2002/02: Körperwelten
thema
Swen Körner: Den Body checken
Gleichviel, ob Werbung, Fernsehen, Internet, Sport oder Biotechnologie: In den sozialen Choreographien des 21. Jahrhunderts erscheint der Körper als Spielmasse, Objekt der Verzückung und Repräsentant unzähliger Denk- und Machbarkeiten - Body rules. Doch was ist das eigentlich, was genau meinen wir, wenn wir sagen: ‘Körper’? Richtig, einen Gegenstand. Einen Zustand? Auch richtig.
Was Extremsportlern buchstäblich ‘letzten Halt’ im Diesseits garantiert, sie Schmerz, Glück, Angst und Müdigkeit empfinden lässt, erscheint unter dem distanzierten Blick detailbeflissener Nanotechnologen oder Werbestrategen schlicht als Arbeitsfläche inwendigen bzw. äußerlichen Tunings.
Helmuth PLESSNER prägt für diese Differenz von Unmittelbarkeit und Mittelbarkeit, von Zuständlichkeit und Gegenständlichkeit im Verhältnis des Menschen zu seinem physischen Substrat das Begriffspaar Leib sein und Körper haben - theoretisch voneinander zu scheidende, in der Lebenswirklichkeit hingegen unaufhebbar verschränkte Facetten menschlichen Daseins...
( merz 2002/02, S. 78 - 82 )
Christoph Bieber: Der Körper als Kapitalanalge
Der Begriff des "Körpers" lässt sich in vielen Kombinationen mit dem Bereich der Politik zusammen bringen. Über en Begriff des "politischen Körpers" im Sinne eines "Gemeinwesens" haben sich bereits zahlreiche politische Theoretikes ihre Köpfe zerbrochen, die "Körperpolitik" als Politikfeld erlebt zum Beispiel entlang der Debatte um Stammzellen eine Renaissance und über die ästhetischen und stilistischen Reize von "Politiker-Körpern" in alten und neuen Medienumgebungen. Hier werde ich mich auf einen Ausschnitt konzentrieren, nämlich die "alten Medien", repräsentiert durch das World Wide Web.Die vielen aufdringlichen Körpereinsätze von Politkerinnen und Politikern sind beinahe omnipräsent. Fast unweigerlich denkt man an den bildschirmfüllenden Körper eines Helmut Kohl, n den Fallschirm springenden Jürgen W.Möllemann, den durch den Rhein schwimmenden Klaus Töpfer, den im regelmässigen Wechsel abnehmenden Joschka Fischer, an Angela Merkels Hairstyling oder an die Wasserspiele des Verteidigungsministers.
All dies sind populäre Kurz-Schlüsse zum Thema "Körper und Politik(er)". Auch international wird dieser Kategorie eniges geboten, stellvertretend seien zwei US-Präsidenten genannt: während Bill Clinton einen ganz eigenen Begriff des "politischen Körpereinsatzes" etabliert hat, hielt der Amtskörper von George W. Bush nicht der Auseinandersetzung mit einer ganz profanen Salzbrezel Stand.Diese Beispiele sind bekannt, und sie werden in der wissenschaftlichen Diskussion auch immer wieder verwendet - meist allerdings in einem anderen Zusammenhang: nämlich wenn es darum geht, die Verwachsungen zwischen Politik und Medien zu beschreiben. Die folgenden Ausführungen beleuchten die Rolle der Medien als Bühne für politische Körperinszenierungen und zeigen, dass der Körper ein besonders wichtiges "Werkzeug" für Politiker ist...
( merz 2002/02, S.83 - 88)
Kornelia Hahn: Körperrepräsentation in der Mediengesellschaft
Die Einführung der Farb-Television im August 1967 in Westdeutschland war für einige mit einem äußerst schmerzhaften Erlebnis verbunden. Der Spiegel eröffnete einen Kommentar über die neue Bilderwelt mit der Schilderung aus einer aktuellen Fernsehproduktion:„Ein jäher Geißelhieb klatschte auf den entblößten Rücken des Marquis de Sade. Stöhnend krümmte sich der Gepeinigte – der Peitschenriemen hatte eine rötliche Spur in die Haut geschnitten. Dann durchzuckte ein zweiter Schlag die Stille im überhitzten Fernsehstudio. Dreimal, fünfmal, zehnmal sauste die Geißel nieder und zeichnete ein blutiges Muster in den Rücken des Sade-Darstellers Charles Regnier, der in die Knie brach. Nach dem zehnten Hieb erloschen die Scheinwerfer, die Kameras fuhren zurück.
