch die schwedische Kultur ist anders als die deutsche, aber die Unterschiede sind nicht so groß und nicht unmittelbar an Äußerlichkeiten ersichtlich. Die ‚kopftuchtragende Türkin’ hingegen fällt auf. Und ihre Herkunftskultur differiert erheblich von der deutschen Lebensweise, jedenfalls dann, wenn sie von moslemischer Religion und von traditionellen Familienstrukturen, Rollenverteilungen und Wertvorstellungen geprägt ist. Das jedoch gilt längst nicht mehr für alle Türkinnen, weder für die in der Türkei, noch für die in Deutschland lebenden. Die ‚kopftuchtragende Türkin’, die in einer von Männern dominierten Gesellschaft in Abhängigkeit lebt, ist nur ein Bild türkischer Kultur und Lebensweise, das sich jedoch – nicht zuletzt aufgrund häufiger medialer Präsenz – hartnäckig als das Bild des Ganzen zu behaupten versucht...( merz 2002/05, S. 289 - 300 )
Beitrag aus Heft »2002/05: Migration und Medien«
Autor: Susanne Eggert, Helga Theunert
Beitrag als PDFEinzelansichtKatrin Echtermeyer, Achim Lauber:"Die Türken sind halt mehr die Macho-Männer"
„Einmal, da ging’s um Playboy 51, das war ein Türke. Der sieht gut aus. Der redet auch noch so cool und der kriegt jede Frau“, erzählt Hakan. Der Elfjährige hat in verschiedenen Talkshows Tanju Calikiran gesehen. Calikiran tingelt als „PlayBoy 51“ durch die Infotainmentwelt und brüstet sich vor den Zuschauern mit seinem Erfolg bei Frauen. Das beeindruckt Hakan sehr. Die 13-jährige Saskia dagegen kann solche Typen nicht ernst nehmen: Sie findet es allenfalls „lustig, wie die Türken da so auftreten - ein paar Machos. Und dass die sich meist so ein bisschen aufspielen“.
Medienbilder im AlltagWelche Bilder von Ausländerinnen und Ausländern werden Kindern und Jugendlichen durch das Fernsehen vermittelt? Was nehmen sie mit für ihre Sichtweisen bezüglich ausländischer Menschen und deren kultureller Hintergründe? Diesen Fragen geht derzeit eine Studie im Auftrag der Landesmedienanstalten von Schleswig-Holstein, Bremen und Mecklenburg-Vorpommern nach. Die Forschungsgruppe um Bernd Schorb (Lehrstuhl für Medienpädagogik und Weiterbildung, Universität Leipzig) untersucht die Bedeutung des Fernsehens für das Ausländerbild von 9- bis 14-Jährigen.
Die Erhebungsphase ist bereits abgeschlossen: Zum einen wurden vierzig Kinder und Jugendliche zu ihren persönlichen Kontakten zu ausländischen Personen befragt, zu ihrer Beobachtung von Ausländerinnen und Ausländern in der Realität und im Fernsehen und zu ihren Meinungen und Einstellungen in Bezug auf Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland. Zum anderen wurden Fernsehangebote inhaltsanalytisch untersucht, um die tatsächliche Darstellung von ausländischen Personen im Fernsehen zu extrapolieren und mit der Wahrnehmung der Heranwachsenden vergleichen zu können. Konkret betrachtet werden in der Analyse beliebte Genres der Altersgruppe: Daily Talks, Gerichtsshows, Boulevardmagazine und Daily Soaps...
( merz 2002/05, S. 301 - 303 )
Beitrag aus Heft »2002/05: Migration und Medien«
Autor: Achim Lauber, Katrin Echtermeyer
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medienreport
Erwin Schaar: Die Stars sind keine Vorbilder
War die Spiegel-Story "Das Ende der Gutmenschen" nun eine Analyse einer neuen Hollywood-Sicht der Dinge oder soll in die fast unentwirrbare Anzahl neuer Filme, die wöchentlich ins Kino kommen, nur ein roter Faden zur Strukturierung des Angebots gezogen werden? Mit der Schlagzeile "Amerikas düstere Helden: Die Stars entdecken die Lust an Mord und Totschlag" (Der Spiegel, 26.8.02) werden dem Leser Einsichten suggeriert, die er als Zuchauer nachvollziehen und damit der feuilletonistisch belegten Mundpropaganda für eine neue Kinomode zum Durchbruch verhelfen soll. Bekannte und beliebte Schauspieler verändern ihre darstellerische Physiognomie im Dienste des Bösen und da diese Art Paradigmenwechsel ein Geschäft wie Hollywood, das den Weltgeschmack vorgibt, betreibt, wird natürlich gleich ein Phänomen konstatiert, das zu einer Welle anwachsen könnte.Da aber die Faszination des Bösen zum täglichen Medienthema geworden ist, sicher nicht mit gleichbleibender Stringenz, dürfte eine solche Erweiterung des Ausdrucks nicht unbedingt ein Risiko für die Popularität bedeuten, wie das Magazin betont. Es könnte auch die Veränderung des Images der Stars anzeigen, die der kinokundige Zuseher nicht mehr ganz so naiv in seine Verehrung einbezieht. Außerdem darf an den Filmhistoriker Robert Warshow erinnert werden, der schon in den 50-er Jahren den Gangstermythos als das "große 'Nein', das quer über das offizielle Gesicht Amerikas gestempelt ist" definierte (zitiert nach U. Gregor, Geschichte des Films ab 1960. München 1978).
Diesen Herbst werden wir uns - soweit wir das Kino interessiert verfolgen - mit mehreren Filmen auseinandersetzen können, an denen die These vom Ende des nur das Gute verkörperten Stars zu überprüfen wäre. Zwei der aufwändig beworbenen Filme seien hier vorgestellt.Road to PerditionTom Hanks und Paul Newman sind in dieser "Straße zur Hölle" die Bad Guys, die unser fiktionales Weltbild erzittern lassen sollen. Das Städtchen Rock Island und die große Stadt Chicago in den 3o-er Jahren: Hanks ist Michael Sullivan, verheiratet, zwei Söhne in mittelständischem Ambiente, wie wir es nach 1945 in den Home and House-Journals bewundern konnten: das Materielle zeichnet Wohlbehagen und Friede mit der Umwelt. Sullivan arbeitet für John Rooney (Paul Newman) und muss wohl einer wichtigen Beschäftigung nachgehen, wenn er tadellos gekleidet das Heim verlässt. Aber sein ältester Sohn Michael jr. wird irritiert sehen, wie der Vater nach getaner Arbeit seine Taschen leert und dabei auch eine Pistole zu seinen Sachen legt. Das ist der Beginn der Geschichte, die böse und doch wieder gut enden wird. Der junge Michael, misstrauisch geworden, wohnt versteckt einer Exekution bei und erfährt dabei, dass sein Vater als Auftragskiller arbeitet.
