2002/03: Mediale Lernwelten
aktuell
Christa Gebel: Viel Fernsehen, viel agressives Verhalten: zumindest in den USA
Große Aufmerksamkeit – insbesondere im Kontext der Erfurter Gewalttat – erregen derzeit Ergebnisse einer repräsentativen Längsschnittstudie aus den USA, die einen Zusammenhang zwischen hohem Fernsehkonsum im Jugendalter und aggressivem Verhalten im späteren Lebenslauf nachweisen kann (Johnson, J. J. et al., 2002). In über 700 Familien wurden in mehrjährigen Abständen Interviews zur Kindesentwicklung, u.a. zum Fernsehkonsum, durchgeführt. Die Kinder, deren Entwicklung verfolgt wurde, waren zu Beginn der Studie im Jahr 1975 im Durchschnitt 5,8 Jahre alt (plus/minus 3 Jahre). Ihnen – den nunmehr Erwachsenen – wurde zuletzt im Jahr 2000 ein Fragebogen vorgelegt, der aggressives Verhalten erfasste. Zur zusätzlichen Absicherung wurden die zu den Befragten vorliegenden Daten der Justizbehörden in die Auswertung einbezogen.
Die Studie bestätigt zunächst Bekanntes:
(a) Ein hoher Fernsehkonsum – in diesem Falle bereits ab einer Stunde täglich – korreliert mit vermehrt aggressivem Verhalten gegen andere Personen.
(b) Ungünstige Entwicklungsfaktoren wie Vernachlässigung in der Kindheit, Aufwachsen in einer unsicheren Nachbarschaft, geringes Familieneinkommen, geringes Erziehungsengagement und niedriger Bildungsstand der Eltern sowie psychische Störungen gehen mit beiden Verhaltensweisen einher: sowohl mit erhöhtem Fernsehkonsum als auch mit einem erhöhten Ausmaß aggressiven Verhaltens.Neu ist allerdings,
(c) dass die Korrelation von hohem Fernsehkonsum und aggressivem Verhalten nicht allein durch die erfassten ungünstigen Entwicklungsbedingungen aufgeklärt wird. Vielmehr bleibt auch dann ein Zusammenhang bestehen, wenn deren Einfluss statistisch kontrolliert wird.
(d) Ferner gab es bis dato noch keine Untersuchung, die diesen Zusammenhang längsschnittlich und langfristig geprüft hat. Hier wird die Menge des Fernsehkonsums im Durchschnittsalter von 14 Jahren in Beziehung gesetzt zum Ausmaß aggressiven Verhaltens gegen andere Personen zwei Jahre und acht Jahre später.Darüber hinaus kann die Studie die gleiche Verbindung auch für ein höheres Lebensalter nachweisen: wer im Durchschnittalter von 22 Jahren viel fernsieht, weist ein höheres Risiko für aggressives Verhalten gegen andere Personen im Durchschnittsalter von 30 Jahren auf.(e) Weiterhin ergibt sich, dass Jugendliche, die im Durchschnittsalter von 14 Jahren andere Personen angreifen und Kämpfe austragen, bei denen jemand verletzt wird, mit durchschnittlich 22 Jahren mehr fernsehen als andere.Die Autoren der Studie tendieren zu einer kausalen Interpretation der Ergebnisse: Aggressives Verhalten ist nur teilweise auf die erfassten negativen Entwicklungsfaktoren rückführbar; das ausgiebige Fernsehen trägt einen eigenen Teil dazu bei. Außerdem finden sich Hinweise auf Wechselwirkungen zwischen gewalttätigem Verhalten und erhöhtem Fernsehkonsum.
Die Autoren schränken selbst ein, dass eine strenge Prüfung von Kausalhypothesen nur im Experiment zu erbringen ist – was sich allerdings ethisch verbietet – und räumen ein, dass es noch mehr moderierende Entwicklungsfaktoren geben könnte als die hier Erfassten.Den Zusammenhang zwischen aggressivem Verhalten und Fernsehkonsum erklären sich Johnson et al. über den Inhalt der Fernsehprogramme: wer viel fernsieht, sieht auch viel Gewalt, wie Programmanalysen nahe legen.Diese Studie, die als aufwändige Untersuchung mit breiter Fragestellung methodisch sorgfältig erscheint, überzeugt auf den ersten Blick, setzt sie doch durch das Längsschnittdesign, die Langzeiterstreckung und die breite Erfassung von Entwicklungseinflüssen neue Maßstäbe, die man für die medienpädagogische Forschung nur begrüßen kann.