Aus der zerfetzten Haut des Schauspielers sickerte Blut. Ein Arzt, vom Regisseur vorsorglich ins Atelier bestellt, eilte herbei und öffnete den Medikamentenkoffer. Die realistische Auspeitschung in den Hamburger Studios des NDR – Höhepunkt bei den Dreharbeiten zu dem Peter-Weiss-Stück ‚Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats...‘ im Juni – stand im Zeichen einer neuen Fernseh-Ära. Der zerfleischte Rücken des TV-Akteurs Regnier wird farbecht auf deutschen Bildschirmen bluten – schmerzlicher Tribut an eine Errungenschaft, über deren Wert oder Unwert noch gestritten wird ... Der Leiter des ZDF-Studios in Düsseldorf, Ferdinand Ranft, nannte es ‚einen Schmarrn‘: das Farbfernsehen.“...
( merz 2002/02, S. 89 - 94 )
medienreport
Margret Köhler: Die Berlinale 2002: Neue Leitung, neue Konzeption
Der neue Festivalchef Dieter Kosslick bestand die Feuertaufe. Seine erste Berlinale gilt als Erfolg: Knapp eine halbe Million Zuschauer, ein interessantes Programm, mehr Aufmerksamkeit für den deutschen Film. Das A-Festival fand eine eigene Handschrift und Position.Der Wettbewerb„Dieses Jahr feiern wir das Politische“ verkündete die indische Regisseurin und Juryvorsitzende Mira Nair und begründete damit die überraschenden Entscheidung, den „Goldenen Bären“ ex aequo an den britisch-irischen Beitrag „Bloody Sunday“ und das japanische Zeichentrickfilmmärchen „Spirited Away“ zu vergeben. Wenn man es ganz genau nimmt, hatten beide Filme im Wettbewerb wenig zu suchen. Paul Greengrass` engagierter Politfilm über ein blutiges Kapitel im Nordirland Konflikt, bei dem am „Blutigen Sonntag“ 13 friedliche Demonstranten im Kugelhagel der britischen Armee starben, wurde schon im Januar im britischen Fernsehen ausgestrahlt, Hayao Miyzakis Animationsfilm bezaubert zwar durch konventionelle und aufwändige Handarbeit, ließ als erfolgreichster Film aber bereits nicht nur die Kassen in seinem Heimatland, sondern auch in anderen Ländern Asiens klingeln, ein Regelverstoß. Bei vier deutschen Beiträgen im Programm konnte es nicht ausbleiben, einen zu prämieren. Der „Silberne Bär“ als Großer Preis der Jury entsprach der positiven Resonanz für Andreas Dresens tragikomische Lebens- und Liebeskrise „Halbe Treppe“ für den die Berliner Presse zusätzlich tagelang trommelte. Pikant: Die Wettbewerbsteilnahme Dresens stand wegen des Abstimmungs-Patts in der Auswahlkommission auf der Kippe, erst Dieter Kosslicks Votum gab den Ausschlag.
Auf der „Halben Treppe“ befinden sich zwei Paare im mittleren Alter, die sich auseinandergelebt haben und gegenseitig betrügen, der Dia-Abend mit Bier und Salzstangen zu viert hat sich totgelaufen. Diese gewöhnliche Geschichte von ganz gewöhnlichen Leuten berührt durch ihre unprätentiöse Einfachheit, da geht es um den Verlust von Träumen im Plattenbau, um verdrängte Wünsche und Bedürfnisse. Trotz verwackelter und manchmal sehr dunkler Bilder, wuchsen einem die unglücklichen Protagonisten ans Herz (siehe dazu das Interview).Dass Tom Tykwers opulentes Werk „Heaven“ leer ausging, mag schmerzen wie auch die Unterbewertung von Dominik Grafs sperrigen „Der Felsen“. Tykwer brachte das zustande, was viele vergeblich versuchen: großes Gefühlskino made in Germany. Graf, der sich nach „Die Sieger“ (1994) erstmals wieder mit einem Spielfilm im Kino zurückmeldete, stieß auf kontroverse Reaktionen - vom höchsten Lob bis zum erbarmungslosen Verris. Der Münchner erzählt von einer Mittdreißigerin, der schon zu Beginn er Handlung der Boden unter den Füßen weggezogen wird. Ihr verheirateter Liebhaber verlässt sie und sie fällt in ein Vakuum der Verunsicherung. Nur widerwillig akzeptiert sie die Wahrheit über ihre Empfindungen. Der Entwicklungsprozess hinterlässt Narben in der Psyche, bietet aber auch die Chance zu einem Neuanfang. Die Archaik der korsischen Landschaft, die Schroffheit der Bergwelt dienen als Folie für die Vereisung der Seele, die nur langsam aufbricht. Wachsen tut weh.