Da das Kind entdeckt wird, ist nun auch die Familie Sullivans in Gefahr, obwohl doch der Boss an Michael jr. seinen Narren gefressen hat. Sullivan erkennt die Gefahr, trotzdem werden seine Frau und sein jüngster Sohn ermordet. Um Michael jr. zu retten, will ihn Sullivan zu einer Tante in dem Städtchen "Perdition" in Sicherheit bringen. Für das nötige Geld auf der Flucht sorgen eine Reihe von Banküberfällen, wobei Michel jr. am Steuer des Fluchtautos sitzt. Unterwegs können sie einem alten Farmerehepaar mit dem geraubten Geld aus dem armen Leben helfen.In "Perdition" wird Sullivan der Tod doch noch ereilen, weil der Killer Maguire sie aufspürt. Michael jr. kann mit dem Auto entkommen und zu der Farm fahren, wo die guten Leute wohnen, um dort sein junges Leben positiv auf die Zukunft einzustimmen.Die Geschichte wird in dunklen, bräunlich getönten Bildern erzählt, die die schon historische Gegebenheit betonen, aber auch einen einheitlichen emotionalen Grundton stimulieren, damit wiederum den Zuseher in filmhistorische Zeiten versetzen, als die Gangsterfilme, der "Film noir", noch in schwarzweißen Bildern gedreht wurden. "Road to Perdition" mutet in seinem Stil eben wie ein Werk an, das noch einmal rekapituliert, wie es gewesen ist und damit auch holzschnittartig seine Figuren zeichnet. Ein Tom Hanks, ein Paul Newman sind ob ihrer darstellerischen Qualitäten zu bewundern und agieren nicht als Identifikationsobjekte, denen die Zuneigung des Publikums gelten soll.Sam Mendes - vor zwei Jahren erhielt sein Film "American Beauty" fünf Oscars - kann mit des Knaben Rückkehr auf die Farm und zum einfachen Leben einen Schlusspunkt setzen, der wie eine Anekdote wirkt.
Die seitdem vergangene Zeit hat ja gezeigt, dass ein solches hoffnungsfrohes Kinogefühl immer ein Trugschluss war.InsomniaDa verhält es sich mit Christopher Nolans Film "Insomnia - Schlaflos" etwas anders. Dessen Wirkung ist auf das hier und heute berechnet und keine historische Künstlichkeit der Bilder ermüdet.Die beiden Star-Ermittler Will Dormer (Al Pacino) und Hap Eckhart (Martin Donovan) werden zur Klärung eines Mordfalls an einer jungen Frau von Los Angeles in ein abgelegenes Nest in Alaska abkommandiert. Eher eine Strafaktion, weil beide der Unkorrektheiten bezichtigt werden. In Nightmute aber ist man stolz auf die Anwesenheit einer Berühmtheit wie Dormer, der der örtlichen Polizei Glanz verleiht. Bei einer fehlgeschlagenen Aktion gegen den Mörder erschießt Dormer aus Versehen seine Kollegen. Seine ganze Aktion ist nun darauf gerichtet, diese fatale Fehlleistung zu vertuschen und dem bereits erkannten Mörder des Mädchens, dem Schriftsteller Walter Finch (Robin Williams), anzulasten . Mit Hilfe der sympathischen jungen Polizistin Ellie Burr (Hilary Swank) wird der zu Tode kommen, aber auch Dormer überlebt seinen Auftrag nicht.Der Film hat durch seine in der Jetztzeit spielenden Handlung einen ganz anderen Zugriff auf die Schauspieler, die viel mehr ihre Persönlichkeit in die Figuren integrieren müssen als die Darsteller historischer Personen. Ihre Verkörperung einer Rolle erweckt beim Zuschauer eher eine Einheit mit ihrer Individualität.
Also müsste sich Robin Williams wesentlich mehr Gedanken um sein Image mache als dies Tom Hanks oder Paul Newman zu tun hätten. Wer Williams als Disc-Jockey in "Good Morning, Vietnam" oder als Lehrer in "Der Club der toten Dichter" erinnert, er wird den mörderischen Schriftsteller Finch mit seinem teuflischen Grinsen gar nicht einnehmend finden. Aber wird ihm dieser Eindruck als Schauspieler Schaden bringen? Die Autoren der Spiegel-Story entlarven ihre Ausführungen dann doch eher als einen Versuch, eine Welle herbeizuschreiben, wenn sie ihren Beitrag mit der Feststellung enden: "Zurzeit sind die größten Stars ganz versessen darauf, das Böse zu verkörpern: Das Schlechte im Menschen, so scheinen sie zu glauben, bringt das Beste in den Schauspielern zum Vorschein". Also: alles wie gehabt. Der Brave und Gute wird auch im Film ganz schnell langweilig.Road to PerditionRegie: Sam Mendes - Buch: David Self - Kamera: Conrad L. Hall - Musik: Thomas Newman - Darsteller: Tom Hanks, Paul Newman, Jude Law, Jennifer Jason Leigh, Stanley Tucci, Daniel Craig, Tyler Hoechlin, Liam Aiken - Produktion: USA (Zanuck Company) 2002 - Länge: 119 Minuten - Verleih: 20th Century FoxInsomnia Regie: Christopher Nolan - Buch: Hillary Seitz - Kamera: Wally Pfister - Musik: David Julyan - Darsteller: Al Pacino, Robin Williams, Hilary Swank, Martin Donovan, Paul Dooley, Maura Tierney - Produktion: USA (Witt/ Thomas Section Eight) 2002 - Länge: 118 Minuten - Verleih: Warner Bros.
Eva-Maria Rüdiger: Wer hat Angst vor einer Fünfjährigen?