Bedenklich stimmen die Ergebnisse besonders in Hinblick darauf, dass fernseherzieherische und jugendschützerische Bemühungen von Eltern im Jugendalter nachlassen (vgl. Schorb / Theunert, 2001). Die interpretatorischen Einschränkungen, die Johnson und Kollegen selbst vorbringen, darf man dabei jedoch nicht aus den Augen verlieren. So hätte eine differenzierte Erfassung der familiären Erziehungspraxis und des Familienklimas eventuell weitere moderierende Variablen erbracht. Auch wäre die Erhebung des Freizeitverhaltens sinnvoll gewesen. Dies könnte aufzeigen, welche sozialen Lernerfahrungen den vielsehenden Jugendlichen im Vergleich mit ihren wenigsehenden Altersgenossen entgehen. Ferner wären aufschlussreichere Befunde möglich gewesen, wenn erhoben worden wäre, was sich die Jugendlichen tatsächlich im Fernsehen ansehen.Ohne die Ergebnisse zu verwerfen, liegt die Schwäche der Untersuchung aus medienpädagogischer Sicht darin, dass das Design der „Children in the Community“-Studie nicht auf die Frage der Fernsehnutzung und ihrer Folgen zugeschnitten ist.
Dies zeigt sich zuerst an der großen Standardabweichung von plus/minus drei Jahren vom jeweils zu Grunde liegenden Durchschnittsalter. Wie aus zahlreichen Studien bekannt ist, schwankt die Menge des täglichen Fernsehkonsums in Kindheit und Jugend phasenweise. Dies wirft die Frage auf, welche Rolle die große Altersspanne spielt, ob sie die hier gefundenen Zusammenhänge bekräftigt oder verwässert.Schließlich ist zu diskutieren, in wie weit die gefundenen Ergebnisse auf deutsche Verhältnisse übertragbar sind; dies betrifft sowohl das Fernsehprogramm und die familiären Sehgewohnheiten als auch das gesellschaftliche Verhältnis zu Gewalt. Wünschenswert wäre für Deutschland eine langfristig angelegte Längsschnittstudie, die Fragen der quantitativen und qualitativen Mediennutzung und ihrer Folgen in einem ähnlich breiten Erhebungskontext in den Mittelpunkt stellt.
Literatur:
Johnson, Jeffrey J. et al.: Television Viewing and Aggressive Behavior During Adolescence and Adulthood. Science Magazine, 29.03.02, Vol. 295, 2468-2471
Schorb, Bernd / Theunert, Helga: Jugendmedienschutz – Praxis und Akzeptanz, Vistas, Berlin 2001
thema
Christina Schachtner: Entdecken und Erfinden
Nachdenken über einen integrativen BildungsbegriffDie Neuen Medien provozieren Fragen über das Warum, Wie und Was des Lernens. Welche Lernformen müssen zur Aneignung des Mediums und ihrer Angebote entwickelt werden? Was kann durch und mit den Neuen Medien erlernt werde? Bekannte Fragen spitzen sich im Lichte der Neuen Medien zu, differenzieren sich und verwandeln sich in neue FRagen. Leren mit Neuen medien erweist sihc als Konstruktionsspiel, initiiert und vorangetrieben sowohl durch die medialen Anmutungen als auch durch die Anregungen der am Konstruktionsspiel beteiligten sozialen Umgebung. Gegenstand des Lernens ist nicht nur das Medium mit seinen Angeboten, sondern darüber hinaus das medium in seinen Wechselbeziehungen zur individuellen und gesellschaftlichen Umgebung.