Ganz schlimm traf es Christopher Roth mit „Baader“. Die unbekümmerte Mischung aus Fakten und Fiktion über den RAF-Terroristen erntete nach der Gala nicht nur laute Buhrufe, auch der Regisseur wurde wüst beschimpft. Mit Recht. Der Werbefilmer blickt frei von jeglichem belastenden Wissen auf Andreas Baader, der vom einfachen Autodieb zur revolutionären Leitfigur wurde und lässt ihn am Ende in Anlehnung an „Billy the Kid“ filmgerecht im Kugelhagen sterben. Roth scheitert am Schaffen eigener Wirklichkeiten. Er will zwar alles in Frage und neue Fragen stellen. Die Antworten blieb er in diesem popkulturellen Trash-Spektakel schuldig. Für jemanden, der sich mit Halb- oder Unkenntnis an ein zeitgeschichtliches Thema wagt, wird das Eis schnell dünn. Wie im vergangenen Jahr, als man „Traffic“ nicht berücksichtigte, ging auch diesmal einer der haushohen Favoriten, Marc Forsters Drama über Todesstrafe und Rassismus „Monster´s Ball“ leer aus, die Auszeichnung als Beste Darstellerin für Halle Berry ist nur ein kleines Trostpflaster. Auch ihrem Partner Billy Bob Thornton hätte man einen Bären gegönnt. US-Produktionen wie Wes Andersons exzentrische Familienbetrachtung „The Royal Tenenbaums“ oder Richard Eyres` tränenreiches Alzheimer-Epos „Iris“ sollten wohl primär zum Anlocken von Stars dienen. Die zeigten in diesem Jahr Berlin aber die kalte Schulter. Weder Anjelica Huston, Gwyneth Paltrow, Kate Winslet, Judi Dench oder Gene Hackman ließen sich blicken. Dafür entschädigten Russell Crowe, Harvey Keitel und Kevin Spacey. Ganz zu schweigen vom vierköpfigen Damenclub aus Francois Ozons „8 Femmes“, darunter Catherine Deneuve, die hinter dicker Sonnenbrille leicht lächelnd Nachhilfe in puncto Weiblichkeit gab.
Dass François Ozons bejubelter Käfig voller Närrinnen „8 Femmes“ „nur“ den „Silbernen Bären“ für das Darstellerinnen-Ensemble bekam, gehört in die Kategorie unverständliche Fehlentscheidung. Acht Frauen in einem einsamen Landhaus und eine männliche Leiche, Stoff für ein unterhaltendes „Whodunnit?“. Die Damen sind sich gar nicht grün, taumeln von einem hysterischen Anfall in den nächsten, jede versucht, die andere zu kompromittieren, plaudert intime (Familien)Geheimnisse aus. Ozon überrascht mit immer wieder neuen Wendungen, Agatha Christie könnte vor Neid erblassen. In der Künstlichkeit einer Studioatmosphäre treten die Ladies auf und ab wie auf einer Boulevard-Theaterbühne, tanzen in schrillem Outfit nach einer ausgeklügelten Choregraphie und singen Chansons, die ihr Inneres nach außen kehren. Dieses bärige, von Presse und Publikum bejubelte Vergnügen, war der Jury wahrscheinlich zu leichte Kost. Der politische Film feierte bei den 23 Produktionen im offiziellen Programm sein Comeback. So stellten István Szabo („Taking Sides - Der Fall Furtwängler“) und Costa-Gavras („Amen - Der Stellvertreter“) die Frage nach Schuld und Mitläufertum im Dritten Reich, warf Bertrand Tavernier in „Laissez-passer“ einen (nicht gerade kritischen) Blick auf den französischen Widerstand, behandelte Silvio Soldinis „Brenne im Wind“ das Immigrantenproblem, untersuchte Junji Sakamotos „KT“ die Beteiligung des japanischen Geheimdienstes an der Entführung eines koreanischen Dissidenten.