Kommt sie, oder kommt sie nicht ? Diese Frage beschäftigte vor wenigen Wochen die USA. Die Rede war nicht von einer Politikerin, auch nicht von einem Filmstar, sondern von einem kleinen Mädchen: Landauf, landab erhitzten sich die Gemüter über der Frage, ob es als neue Bewohnerin in die „Sesamstraße“ einziehen darf – denn es ist HIV positiv.Ihr Steckbrief sieht etwa so aus: Alter 5 Jahre, vermutlich Vollwaise, Herkunft Südafrika. Besonderes Kennzeichen: Das Mädchen soll eine Puppe sein, genauer gesagt eine „Monsterpuppe“ wie z.B. Oskar oder das Krümelmonster, Name und Aussehen aber noch unbekannt. Charakter: Heiter, selbstbewusst, agil, gesund anstatt kränklich. Insgesamt kein Charakter, vor dem sich Eltern, Politiker und Fernsehmacher fürchten müssten. Was also war passiert?Bei der 14. Welt-AIDS-Konferenz in Barcelona hatte Joel Schneider, der Vizepräsident des „Sesame-Workshops“, der die amerikanische Muttersendung produziert, bekannt gegeben, dass im Rahmen einer Anfang 2002 begonnenen Kooperation des „Sesame Workshops“ mit dem Center for Communication Programs der Johns Hopkins Universität zur Verbesserung der Gesundheits- und Lebensumstände von Kindern und Familien in Entwicklungsländern sowie in Zusammenarbeit mit dem südafrikanischen Bildungsministerium und USAID die Idee für die Integration der neuen Figur in die südafrikanische Ausgabe der „Sesamstraße“ entwickelt worden sei.
Da Südafrika den weltweit größten Anteil an HIV-Infizierten aufweist, sollte die neue Figur ab 30. September dieses Jahres in der „Takalami Sesame“ genannten Produktion des Senders SABC dazu beitragen, Kinder bereits früh auf den Umgang mit HIV-positiven Mitmenschen vorzubereiten und der vorherrschenden Stigmatisierung entgegenzuwirken. Behandelt werden sollen Fragen des Kinderalltags, wie z.B. das richtige Verhalten bei kleinen Verletzungen, gemeinsames Spielen oder das Teilen von Speisen und Getränken. Über eine spätere Einführung des HIV-positiven Mädchens in anderen nationalen Ausgaben der „Sesame Street“ werde diskutiert . Schneiders Ankündigung wurde zunächst positiv aufgenommen und international in den Medien verbreitet, doch kurz darauf begann ein merkwürdiges Kesseltreiben: Eltern schrieben besorgte Leserbriefe, was nun aus ihrer guten, alten, sauberen Bildungssendung werden solle, und in zahlreichen Fernseh- und Radiotalkshows wurde das Thema ausgiebig und plakativ behandelt. Widersprüchliche Berichte wechselten sich ab, ob mit der neuen Figur auch Themen wie Sexualität, Drogenkonsum und Tod thematisiert werden sollten.
Eine Gruppe von Kongressabgeordneten ließ es sich schließlich nicht nehmen, mittels einer schriftlichen Anfrage den Dingen auf den Grund zu gehen, ihre Besorgnis darüber auszudrücken, dass ein solcher Schritt für amerikanische Zuschauer der Sendung nicht altersangemessen sei, und gleichzeitig nach den finanziellen Aufwendungen des ausstrahlenden, mit öffentlichen Mitteln finanzierten Senders PBS für die „Sesame Street“ im Allgemeinen und die neue Figur im Besonderen zu fragen – nach eigenem Bekunden eine reine Routinefrage... Was folgte, war ein klares Dementi: Gegenüber den Politikern wie auch z.B. in Online-Foren für Eltern ließ der „Sesame Workshop“ wissen, dass die neue Figur ausschließlich für Südafrika entwickelt werde und in keiner der 19 anderen nationalen Versionen eingesetzt werden solle . „Die Story hat sich wohl verselbständigt“, so der lapidare Kommentar des „Sesame-Workshops“-Vizepräsidenten Robert Knezevic . Und auch die Kinderprogrammredaktion des NDR, zuständig für die „Sesamstraße“ als deutschen Ableger der Sendung, gab auf Anfrage bekannt, dass die HIV-positive Figur lediglich als Bestandteil des nationalen Rahmenprogramms der südafrikanischen Sendung zu verstehen sei und nirgendwo sonst eingesetzt werden solle.Also alles nur eine Zeitungsente, verursacht von schlampigen oder sensationsgierigen Redakteuren? – Vielleicht, vielleicht aber auch nicht, wirft diese Geschichte doch immerhin die Frage auf, warum die bloße Ankündigung einer neuen Facette eines etablierten Bildungsprogramms für solch eine geradezu hysterische Reaktion sorgen konnte. Die Gründe hierfür sind vielschichtig: Einerseits illustriert das Beispiel der „Sesame Street“, dass die HIV / AIDS-Problematik gerade in den wohlhabenden Ländern nach wie vor gerne heruntergespielt wird.
So setzten die besagten amerikanischen Kongressabgeordneten die Erkrankung mit Körperbehinderungen gleich und forderten, diese ebenfalls gleich stark zu thematisieren, um einen reinen Fokus auf HIV zu verhindern (wohl in Unkenntnis der Tatsache, dass die „Sesame Street“ bereits von mehreren körperbehinderten Figuren bewohnt worden war) . Andererseits macht es unterschiedliche (Erwachsenen-)Perspektiven auf Kindheit und die Rolle der Medien für Kinder deutlich. Eine erneute Diskussion, ob Kinderfernsehen in erster Linie unterhaltend oder informativ sein solle, war unvermeidlich. Diesmal wurde sie an die Kritik gekoppelt, dass soziales Lernen wichtig sei und früh beginnen müsse, dass AIDS bzw. HIV jedoch ein so ernsthaftes und bedrückendes Problem darstelle, dass man es Kindern im Alter der „Sesame Street“-Zuschauer noch nicht zumuten könne: „Lasst den Kindern ihre Kindheit, wenigstens für eine Weile“, war die Botschaft von etlichen Politikern, Eltern und Pädagogen. Manche Eltern, die in den Absichten der Produzenten einen Verfall der Werte des Kinderfernsehens zu sehen glaubten, drohten gar in Leserbriefen und Online-Foren, ihren Kindern die einstmals so „wohltuende“ und „gesunde“ Sendung zu verbieten, wenn die HIV-Thematik aufgegriffen werde.