Das Medium entpuppt sich als evokatorisches Objekt, als Gegenstand, über den, durch und mit denkt (vgl. Leithäuser/Löchel/Scherer/Tietel 1995, 14ff ). Es evoziert Reflexionen, Wünsche, Phantasien, die "weit in die Welt hinaus" und "tief in die Seele hinabreichen". Der Begriff Netz-Medium beschreibt nicht nur die technische Struktur des Mediums, sondern auch die Lernwege, die sich in der Auseinandersetzung mit dem Medium entwickeln und die Erkenntnisse auf der Makro- und Mikroebene zutage fördern. Es sind sich verzweigende Lernwege, auf denen das Subjekt unterwegs ist; sie zeichnen sich mehr durch Aufbruch als durch Angekommensein aus...
( merz 2002/03, S. 145 - 153 )
Beitrag aus Heft »2002/03: Mediale Lernwelten«
Autor: Christina Schachtner
Beitrag als PDFEinzelansichtBurkhard Priemer, Rudolf Zajonc: Das Internet in der Welt der Bildungsmedien
Die Nutzung des Internet wird in vielen Bereichen des Lebens in Zukunft eine so bedeutende Rolle spielen, dass das WWW zum selbstverständlich genutzten Medium von Schülern und Lehrern wird. Mit großem Engagement von Politik und Wirtschaft sind im letzten Jahr alle Schulen in Deutschland mit Internetzugängen ausgestattet worden. Dabei unterscheidet sich der Umfang der technischen Ausstattung in den Schulen erheblich: von einzelnen Computern im Lehrerzimmer bis hin zu einem Netzwerk von Rechnern in verschiedenen Klassenräumen. Mit der Bereitstellung einer derartigen Infrastruktur verknüpft sich die Erwartung an den Lehrkörper, die neuen Medien auch zu nutzen. Allgemeingültige Rezepte für einen pädagogisch wertvollen Einsatz des Internet im Unterricht sind eine utopische Forderung.
Neben der erheblich differierenden technischen Ausstattung müssen inhaltliche und (fach-)didaktische Aspekte genauso berücksichtigt werden wie im konkreten Einzelfall die Struktur der Klasse und sogar die Persönlichkeit des Lehrers. Letzterer sollte hinter dem Konzept für den Interneteinsatz in seinem Unterricht stehen und muss sich entsprechend von den Möglichkeiten des Internet für Lehr-Lernprozesse selbst überzeugt haben. Auch wenn eine gewisse Skepsis durchaus angebracht ist, sollte davon ausgegangen werden können, dass Lehrer aller Fachrichtungen mit dem Internet vertraut sind und seinen Wert für den Unterricht regelmäßig reflektieren.Die von uns während verschiedenen Untersuchungen gemachten Erfahrungen der letzten Zeit zeigen, dass viele Lehrer bereit sind, sich auf das Internet “einzulassen” und das Medium selber nutzen.
Aufgrund der Rasanz der technischen und gesellschaftlichen Entwicklung steht dem entsprechenden Bedürfnis nach fundierten Hilfestellungen derzeit noch ein Mangel an wissenschaftlich abgesicherten Erkenntnissen und evaluierten Konzepten der Forschung gegenüber. In diesem Beitrag wird daher der Versuch unternommen, mit einem inhaltlichen Schwerpunkt den Bildungswert des Internet praxisbezogen zu analysieren und so die eben skizzierte Lücke zu verringern.Dabei sollen auf der einen Seite kurz Lehren aus vergangenen “Bildungsrevolutionen” gezogen werden, auf der anderen Seite Erkenntnisse aus eigenen Untersuchungen genauso zur Verfügung gestellt werden wie Hinweise aus der internationalen Forschung, die uns eine pragmatische Einordnung des Internet als Lehrmedium zu erleichtern scheinen...
( merz 2002/03, S. 154 - 163 )
Beitrag aus Heft »2002/03: Mediale Lernwelten«
Autor: Burkhard Priemer, Rolf Zajonc
Beitrag als PDFEinzelansichtHeinz-Jürgen Kliewer: Literatur hören
"Zur Medienpädagogik ist doch alles schon gesagt, oder?" Mit dieser provokanten Frage eröffnet Gudrun Stenzel soeben das 11. Beiheft der "Beiträge Jugendliteratur und Medien" mit dem Thema "Vom Papiertheater zum Computer. Alte und neue Medien in Theorie und Praxis". Vor allem zu den Hörmedien ist offenbar schon alles gesagt, denn sie kommen im Reigen der Aufsätze nur an einer versteckten Stelle vor (Braunagel 2000: 92-96). Haben es CD-ROM, Internet & Co tatsächlich nötiger, ins Bewusstsein der LehrerInnen gehoben zu werden als das Medium menschliche Stimme, das uralte Pärchen Erzählen und Zuhören?