Da passte als Abschlussfilm Chaplins „Der große Diktator“ gut ins Konzept. Auffallend die Zunahme der mit digitaler Videotechnik gedrehten Beiträge, deren oft kaum erkennbare Bilder Authentizität und Dogma-Stil vorgaukelten (man könne doch Cassetten verschicken und so die Kosten für die Berlinale sparen, maulte ein entnervter Kollege). Zwar meckerten schon wieder einige an der „Überrepräsentanz“ deutscher Filme herum, aber da sollte man sich die Franzosen in Cannes in Erinnerung rufen. Nicht nur mit vier deutschen Wettbewerbsfilmen wurde ein deutliches Zeichen gesetzt, auch die neue Reihe „Perspektive Deutsches Kino“ entwickelte sich zum Selbstläufer, da wurde in proppevollen Sälen selbst der kleinste Film noch gefeiert wie ein Oscar-Kandidat. Mit 400 Filmen und rund 500.000 Zuschauer gerät die Berlinale allerdings an ihre Kapazitätsgrenzen, eine Abspeckung des Programms würde sich empfehlen.Als Spielverderber profilierte sich Jury-Mitglied Oscar Roehler, der öffentlich einigen Filmen „Analphabetismus“ und „Niveau eines Home-Videos“ attestierte.
Gespräch mit Andreas Dresen
merz: Wie fühlt man sich nach einem „Silberner Bären“?Andreas Dresen: Ich habe mich schon riesig über die Teilnahme am Wettbewerb gefreut, und jetzt noch einen Preis, das ist das schönste Geschenk. Dabei habe ich mich in die Pressevorführung nicht hineingetraut und vor der Pressekonferenz hatte ich dieses „Dead Man Walking“-Gefühl. Ich war mir nicht sicher, ob wir dem Standard gerecht werden konnten. Die Berlinale ist die Weltmeisterschaft. Hierher zu gehen, erfordert Mut. Davor hat man dann auch entsprechend Schiss. Wir haben es probiert und sind belohnt worden.
merz: Zeigen Sie ein Abbild der Gesellschaft?
Dresen: Natürlich hat der Film etwas mit der Gesellschaft zu tun, in der ich lebe, der Gesellschaft im Osten. Ich erzähle eine winzige Geschichte, die jeder aus seinem Alltag kennt. Inwieweit sich hierin ein gesellschaftlicher Zusammenhang widerspiegelt, muss der Zuschauer für sich entscheiden, wie er auch die für sich wichtigen Essenzen herausfiltern muss. Wir können nur anbieten, so genau wie möglich über diese Figuren zu erzählen.
merz: Die Dialoge sind witzig, traurig und berührend. War wirklich alles Improvisation?
Dresen: Es gab keine Vorgaben. Wir haben am Tisch zusammengesessen und überlegt, aus welchen Szenen setzt sich so eine Geschichte zusammen. Und dann sind wir an den Drehort gegangen und haben uns sozusagen mit verbundenen Augen rückwärts ins Wasser fallen lassen. Durch diese grundsätzliche Offenheit sind überraschende Momente entstanden, Verrücktheiten, Verspieltheiten.
merz: Ist „Halbe Treppe“ ein Beziehungsfilm?
Dresen: Es geht nicht nur darum, dass zwei Menschen fremd gegangen sind und ihre Partner verletzen. Sie kämpfen auch mit anderen Problemen im Leben. Ihre Illusionen und Träume sind sehr klein geworden. Ich zeige einen Ausriss aus einer Wirklichkeit, die niemandem von uns fremd ist.
merz: Inwieweit haben Sie eigenes Erleben eingebracht?
Dresen: Wir haben dieses Thema natürlich gewählt, weil wir die Schwierigkeiten alle ganz gut kennen. Wir sind im gleichen Alter, gehen auf die 40 zu. „Halbe Treppe“ eben. Da zieht man ein Resümee. Wir haben uns unseren Alltag und Beziehungsfrust erzählt und einfließen lassen, natürlich nicht eins zu eins.
merz: Was war Ihnen besonders wichtig?