Zur selben Zeit empfahlen die Gegner dieses behütenden Ansatzes gerade Sendungen wie die „Sesame Street“, die bereits auf eine lange pädagogische Tradition zurückblicken kann, zur Vermittlung solch schwieriger Aspekte des sozialen Alltags: Ihre bunten, kindlichen Puppen-Bewohner – aber auch die erwachsenen Figuren – sind emotional ansprechend und können, ohne Angst einzuflößen, zu Vermittlern werden. Häufig zitierten sie dabei eigene, frühere Medienerfahrungen mit der Magazinsendung, die ihnen selbst nicht nur das Lesen und Rechnen, sondern z.B. auch das Miteinander-Teilen nahe gebracht hat. So sprachen sich beispielsweise. bei einer Online-Umfrage der Universität von Toledo immerhin 58 % der Abstimmenden für und 42 % gegen eine Thematisierung von Themen wie HIV / AIDS in Kinderfernsehprogrammen aus . Wieder andere befürworteten den mutigen Ansatz, aber nur dort, wo das AIDS-Problem sehr gravierend ist – also sollten südafrikanische Kinder mit der neuen Mädchenfigur Freundschaft schließen können, die US-amerikanischen Kinder jedoch lieber nicht .Interessant erscheint, dass der unter Druck geratene Sender letzteren Standpunkt zur Lösung des Dilemmas gewählt hat: Wiederum nur wenige Tage nach dem vollständigen Dementi eventueller Absichten zur Einführung der HIV-Problematik in andere nationale Ausgaben der „Sesame Street“ (das wiederum einige Fernsehkritiker erbost hatte ) gab die PBS-Vorsitzende Pat Mitchell bekannt, dass ein späteres Erscheinen der Figur in anderen Ländern nicht völlig ausgeschlossen werden könne: „Falls der Virus zukünftig auch für US-amerikanische Kinder ein größeres Problem darstellen sollte, würde Sesame Street darauf genau so reagieren wie auf andere aktuelle Themen“, wurde Mitchell in der Presse zitiert .Ein interessanter Impuls bleibt die Diskussion allemal, selbst wenn sie aus einer Falschmeldung entstanden sein sollte.
Immerhin hat die „gute alte Tante des Kinderfernsehens“ in den USA bereits eine 33-jährige und in Deutschland eine 29-jährige Geschichte hinter sich gebracht, in der sie zur medialen Speerspitze sehr unterschiedlicher pädagogischer Konzepte gemacht wurde. In der deutschen Version ging es dabei bereits sehr früh nicht nur um kognitive Förderung, sondern auch um soziales Lernen , während in anderen Ländern die dortigen aktuellen Probleme aufgegriffen werden (z.B. in der ägyptischen Variante die Notwendigkeit, Mädchen Bildung zu ermöglichen, oder in Israel und den palästinensischen Gebieten der gegenseitige Respekt zwischen den Bevölkerungsgruppen ). Über die Jahre erhielt die Sendung viel Lob, geriet aber auch immer wieder in die Kritik, ob wegen fehlender oder falscher Identifikationsangebote, der Divergenz zwischen amerikanischen und eigenproduzierten Bestandteilen, oder wegen der zunehmenden Unterhaltungsorientierung. Vor Jahren wurde ihr sogar bescheinigt, „in der pädagogischen Substanz überholt und als mediales Ereignis betulich geworden“ zu sein, so dass sich eine Auseinandersetzung mit ihr kaum lohne . Nach einigen vielversprechenden Änderungen in den letzten Jahren könnte nun auch die südafrikanische Figur für frischen Wind sorgen und die „Sesamstraße“ wieder zum mutigen Spitzenreiter und internationalen Trendsetter im Kinderfernsehen machen. Je reaktionsfreudiger und wandlungsfähiger sie sich dabei zeigt, ohne dabei auf ihre bewährten Traditionen und den eigenen Anspruch zu verzichten, desto weniger verzichtbar wird sie sein – aus Sicht der Erwachsenen, und bei ihren kleinen Zuschauern sowieso.
Beitrag aus Heft »2002/05: Migration und Medien«
Autor: Eva-Maria Rüdiger
Beitrag als PDFEinzelansichtMichael Gurt: Alles echt? Fälle - Menschen - Urteile
Was bisher geschah...Nicht erst seit Barbara Salesch & Co. sind Gerichtssendungen ein fester Bestandteil der deutschen Fernsehlandschaft: In den 60er-Jahren bescherte „Wie würden Sie entscheiden?“ dem ZDF regelmäßig gute Quoten. Gerd Jauch präsentierte echte Fälle, die vor der Kamera nachgestellt wurden. Der Clou: Kurz vor der Urteilsverkündung durfte das Studiopublikum über Freispruch oder Verurteilung abstimmen, das Ergebnis wurde dem Urteil der juristischen Fachleute gegenübergestellt.Ebenfalls im ZDF starteten Anfang der 80er Jahre „Ehen vor Gericht“ und später „Verkehrsgericht“. Beide Formate ergänzen den Schlagabtausch im Gerichtssaal mit Szenen aus dem Umfeld der Verhandlungen. Außerdem kamen Psychologen wie Dr. Ulrich Beer, Scheidungsexperten bzw. Verkehrssachverständige zu Wort, die zu den jeweiligen Fällen handfeste Informationen beisteuerten.Nach einer längeren Flaute meldete sich das Genre im ZDF 1999 mit „Streit um drei“ zurück, eine Sendung, die auf bewährte Rezepte setzte: Mehr oder weniger ungewöhnliche Alltagsfälle, die von einem Moderator und einem Rechtsexperten kommentiert und begleitet wurden. So richtig in Fahrt kam die Erfolgsgeschichte der Gerichtssendungen aber erst mit „Barbara Salesch“. „Echte Fälle – echte Menschen – echte Urteile“ war das Motto der Sendung. Deshalb standen auch „nur“ Schiedsurteile auf dem Programm. Zunächst war Salesch, die übrigens ihrem amerikanischen Vorbild Judge Judy bis auf die Frisur gleicht, wenig Erfolg beschieden. Deshalb wurde das Konzept kurzerhand umgekrempelt: 15.00 Uhr statt 18.00 Uhr, eine ganze statt einer halben Stunde und vor allem: Statt echter Schiedsfälle kamen jetzt erfundene Strafsachen vor den Kadi. Damit war der Schritt von der Gerichtssendung zur Gerichtsshow endgültig vollzogen, die weit spektakuläreren Verhandlungen rund um Liebe, Hass und Eifersucht sorgten für steigende Quoten.