Welche Folge hat die litaneihafte Wiederholung der Forderung: Medienbildung muss integraler Bestandteil der wissenschaftlichen, pädagogischen und didaktischen Ausbildung werden? Sie wird es aber nicht, wo Lehrpläne nebulos und unverbindlich bleiben, wo sporadische Lehrangebote nur sporadisch wahrgenommen werden. Und die Zukunft verheißt nichts Gutes; die lautstarken Aufrufe "Schulen ans Netz" werden dafür sorgen, dass die alten Medien noch stärker ins Abseits geraten! Warum sollte man nur einen "Internet-Führerschein" brauchen und keinen für den Film und das Hörspiel, für das Fernsehen und das Radio?...
(merz 2002/03, S. 164 - 168 )
Beitrag aus Heft »2002/03: Mediale Lernwelten«
Autor: Heinz-Jürgen Kliewer
Beitrag als PDFEinzelansichtHannelore Ohle-Nieschmidt: Mediale und reale Lernwelten
„Lernen mit allen Sinnen“ – das hieß bis vor wenigen Jahren: ein Buch mit ergänzenden Materialien, Audio- und Videokassette und natürlich reales Erleben und Erfahren. Je mehr Sinne angesprochen werden, desto leichter lernen Menschen und um so besser wird das Gelernte behalten, wandert also vom Kurzzeit- in das Langzeit-Gedächtnis. So unterschiedlich wie Menschen sind, auf so unterschiedliche Weise lernen sie
. Seit einigen Jahren ist mit dem Computer, genauer gesagt mit didaktisch anspruchsvoller Lernsoftware, ein weiteres Medium verfügbar, das Lernen auf eine bis dahin nicht gekannte Weise ermöglicht. Mit ihm kann der Schüler bzw. die Schülerin interagieren, Lernprozesse selbst organisieren und individuell lernen. Aber sowohl Hardware als auch Software sind teuer...
( merz 2002/03, S. 169 - 171)
Beitrag aus Heft »2002/03: Mediale Lernwelten«
Autor: Hannelore Ohle-Nieschmidt
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medienreport
Christina Oberst-Hundt, Walter Oberst: Zum "Umgang Heranwachsender mit Konvergenz im Medienensemble"
Wissenschaft, Politik, Wirtschaft, vor allem die Hardware- und Unterhaltungsindustrie und Medien, sowohl die privat-kommerziellen wie auch die öffentlich-rechtlichen, haben aus unterschiedlichen Gründen großes und dauerhaftes Interesse daran, aktuelle und umfassende Daten über alle Aspekte der Mediennutzung zu erhalten.
Private Forschungsinstitute, Universitäten und andere Einrichtungen beschäftigen sich in Permanenz mit den vielfältigen Konsequenzen, welche die dynamische Entwicklung im Mediensektor hervorbringt. Für alle Interessierten, einschließlich WissenschaftlerInnen, ist es in der Regel zweckmäßig und sinnvoll, die Forschungsergebnisse transparent zu machen, abzugleichen und auf ihre Relevanz hin zu überprüfen, neue Fragestellungen und Forschungsmethoden zur Diskussion zu stellen, bislang nicht involvierte Wissenschaftsdisziplinen zur Mitarbeit aufzufordern.
Eine Veranstaltung in diesem Sinne war die von der Bayerischen Landeszentrale für neue Medien (BLM) und dem ZDF am 14. März 2002 veranstaltete und vom JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis organisierte ExpertInnendiskussion zum Thema „Umgang Heranwachsender mit Konvergenz im Medienensemble“. Ziel dieser Veranstaltung war es, „den Themenkomplex ‚Medienkonvergenz’ aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu beleuchten, den interdisziplinären Kenntnisstand zu reflektieren und dies für forschungspraktische Untersuchungsansätze zu Konvergenz nutzbar zu machen.“
Im Rahmen der zur Verfügung stehenden knappen Zeit - zwölf Referentinnen und Referenten stellten in etwa fünf Stunden ihre Ergebnisse zur Diskussion - konnte dieser Anspruch kaum erschöpfend eingelöst werden. Der vorgegebene knappe Zeitrahmen erzwang jedoch einen pointierten Vortrag, ein Beschränken auf Signifikantes und ein Herausstellen der „Highlights“ der Forschungsergebnisse...