Dresen: Dass bestimmte Menschen nicht in Vergessenheit geraten. Wir negieren, dass es Leute in diesem Land gibt, denen es nicht so gut geht, vor allem im Osten, aber auch im Westen. Ich wollte die Möglichkeit des sozialen Absturzes erzählen, eine Fallhöhe anzudeuten, ich frage, was passiert mit Menschen, die den Boden unter den Füßen verlieren? Wir leben in einer Gesellschaft, in der Erfolg zählt. Wer den nicht hat, fliegt schnell raus aus dem sicheren Netz.
merz: Alle erhielten bei diesem Projekt die gleiche Gage. Gab es da keinen Ärger?
Dresen: Das hebelt sämtliche Neidgedanken aus. Jeder ist in der gleichen Pflicht, trägt die gleiche künstlerische Verantwortung. Wenn Not am Mann war, musste auch die Schauspielerin mal die Klappe schlagen. Es war ein ganz harmonischer Dreh.
merz: Sie haben mit der Digital-Videokamera gearbeitet, ist das ein Abschied von alten Kinobildern und Aufbruch zu neuen?
Dresen: Kinobilder sind für mich Bilder, die ergreifen, die mir einen inneren Raum eröffnen. Das muss sich nicht über Opulenz erschließen, das kann auch eine Nahaufnahme sein. In Frankfurt/Oder in einer Imbissbude mit Cinemascope zu arbeiten, wäre mir lächerlich erschienen. Sehgewohnheiten sind oft mit Konventionen verknüpft durch das herkömmliche Mainstream-Kino. Mittlerweile gibt es im Kino seit vielen Jahren andere Konventionen, nicht nur Dogma.
merz: Werden Sie weiter mit dieser Technik arbeiten?
Dresen: Die Ästhetik eines Films hängt von der Geschichte ab. Ich überlege derzeit Stoffe, für die ich wieder auf 35mm drehen würde. Vielleicht mache ich in diesem Jahr noch einen Dokumentarfilm.
(Margret Köhler interviewte für merz)
Andreas Hedrich: Filme aus der Sektion Forum des jungen Films und Panorama
Immer wieder ist eine bunte Mischung an Filmen der unterschiedlichen Genres beim „Forum“ im Rahmen der Berlinale zu finden. Filmneulinge und routinierte Stammgäste wechseln sich mit der Präsentation ihrer Filme ab. Das Publikum ist interessiert und diskussionsfreudig. Genau das, was Christoph Terchete in seinem ersten Jahr als Forumsleiter gewünscht hat. Dem Publikum andere Denkweisen, fremde Kulturen, Unbekanntes nahe zu bringen, waren Ziele vieler Filme, so auch von „Aoud rih“ (The Wind Horse) von Daoud Syad aus Marokko. Der alte Hufschmied Tahar und ein aus dem Krankenhaus geflüchteter junger Mann werden zu einem ungleichen Paar auf der Suche nach der Vergangenheit. Der Alte pflegt die Erinnerung an seine Frau an deren Grab und der Jüngere sucht seine Mutter, die er nie kennen gelernt hat. Bei beiden eine Suche nach der eigenen Person und der Einstellung zum Leben.Um an die verschiedenen Wunsch-Orte zu kommen, dient den beiden ein altes Motorrad mit Beiwagen. Dadurch verschafft der Film einen Einblick in die Weiten Marokkos. Die Bilder sind den Handlungen untergeordnet. Ruhige, lange Einstellungen für den Älteren, schnellere Schnittfolgen für den Jüngeren.
Der Film strahlt dabei eine Ruhe aus, die die Gefühle und Gedanken der beiden Männer für die Zuschauer fassbar macht. Lärm, Emotionen, Schnelligkeit, das sind Merkmale von Sandra Gugliottas Film „Un dia de suerte“ (Ein Glückstag), in dem das Alltagsleben der jungen Frau Elsa in Buenos Aires im Mittelpunkt steht. Die historische Verbundenheit, die Kritik an der derzeitigen politischen Lage sind in dem Debütfilm zu spüren, bilden allerdings vor allem den Handlungshintergrund. Im Vordergrund steht die Suche nach Glück. Erzählt wird anhand der Geschichte einer jungen Frau, die zusammen mit ihrer Freundin ihre Zeit mit Gelegenheitsjobs verbringt. Mit der Generation der Eltern und des Großvaters wird das politische Argentinien gezeigt. Der Großvater, ein aus Italien emigrierter Anarchist, macht keinen Hehl aus seinen Überzeugungen, während der mittlerweile arbeitslose Vater von Elsa sich an das Überbleibsel eines vergangen Luxus klammert. Das Leben von Elsa erscheint ruhig, doch unter der Oberfläche lodert eine große Sehnsucht. Die Hoffnung auf ein anderes Leben in der Ferne. Und so träumt sie von ihrem italienischen Urlaubsflirt und einer Reise zum Wiedersehen.Die Suche der Protagonistin wird in fast dokumentarische, schnelle Bilder umgesetzt. Eine einfache Handkamera, Video und wenig Licht verbinden das Geschehen. So werden die Bilder wahrhaftig. Und während die Zuschauer denken, dass Elsa wahrscheinlich niemals ihren Traum verwirklichen und nach Italien reisen wird, ist sie schon da. Ihr Leben geht in Italien genauso weiter, die Szenen aus dem neuen Leben ähneln dem in Südamerika erstaunlich.