Mittlerweile tummeln sich täglich sechs Gerichtsshows im Nachmittagsprogramm, nach Barbara Salesch darf auf Sat.1 seit November 2001 auch „Richter Stefan Hold“ seines Amtes walten. Die Konkurrenz schläft bekanntlich nicht und so reagierte RTL prompt auf den Trend. Bereits im September 2001 trat Richterin Ruth Herz vom „Jugendgericht“ an, um Quote zu machen, seit September diesen Jahres machen „Das Strafgericht“ und „Das Familiengericht“ die Riege der RTL-Jurisprudenz komplett. Von Fall zu FallVor kurzem kam im „Jugendgericht“ die Sache Liane Färber zur Verhandlung: Die 20-Jährige hat ihrem Freund mit Hilfe eines selbst gebastelten Flammenwerfers Verbrennungen im Gesicht zugefügt, der Geschädigte ist seither blind. Das Motiv der Angeklagten, so erfährt der Zuschauer vor Prozessbeginn, liegt darin begründet, dass sie mit dem Beruf ihres Freundes nicht klargekommen sei: Der Mann ist Pornoproduzent.Solche oder ähnliche Fälle aus dem „täglichen Leben“ sind keine Seltenheit. Auffällig häufig werden Fälle mit sexuellem Hintergrund verhandelt. Etwa auch der Fall um die 16-jährige Dorothee, die angeblich von ihrem Vater, der von der Familie getrennt lebt, sexuell missbraucht wurde. Aus diesem Grund soll ihm das Umgangsrecht entzogen werden. Im Laufe der Verhandlung wird der Klavierlehrer – gleichzeitig der neue Lebensgefährte der Mutter – als wahrer Schuldiger entlarvt. Das Ganze spielte sich im „Familiengericht“ ab, der spektakuläre Verlauf der Verhandlung mündet in einem Geständnis, bei dem unverständlicherweise auch das junge Opfer im Saal zugegen ist. Ob die Art und Weise der Verhandlungsführung der juristischen Praxis entspricht, ist für den Laien – wie in vielen Fällen – kaum zu beurteilen.Mal abgesehen vom Bild der deutschen Justiz, das hier gezeichnet wird, ist der Wert solcher „Verhandlungen“ für die Zuschauerinnen und Zuschauer fragwürdig: Es findet weder eine psychologische noch juristische Einordnung statt, die Fälle an sich dürften für die meisten sowieso jenseits des eigenen Erfahrungsbereichs liegen. Statt auf Informationswert wird auf den Schauwert des Absonderlichen gezielt.
Nicht nur die Auswahl der Fälle, auch die Art und Weise, wie da vor Gericht miteinander umgegangen wird, kann einem verzerrten Bild vom menschlichen Miteinander Vorschub leisten. Verbale Entgleisungen sind keine Seltenheit, gegenseitige Beschimpfungen und Diffamierungen arten bisweilen sogar in Handgreiflichkeiten aus. Angesichts der schieren Fülle solcher spektakulären Konfliktfälle stellt sich die Frage, ob es überhaupt noch Menschen gibt, die zumindest einigermaßen miteinander auskommen.Was bleibt?Zumindest scheint derzeit bei den Programmverantwortlichen die Einsicht einzukehren, dass die Zuschauerinnen und Zuschauer fürs erste keine weiteren Ableger von Salesch & Co. nötig haben. So spricht Sat.1 Geschäftsführer Martin Hoffmann laut einer dpa-Meldung angesichts der beiden neuen RTL-Gerichtsshows bereits von einem „Overkill“.Die Erfahrung, wie schnell der Erfolg eines neuen Formats aufgrund eines solchen „Overkills“ kippen kann, mussten die Sender schmerzlich beim so genannten „Real-Life-Format“ à la „Big Brother“ machen. Spätestens mit „Girlscamp“ und der dritten Staffel von „B.B.“ war der Boom am Ende. Es bleibt abzuwarten, ob den Gerichtsshows ein ähnlich abruptes Ende blüht.
Erwin Schaar: Die globalisierten Künste?
"Die D 10 war ein dunstiges Elendstal vermeintlich kritischer, in Wahrheit meist nur wehleidiger Manifestationen. Ein einziges Video-Meer der Plagen, bildlose Bilderflut" - die Meinung des Kunstkritikers der "Frankfurter Rundschau", Peter Iden, zur Schau der Catherine David, die 1997 die künstlerischen Anstrengungen als Erklärungsmodelle für eine vielfältige Welt kompilierte, wird zu Okwui Enwezors Schaubühne der Weltkunst insgesamt kaum positiver ausgefallen sein. Zumindest waren seine Kommentare in einer TV-Dokumentation zu einzelnen Ausstellungsobjekten fast schon rüde herabwürdigend. Die Generation der kritischen Betrachter, die an die durchgearbeiteten statischen Bildwerke gewöhnt ist, deren Kunstverstand auch für die Auktionshäuser von Interesse ist, wurde auf der Documenta11 von dem Nigerianer Enwezor, der meist in New York agiert, kaum mehr bedient. Kunst ist für ihn und sein Team mit dem Nachdenken über die politische und soziale Welt verbunden. Und die bewegt sich ständig in einer Vielfalt und Unübersichtlichkeit, dass man von Information zu Information getrieben wird. Was sich in Enwezors Austellungskonzeption "The Short Century" in München (siehe merz 2/2001) ankündigte, hat er in den weitläufigen Ausstellungshallen in Kassel großflächig verwirklicht: die radikale Diversifikation, die ständig das Ungenügen aufkommen lässt, nicht mehr als eine knappe Impression in einem bestimmten Zeitraum erhaschen zu können. Die Schau der realen Attraktionen kennt nicht den beschaulichen Betrachter, weil der weiß, dass sein Zuwendung immer eine eingeschränkte ist. Wenn er bei einem Problem verharrt, wird er das übrige Spektrum aus dem Blickfeld verlieren. *Enwezor hat das Ereignis in Kassel mit vier so genannten Plattformen vorbereitet: Symposien in Neu-Dehli, Lagos, Berlin und Santa Lucia handelten über die unvollendete Demokratie, Rechtssysteme im Wandel und die Wahrheitsfindung, die Kreolisierung und die Urbanisierung am Beispiel große Städte in Afrika. Die Plattform 5 war die Visualisierung des Brainstorms in aller Welt: die Ausstellung in Kassel.