( merz 2002/03, S. 180 - 182 )
Beitrag aus Heft »2002/03: Mediale Lernwelten«
Autor: Christina Oberst-Hundt, Walter Oberst
Beitrag als PDFEinzelansichtStephanie Haan: www.d-a-s-h.org
Seit Februar diesen Jahres ist das Projekt „D-A-S-H – für Vernetzung, gegen Ausgrenzung“ online. D-A-S-H besteht in einer Internetplattform, die vom JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis München und dem Lehrstuhl für Medienpädagogik der Universität Leipzig aufgebaut wurde. Ihr Anliegen ist es, politisches Engagement junger Menschen gegen Ausländerfeindlichkeit mit der aktiven Auseinandersetzung mit Medien zu verknüpfen und medienpädagogisch zu unterstützen.
Durch Medienarbeit, v.a. durch den projektorientierten Einsatz des Internets und Vermittlung von Medienkompetenz sollen Jugendliche politisches Bewusstsein entwickeln und gemeinsam aktiv werden. D-A-S-HDie Internetplattform D-A-S-H bietet dem Netzbesucher ein vielfältiges Angebot: In einem Newsletter erhält er aktuelle Informationen zur Thematik, so beispielsweise zur rechtlichen Lage von Ausländern in Deutschland oder zu Debatten um Umgang mit Rechtsextremismus.
Ein Rechercheportal, bestehend aus einer Suchmaschine und einem Verzeichnis relevanter Web-Adressen, erschließt ihm systematisch Aktivitäten und Materialien zu den Themen Toleranz, Ausgrenzung und Rassismus...
( merz 2002/03, S. 183 - 186 )
kolumne
Bernd Schorb: Die Sprachlosigkeit bekämpfen
Für unsere Gefühle aber auch für eine Erklärung des Geschehens von Erfurt fehlen uns die Worte. Doch auch für die Reaktionen der Boulevardmedien ebenso wie vieler Politiker fehlen mir die Worte. Haben alle wirklich ein so kurzes Gedächtnis, dass sie Politikern und Boulevardmedien Glauben schenken, die nun Medienverbote fordern? Kann sich keiner erinnern, dass bei jedem Amoklauf, sei es in einem bayrischen Internat oder in Freising das Gleiche gefordert wurde und nichts geschehen ist? Warum werden Verbote gefordert und dann von den gleichen Leuten nicht umgesetzt?Dafür gibt es "gute" Gründe. Einer ist, dass man weiß, dass das Problem nicht allein und nicht einmal primär bei den Medien liegt. Es ist völlig richtig, dass man fragen muss, warum wir es zulassen, dass in Spielen und Filmen Gewalt geradezu abgefeiert wird. Es ist auch zu fragen, warum die Mitglieder unserer traditionsreichen Schützenvereine Pumpguns kaufen dürfen.