Die Geschichte „Atlantic Drift“ fand Michael Daëron bei einer Reise nach Mauritius. Dort entdeckte er 70 Gräber, die zum Meer blicken. Es handelte sich um die Gräber von Juden aus europäischen Metropolen. Menschen, die 1939 eine lange Flucht antraten, die für viele auf Mauritius mit dem Tod endete.Das Tagebuch eines Verfolgten bildet den roten Faden des Films. Eine Mädchenstimme liest aus den Notizen vor, parallel dazu erfährt der Zuschauer von den anderen Protagonisten des Films aus England und Israel, was auf der langen Reise geschah.Aus Wien, Berlin und Budapest sammelten sich über 4.000 Juden, die mit Schiffen Donau abwärts Palästina erreichen wollten. Schon auf dem ersten Teilstück zum schwarzen Meer versuchten die englischen Geheimdienste (belegt durch Akten die erst jetzt für Recherchen freigegeben wurden) die Flüchtenden zu stoppen. Militär und Hafenverwaltungen sollten die Schiffe nicht passieren lassen. Auf dem Meer wurde das Geschehen immer grauenvoller. Zusammengepfercht auf einem kleinen Schiff - eben der Atlantic Drift – wurden die Menschen von den Engländern gehindert, sich im gelobten Land niederzulassen. Sie wurden nach Mauritius abgeschoben, wo sie über vier Jahre in einem Gefängnis interniert waren.Der Film montiert Erinnerungen mit einer realen, nachgestellten Reise einer Überlebenden, seiner Frau, und Geheimdokumenten der Engländer. Die Bilder sind mit elektronischer Musik gekoppelt
. Diese Musik wird vom Regisseur zur Interpretation eingesetzt. Sie steht für sein Tagebuch, in dem Visionen und Geschichten zusammengeführt sind. Die Parallelen, die sich zu heutigen Flüchtlingsdramen und die Abschiebepraxis vieler Länder zeigen, macht das Dokument zu einem überzeugenden Statement in der Diskussion um Asyl und Flucht.Der portugiesische Film „O gotejar da luz“ (Lichttropfen) von Fernando Vendrell, hat die Kolonialzeit im heute von Bürgerkrieg und Naturkatastrophen zerstörten Mosambique zum Thema. Ähnlich wie in Caroline Links „Nirgendwo in Afrika“ steht in „O gotejar da luz“ die Geschichte einer Kolonialfamilie im Mittelpunkt. Zentrale Figur ist ein Junge, der in der Welt der Weißen und mit den Riten der Schwarzen aufwächst. Dabei kommt es zwangsläufig zu kulturellen Spannungen und konkreten Problemen in seiner Familie. Erzählt wird zunächst über das menschliche Miteinander. Zu Beginn kehrt der mittlerweile über 40-jährige Rui an den Ort seiner Kindheit zurück und erzählt rückblickend seine Geschichte. Er wächst mit den weisen Ratschlägen des Fährmanns auf, feierte die Feste der Dorfbewohner mit und das Hausmädchen wird von ihm als seine Schwester angesehen.