Das Manko - wenn man es so nennen will - des zeitgenössischen Künstlers ist das Ahnen oder Wissen um die Auflösung der festgefügten Wahrnehmung, den Einfluss der Sozial- und Biowissenschaften. Er möchte in dieser Welt, die die Probleme zuhauf jeden Tag ins Bewusstsein spült, als Gleichberechtigter wahrgenommen werden. Seine Sicht der Dinge soll von der gestalterischen Phantasie her ins Blickfeld geraten, soll die trügerische Sicherheit der wissenschaftlichen Behauptungen befragen und in die Welt des sozialen Lebens einbringen. Ein Verweis auf die aktuelle Diskussion um den Bildungsbegriff sei hier gestattet, zu der der Evolutionsbiologe Hubert Markl in einem "Spiegel"-Essay bemerkt hat: "Ein ganzheitlicher Bildungsbegriff kann niemals Vollständigkeit, niemals 'Auslernen' zum Ziel haben. Ein ganzheitlicher Bildungsbegriff muss vielmehr immer offen sein für verschiedenartige Verständnis- und Erfahrungsformen. für die Bahnung von sehr verschiedenen Zugangswegen zum Leben, die dann jeder Einzelne nach Begabung, Neigung und Anregung in freier Entscheidung zu weiterer Erkundung wählen und weiter erkunden mag." (Der Spiegel 32/2002). *Die Dritte Welt mehr zum Mittelpunkt rücken, das wurde von dem Afrikaner Enwezor erhofft. Und daraus resultierte ein Vorwurf, den Bazon Brock in seiner Talk-Runde "Bilderstreit" (3sat) aufs Tapet brachte: das Vorzeigen einzelner Künstler und Werke dieser 'fremden' Kulturen entspräche eher der Tradition europäischer Ausstellungsmacher, verwandle die Objekte zu Artekfakten hiesiger Ausstellungskultur. Diese Überlegung ist nachzuvollziehen und dürfte auch das leise Ungenügen an der Präsentation der 'naiven' Künstler ausmachen. Wer sich noch an die Documenta 6 im Jahr 1977 erinnert, dem müsste durch die Installationsvorgabe des großen Beuys schier das ästhetische Herz zersprungen sein ob der in die Statik eines Raums gezwungenen Objekte aus dem schwarzen Kontinent.
Damals durchzog die Beuys'sche Honigpumpe mit ihrem Schlauchsystem Räume und Stockwerke des Fridericianums, um die Ausstellung als sozialen Organismus zu präsentieren. Eine Idee, die weltläufiger nicht hätte sein können. Bei der elften Weltschau der Kunst haben aber zum Beispiel afrikanische Künstler Raum und Zeigen in europäischer Manier übernommen oder zugewiesen bekommen. Bei Georges Adéagbo werden Fundstücke aus verschiedenen Kulturen - Bücher, Bilder, Skulpturen, Plakate, Zeitungen - um ein selbst gezimmertes Boot versammelt, so als ob der in Europa gebildete Beniner seine Kenntnisse, sein Weltbild ausstellen möchte, das erst in diesem Konglomerat den exotischen Touch erhält, der die Beschauer auf diese Welt fixiert. Die Fühler für eine weiter greifende soziale Aufnahme können in dieser Geschlossenheit nicht erkannt werden. Adéagbo hat sich damit geradewegs in die Wunderkammeridee der Renaissance begeben. Das kann kein Ansatzpunkt für neues Denken aus den neuen Welten sein. Diese Art der Selbstreferenz fesselt sich selbst. *Welche Zukunft haben die bewegten Bilder, die vorgeben, ein abgeschlossenes Statement zu präsentieren, in der bildenden Kunst? Die zahlreichen Videokabinette, Bildschirminstallationen - beeindruckten sie nur wegen der ständigen Aktivität, die sie ausstrahlen? Hatten sie eine eigenständige Funktion, die uns mehr als Bildfetzen zu übermitteln hatte? Sich alle Bilderzählungen von Anfang bis Ende anzusehen, hätten wir Tage damit zubringen müssen.Georg Seeßlen hat in einem Aufsatz in "epd Film" (8/2002) die Vermutung aufgestellt, dass neben dem Mainstream und dem Autorenfilm diese Art von bewegten Bildern in der Kunst ein eigenes Genre werden würde: das dritte Kino, das den "narzisstisch gebrochenen Blick der Kunst wieder auf die Welt" richten könnte. Dann wäre aber auf jeden Fall nach einer adäquaten Präsentationsform zu fragen. Kabinett für Kabinett mit mehr oder weniger langen Filmen nebeneinander zu stellen kann nicht die Aufmerksamkeit für ein Einzelwerk fördern. Dieses Massenangebot ermüdete schon bei der letztjährigen Biennale in Venedig, wo es auch einem so geübten Ausstellungsmacher wie Harald Szeemann nicht gelang, über diese übliche Vorführform hinaus eine innovative Konzeption zu erstellen. Das beim TV-Konsum geübte Zapping fördert eine ebenso oberflächliche Rezeption in der bildenden Kunst und kann nur zu einer Nivellierung von Qualität führen.Die avantgardistische Filmemacherin Chantal Akermann ("Jeanne Dielman, 23, Quai du Commerce, 1080 Bruxelles", 1975) führte auf 18 Monitoren und zwei Leinwänden ihren Film "From the Other Side" vor, der die meist vergeblichen Versuche mexikanischer Wanderarbeiter dokumentiert, die die penibel gesicherte Grenze nach Nordamerika hin zu passieren versuchen.