Gegen die exzessive Gewalt in allen Medien gehört etwas getan und dies hätte auch schon geschehen können. Erreicht wäre damit aber noch nicht sehr viel.Wider besseren WissensMedieninhalte sind nicht Verursacher von Gewalthandlungen, sondern Verstärker von Gewaltbereitschaft. Das wissen Wissenschaft, Politik und Medien seit einem Vierteljahrhundert. Medien können nur dort verheerend wirken, wo bereits Voraussetzungen gegeben sind. Bei Menschen, die so labil oder krank sind, dass sie Gewalt als Ausweg aus ihrer Misere sehen.Gewaltverherrlichende Medien entstehen und finden nur in einer Gesellschaft massenhafte Abnehmer, die es akzeptiert, dass Gewalt als Mittel des Handelns propagiert wird. Fehlen Zuschauer und Käufer durch gesellschaftliche Ächtung von Gewalt, dann gibt es auch keine Gewaltmedien mehr. Geld und Gewinn sind die obersten Maximen unserer Ökonomie – auch im Medienbereich.Die Realität: Deregulierung statt EinschränkungGewalt in den Medien hat immer zwei Seiten. Sie hält uns einerseits einen Zerrspiegel vor, in dem wir in übertriebener Weise sehen, welche Werte wir akzeptieren und was wir für "normal" halten. Andererseits kann sie das Gewalthandeln solcher Menschen mit anstoßen, die nur darin einen Weg aus einer persönlichen Katastrophe sehen.Gegen die Propagierung von Gewalt in allen Medien muss natürlich etwas getan werden, aber man darf sich davon nicht erwarten, dass solche Fälle wie Erfurt verhindert werden. Zumal es unwahrscheinlich ist, dass tatsächlich etwas unternommen wird. Schon gar nicht von denen, die jetzt laut nach Sofortmaßnahmen rufen. Denn eine Behinderung der Medien stünde gegen die erklärte Politik der Bundes- und Landesregierungen ebenso wie gegen die der großen Parteien.
In der realen Medienpolitik in Deutschland geht es nicht um Verbote oder Einschränkungen, sondern um Deregulierung. Und das heißt: Beseitigen, was das Wachstum der Medienindustrie behindern könnte. Wie sonst ist es zu erklären, dass einerseits Verbote gefordert werden und andererseits ein Jugendmedienschutzgesetz vorbereitet wird, das die Kontrolle der Medieninhalte dem Einfluss der Medienindustrie überlässt?Dann bestimmen so genannte Selbstkontrollen über die Inhalte und deren Gefährlichkeit – beim Fernsehen ebenso wie bei Computerspielen, bei deutschen Internetanbietern ebenso wie bei den Videoverleihern. Über den Inhalt dieses Gesetz sind sich Bund und Länder schon letztes Jahr einig gewesen, nur wegen der Zuständigkeiten gab es wie üblich Streit. Es wird wohl im November verabschiedet werden – nach den Wahlen, wenn Ruhe auch über das Grauen von Erfurt eingekehrt ist.Und die Boulevardmedien? Sie haben schon gar keine Interesse, Verbote zu fordern. Sie tun dies so lange die Katastrophe brandaktuell ist, aber dann schweigen sie, wie sie das bei jedem der vorherigen Amokläufe getan haben. Wären sie doch selbst von einem solchen Verbot betroffen.Woher kommt die Sprachlosigkeit?
Wie Erfurt gezeigt hat, ist das grundlegende Problem die Sprachlosigkeit: Ein junger Mann, der mit seinen Eltern in einer für ihn existenziellen Situation nicht reden kann, ihnen nicht einmal sagt, dass er von der Schule geflogen ist. Er redet über sich und seine Probleme auch mit niemand anderem, weil er wohl in seinen Mitschülern, Lehrern und Schützenbrüdern keine Freunde hat. Er flüchtet sich in mediale Scheinwelten und auf den sehr realen Schießstand.Diskutiert werden müsste darüber, wie es dazu kommen kann, dass wir so unfähig sind miteinander zu kommunizieren, zu erkennen, wenn der Mensch gegenüber verzweifelt, krank oder gar gefährlich wird. Natürlich würden wir in einer solchen Diskussion auch Einigkeit darüber erzielen, was die Medien sollen und was nicht und wir würden das auch umsetzen. Aber in erster Linie würden wir uns bei uns selbst und in unserer Gesellschaft umsehen, wo die Ursachen für solche Katastrophen liegen.Richtige KonsequenzenSo sehr mich das Verhalten der Boulevardmedien und führender Politiker erzürnt und zugleich deprimiert hat, so sehr habe ich mich über die Nachricht gefreut, dass die Gutenberg Schule in Erfurt vor hat, sich als Reaktion nicht abzukapseln, sondern das Miteinander zu verbessern. Sie wollen zur Modellschule werden, in der alle lernen, sich wahrzunehmen, gemeinsam zu sprechen und zu handeln. Das ist eine kluge und weitsichtige Antwort aus Erfurt, von der alle lernen können.
Ansprechperson
Kati StruckmeyerVerantwortliche Redakteurin
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