Die Idylle wird schnell gebrochen. Der Rassismus dieser Zeit wird spürbar. Während der Faschist Salazar in Portugal herrscht, wird in den Kolonien durch rigide Maßnahmen der Grundstein für heutige Konflikte auf dem afrikanischen Kontinent gelegt. So bekommt auch Rui zu spüren, was es bedeutet, wenn mit der Baumwolle eine Monokultur gefördert wird, die zu Hunger und Unterversorgung führt. Je älter er wird, um so mehr nimmt er die Widersprüche wahr. Die Ausbeutung von Menschen und Boden, die Unterschiede in den Kulturen.Eine Liebesgeschichte zwischen der jungen Schwarzen (Ruis ‚Schwester’) und Carlos, einem Cousin von Rui, bringt die Welt aus dem Lot. Die verbotene Liebe findet in einem Rachemord ein jähes Ende. Das Idyll und die Kindheit sind für Rui zerstört.
Markus Achatz: Herausragende Filme beim Berlinale-Kinderfilmfest
Bei den 52. Internationalen Filmfestspielen Berlin gab es ein Jubiläum zu feiern: Das 25. Kinderfilmfest ging über die Filmbühne, mit elf Spielfilmen und 15 Kurzfilmen. „Kino für Leute ab sechs“ lautete der Titel der ersten Programmreihe im Rahmen der Berlinale 1978. Zu den wichtigen Konstanten zählt bis heute sicher die Internationalität des Programms. Beiträge aus 16 verschiedenen Nationen gewährleisteten auch 2002 – zusätzlich zur breiten Palette an Genres – wieder spannende Einblicke in zahlreiche Kulturen. Eine weitere Tradition – und dies gilt über das Berliner Filmfest hinaus für den gesamten Bereich des Kinos für Kinder – sind die immer wieder hervorragenden Filme aus Skandinavien. Gefühl und SpannungEine dänisch-schwedisch-norwegische Koproduktion ist dieser Debütfilm des 34-jährigen Hans Fabian Wullenweber. Mit „Klatretøsen“ brachte der Filmemacher die gewohnt einfühlsame und auf die kindliche Perspektive bezogene Erzählweise des skandinavischen Kinderfilms mit Elementen des klassischen Actionkinos zusammen. Das Publikum kam mit dieser Kombination bestens zurecht. „Kletter-Ida“ überholte in Dänemark Harry Potter an den Kinokassen!Die 12-jährige Ida gerät ganz nach ihrem Vater – zumindest was die Leidenschaft zum Klettern betrifft. Sie geht heimlich dem gefährlichen Hobby nach und besteigt regelmäßig die hohen Wassertürme eines Fabrikgeländes in der Nachbarschaft. Idas Vater war früher ein bekannter Bergsteiger, bis er bei einer Tour im Himalaya einen schweren Unfall hatte.
Inzwischen betreibt er eine Gokart-Bahn. Dort treffen sich Sebastian und Jonas, um Rennen zu fahren, an ihren heißen Kisten zu basteln und natürlich, um Ida zu treffen, von der sie ziemlich begeistert sind. Idas Vater erkrankt sehr schwer und nur eine teure Operation in den USA kann sein Leben retten. Mit aller Energie versucht Idas Mutter Kredite zu bekommen – ein aussichtsloses Unterfangen. Die Zeit drängt, denn der Zustand des Vaters verschlechtert sich zusehend. Für Ida gibt es nur einen Ausweg, um an die nötigen 1,5 Millionen Kronen für die Operation zu gelangen: den Tresor der CCT Bank knacken. Der Tresor der modernen Bank ist in einem 30 Meter hohen Turm aufgehängt, bewacht von Kameras, einem Sicherheitsdienst und scharfen Hunden. Ida ist auf die Mithilfe von Jonas und Sebastian angewiesen. Die beiden sind zunächst nicht begeistert von Idas verrückter Idee. Da aber jeder von beiden bei Ida die „Nummer Eins“ sein will und es um das Leben von Idas Vater geht, lassen sie sich zum spektakulärsten Bankraub in der Geschichte Dänemarks überreden.Alles was auch im spannenden „Erwachsenen“-Kino zu sehen ist, wird in „Kletter-Ida“ aufgeboten. Verfolgungsjagden, Stunts und Action, aber auch Freundschaft, Liebe und Enttäuschungen finden ihren Platz in der Geschichte. Zudem wartet der Film mit einer Mädchenfigur auf, die mit Durchsetzungsvermögen und Raffinesse ihr Ziel im Auge behält und ihre Umgebung für sich zu gewinnen vermag. Regisseur Wullenweber ist es gelungen die Technik und Dramaturgie actionreicher Filme mit einer guten Story zu verbinden. Den Kindern im Publikum hat es auf jeden Fall Spaß gemacht und der junge Regisseur scheint den Bogen nicht überspannt zu haben.