Die gesamte Dokumentation war auf einem Monitor zu betrachten, während die anderen Wiedergabegeräte einzelne Sequenzen daraus zeigten. Man mag nun darüber streiten, ob diese gesplittete Bilderflut auf engstem Raum die Eindringlichkeit der Bilder verstärkt oder die Konzeption des Films ad absurdum führt. Das ästhetische Konzept der Installation mit seinen politisch gemeinten sequentiellen Hervorhebungen kann dann aufgehen, wenn auch der ganze Film rezipiert wird, ansonsten ist L'art pour l'art nicht fern. *Wie schwierig es oft ist, Kunst und 'normales' Leben in Verbindung zu bringen, zeigte der in Paris lebende Schweizer Bildhauer Thomas Hirschhorn mit seinem Bataille Monument in einer gettoähnlichen Vorstadt von Kassel, die hauptsächlich von Türken bewohnt wird. Mit Sperrholz, Pappe, Folie und Klebeband fertigt Hirschhorn Denkmäler für von ihm verehrte Personen der Geistesgeschichte, ohne den Glanz eines konsumorientierten Lebens zu bemühen. 'Arme' Mittel sollen in einer adäquaten Umwelt trotzdem die Exzeptionalität der Geehrten zum Ausdruck bringen. "Ich will das Publikum nicht von den Gedanken Georges Batailles überzeugen, sondern den Leuten vermitteln, dass ich diesen Denker liebe". Und so erarbeitete Hirschhorn mit Freiwilligen, hauptsächlich jungen Leuten der Wohnumgebung, gegen Entgelt aus seinen bevorzugten Materialien Hütten, die er in eine Bibliothek, ein Fernsehstudio, einen Ausstellungsraum umwidmete, die auch von den Bewohnern des Viertels mit Beschlag belegt werden sollten. Meist fläzten sich in den Sesseln der Bibliothek und der Ausstellung aber nur Halbwüchsige, denen ihre künstlerische Umgebung herzlich egal war. Und die Distanz der Anwohner, denen ihr ärmliches Leben noch ärmlicher erscheinen musste. dürfte nicht nur auf ihre Unkenntnis von Bataille zurückgeführt werden! Wie aufdringliche Schaulustige drangen täglich die mit einem eigenen Zubringerdienst beförderten Kunstfreaks in einen sonst geschlossenen städtischen Raum ein. Um welche Erkennntisse bereichert? Wenn man sich mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder zu Fuß zum Besuch aufmachte, konnte man zumindest die Tristesse sonst nie besuchter Stadtteile erfahren. Ansonsten erlaube ich mir, die Denkmal-Idee des hochgelobten und medienpräsenten Hirschhorn eher als monomanische Scharlatanerie zu bezeichnen. Immerhin ist angesichts seiner gewählten Umgebung positiv zu registrieren, dass er es weit von sich gewiesen hat, als Sozialpädagoge fungieren zu wollen.
*Catherine David hatte in ihrer Konzeption der 10. Documenta Artefakte und Theoriegedanken aus aller Welt zusammengestellt, den Aufbruch zu einer Weltkultur, wo Anregungen aus bisher exotischen Bereichen in die bisher sakrosankten europäischen Kunstvorstellungen eindringen und weiterwirken, postuliert. Sie musste den Vorwurf des Konglomerats, der puren Ansammlung von Einflüssen verkraften. Enwezors Schau und gedankliche Voraussetzungen, die vor allem in sozialen und politischen Entwicklungen ihre Grundlage hatten, wurden trotz vieler Brüche insgesamt schon wesentlich positiver hingenommen, auch wenn alte Kunstgediente sich in abfälligen Bemerkungen ergingen. Was wird aus diesem Aufbruch in diese vielfältigen Welten der ästhetischen Bemühungen, die sich mit Lebenszielen und Lebensentwürfen paaren, in Zukunft an ästhetischen Ausdrucksformen entstehen? Wird die Globalisierung des ästhetischen Denkens den Begriff von Kunst aufweichen, verändern, modifizieren? Wird die herkömmliche Kunst des meisterhaften Gestaltens obsolet werden? Oder ist die Diskussion neu zu beginnen, weil es auch Kulturen gibt, die abstoßende Züge tragen, und der Dialog der Kulturen ein "intellektueller Volksglaube" ist (Thomas Steinfeld in der SZ vom 23.8.02 in einem Bericht über das Buch von Roger Sandall: The Culture Cult). Der Leiter der nächsten Documenta wird es schwer haben, die bisher nur angedachten Veränderungen in eine profunde Idee einzuschließen.
Empfohlene Literatur
Kunstforum International, Bd. 161, August - Oktober 2002: "Die Documenta11" (Postfach 1147, 53805 Ruppichteroth; Euro 17,70).
Nicola Marsden: Vorurteile über virtuelle Welten an Schulen
"Schulen ans Netz" lautet die Forderung seit einigen Jahren. Die Einführung neuer Medien ist politisch und gesellschaftlich gewünscht. Und was zum Thema Lehren und Lernen im Informationszeitalter alles zu beachten ist, ist gut erforscht (Beck, 1998). Den Lehrerinnen und Lehrern, die die Forderung im Schulalltag umsetzen müssen, werden umfangreiche Erkenntnisse und Empfehlungen an die Hand gegeben: Über Medieneinsatz und Medienkompetenz, pluralisierte Lernformen und veränderte Lehrerrollen, über multimediales Lernen im virtuellen (oder war es das elektronische?) Klassenzimmer. Die Lehrerinnen und Lehrer sind die Motoren des (Lern-)Fortschritts auch im vielzitierten Informationszeitalter. Sind sie es nicht, so stockt dieser Fortschritt. Dafür kann es verschiedene Gründe geben.
Einer dieser Gründe können bei Lehrerinnen und Lehrern vorhandenen soziale Stereotype über Internet-Nutzer sein. Solche sozialen Stereotype wurden in einer repräsentativen Studie mit Lehrerinnen und Lehrern weiterführendender Schulen untersucht. Motoren des LernfortschrittsStereotypen sind Überzeugungen über Eigenschaften und Verhalten einer sozialen Gruppe. Sie sind dadurch gekennzeichnet, dass ein wertfreies Merkmal (z.B. "nutzt das Internet") stabil mit einem wertbehafteten Merkmal (z.B. "ist egoistisch") verknüpft wird. Sozial werden diese Stereotypen dadurch, dass sie von den Mitgliedern einer Gruppe geteilt werden.
Dieses Teilen der Einschätzung ist dabei nicht zufällig, sondern bezeichnend für ein gemeinsames Wertesystem: Haben 'wir Internet-Skeptiker' eine Meinung über 'die Internet-Nutzer', so besteht die Möglichkeit, dass durch Internet-Nutzung oder Nicht-Nutzung soziale Gruppen geschaffen werden, deren Mitgliedschaft für das Individuum mit Wert und emotionaler Bedeutung besetzt ist. Durch das Medium Internet würden also neue soziale Gruppen geschaffen, die identitätsrelevant sind, also einen Teil des Selbstkonzepts einer Person ausmachen. Die Zuschreibung negativer Eigenschaften auf Internet-Nutzer wäre dann ein Hinweis darauf, dass die Person ihr Selbstwertgefühl und ihr Wertesystem aufrechterhalten und schützen möchte...
( merz 2002/05, S. 315 - 3 19 )
kolumne
Goedart Palm: Humanitätsappell gegen mediale Gewalt
Der zum Kulturstaatsminister avancierte Ethikphilosoph Julian Nida-Rümelin interpretierte den Erfurter Amoklauf als eindringliches Gefahrensignal. Die mühselig erreichte Humanisierung der Gesellschaft drohe in der Flut gewaltdurchtränkter Medieninhalte weggespült zu werden. Das Erfurter Massaker habe sein tödliches Filmskript erst in medialen Fantasien gefunden. Die gesellschaftliche Selbststilisierung des humanen und friedlichen Miteinanders vereinbart sich schlecht mit autistischen Amokläufern. Solche Attentäter setzen ihre nackte Existenz ein, um ihrer Rache, Wut und Hilflosigkeit das höchstmögliche Maß an öffentlicher Aufmerksamkeit zu verleihen. Robert Steinhäuser, der Schulversager, schaffte es immerhin bis zur Abbildung seines Porträts auf dem TIME-Magazine. Die Quelle des Übels wird gleichwohl nicht mehr wie einst so mythologisch wie sprachlos im unhintergehbaren Typus des Sündenbocks verortet. Stattdessen bezichtigt sich die Gesellschaft nun selbst, die Gewalt zu produzieren. Familien, Bildungseinrichtungen und die gewaltfreudigen Medien der Spassgesellschaft sitzen auf der Anklagebank. Diese Schuldzuweisung hält sich aber zumeist nicht lange mit den Feinheiten komplexer Wirkungszusammenhänge auf. So wie es der philosophierende Kulturstaatsminister nun wieder vorgibt, konzentriert sich der selbstgefällige Diskurs vornehmlich auf die allgegenwärtigen Abbildungen der Gewalt. Wer über die wuchernden Medien der Gewalt redet, Bilder, Filme, Computerspiele und Texte inkriminiert, erspart der westlich exklusiven Gesellschaft humanen Fortschritts die Selbstreflexion ihrer dunkelsten Seiten.
Die fragilen Erkenntnisse zur Mediengewalt werden dann wie in Julian Nida-Rümelins Verdikt kurzerhand zum Abbildungsverbot bzw. scheinliberal zum „Prinzip der regulierten Selbstregulierung“ umgemünzt. Und dieser ordnungspolitische Bildersturm folgt, wie Michael Kunczik richtig beobachtet hat, regelmäßig der bildungsbürgerlichen Differenzierung von Hoch- und Alltagskultur: Shakespeare ja, Counterstrike nein. Das Verbot stößt sich dabei nicht am Paradox, dass Mediengesellschaften die schrecklichen Bilder im Überfluss produzieren. Umfassend können solche Darstellungen den Medien schon deshalb nicht ausgetrieben werden, weil die mehr oder minder hehren Zwecke der Information, Aufklärung, Wissenschaft und Kunst, nicht weniger als Meinungs- und Wirtschaftsfreiheit, staatlichen Zensurgelüsten enge Grenzen setzen. Wirken Bilder und Texte der Gewalt kathartisch oder suggestiv? Dieser kontextlosen Frage verdankt sich ein offener, mehrtausendjähriger Diskurs, der mit Platons Verdikt gegen Märchen beginnt, während etwa Aristoteles auf die kathartische Wirkung der Poesie vertraute, und der auch gegenwärtig zahllose Zensurgelüste gegenüber dem vermeintlich fatalen Einfluss von Filmen, Bildern und Texten auf die beeindruckbare Psyche jugendlicher Täter motiviert. Nida-Rümelin ist überzeugt, dass es einen wissenschaftlich abgesicherten Zusammenhang zwischen realer Gewalt und ihrer suggestiven Handlungsanleitung in den Medien gibt. Dabei lässt sich allein für bestimmte Tätertypen unter bestimmten Voraussetzungen eine mehr oder weniger gesicherte Kausalität von dargestellter und ausgeübter Gewalt bestätigen. Die Suggestionsthese verstrickt sich bei näherer Betrachtung tief in den Zusammenhang von Erziehungs- wie Milieudispositionen, aber auch habituellen Momenten des Täters.
Der isolierte Kampf gegen Gewaltdarstellungen wird als selbstreferenzielles Schattengefecht geführt, das seine moralische und philiströse Anmaßung nur schlecht verbergen kann. Allein die dem Schrecken entspringende Provokation, dass das Selbstbild friedfertiger Gesellschaften ein Irrtum sein könnte, wird dann bis zum nächsten Gewaltausbruch oberflächlich gelindert. Weder die Apologetik noch die Verdammung solcher Darstellungen reagieren angemessen auf juvenile Gewalt. Auch eine Zensur, die sich nicht staatlichen Herrschaftsinteressen verschreibt, sondern mit Nida-Rümelin der Humanität, verkümmert in Zeiten globaler Vernetzung ohnehin zur anachronistischen Geste. Kurze Zeit nach Robert Steinhäusers Amoklauf präsentierte die US-Army ein interaktives, im Internet frei erhältliches Simulationsspiel, um zukünftigen Kombattanten ein virtuelles Killertraining zu spendieren. Wer der Gesellschaft die Gewalt durch Zensur austreiben will, ohne fundamental in ihr Betriebssystem einzugreifen, rechtfertigt lediglich den status quo gewaltbereiter Gesellschaften, so aufrichtig seine gegenteiligen Beteuerungen auch sein mögen.
Ansprechperson
Kati StruckmeyerVerantwortliche Redakteurin
kati.struckmeyer@jff.de
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