Beim Verlassen des Kinos äußerte ein Zehnjähriger gegenüber seiner erwachsenen Begleiterin, dass es an manchen Stellen ruhig noch etwas spannender hätte sein können. Die elfköpfige Kinderjury zwischen elf und vierzehn Jahren sprach „Kletter-Ida“ eine Lobende Erwähnung aus. Zuneigung und TrauerZum Abräumer der Preise avancierte der norwegisch-schwedische Film „Glasskår“. Er gewann sowohl den Gläsernen Bären für den besten Film der Berliner Kinderjury als auch den Großen Preis des Deutschen Kinderhilfswerkes, der jährlich von einer internationalen Fachjury ausgelobt wird. Regisseur Lars Berg war bereits 1997 Gast beim Kinderfilmfest mit „Maya Steingesicht“. Mit „Einschnitte“ hat Berg einen ernsten, anrührenden Film inszeniert. Viktor ist 13 Jahre alt, sein größeren Bruder Ole Kristian ist nicht nur ein fantastischer Eishockey-Keeper, sondern auch ein großes Vorbild für ihn. Schon früher hatte Viktor, immer wenn jemand gefragt hatte, was er mal werden wollte, geantwortet: „Wie mein Bruder“. Viktor steckt am liebsten mit seinen beiden Freunden Arnor und Roger zusammen. Viele Dinge treiben die drei um. Sie wollen irgendetwas „Cooles“ auf die Beine stellen. Und so haben sie beschlossen, eine Band zu gründen, obwohl keiner ein Instrument spielen kann. Aber die Jungs sind sich sicher, dass die Mädchen trotzdem auf eine Band abfahren. Weil die drei Freunde so mit ihren eigenen Plänen beschäftigt sind, merkt Viktor zunächst gar nicht, dass mit seinem Bruder etwas nicht stimmt und dass sich alle zunehmend merkwürdig benehmen. Eines Tages erzählt Ole, dass er gar nicht Viktors leiblicher Bruder sei, denn Onkel Reidar ist der echte Vater. Ole Kristian ist an Krebs erkrankt und muss immer häufiger in die Klinik. Erst allmählich wird Viktor klar, was sein Bruder meinte, als er sagte, dass vielleicht einmal Viktor der Stärkere der beiden sein würde.
Nadine, Viktors gleichaltrige Freundin, deren Zuneigung ihn noch recht verwirrt, spricht aus, was niemand zu sagen wagt: Ole Kristian hat Leukämie. Ole geht es immer schlechter und er stirbt. Für Viktor bleibt eine schwere Aufgabe zu erfüllen, denn nur er weiß, dass Oles heimliche Freundin Car von seinem verstorbenen Bruder ein Kind erwartet. Viktor muss dafür sorgen, dass das ewige Schweigen in der Familie ein Ende hat. Der Film erzählt von der ersten Einstellung an konsequent vom Hauptprotagonisten aus. Viktor stößt im Laufe der Geschichte auf viele Fragen, die zum Teil wie Lappalien erscheinen, die aber plötzlich wichtig werden. Die Zuschauer können sich mit Viktor identifizieren - mit seinen Erfahrungen und mit den Entscheidungen, die er fällen muss. Gefördert durch die dichte Inszenierung Lars Bergs und das eindringliche Spiel von Hauptdarsteller Eirik Evjen. Dabei schafft dieser Film bei aller Tragik des Themas auch unterhaltende und hoffnungsfrohe Momente. „Einschnitte“ handelt auch von Teenagerpartys, Schülerstreichen, Freundschaften und – ähnlich wie „Kletter-Ida“ – von den überwältigenden Gefühlen der ersten Liebe. Selbst einer der traurigen Höhepunkte des Films, als Viktor nach Oles Tod auf dem Schoß seines Vaters im Gartenstuhl sitzt, während im Haus die Beerdigungsgesellschaft versammelt ist, vermittelt eine melancholische Leichtigkeit, die nicht nur den beiden über die Trauer hinweg hilft. Viktor kann seiner Trauer auch freien Lauf lassen, weil er weiß, dass Nadine zu ihm hält. Er merkt, dass es ihm in diesem Augenblick auch ein kleines bisschen gut geht. Träume und FantasienIm Programm fiel besonders noch ein Kurzfilm auf: „Ballett ist ausgefallen“ von Anne Wild.
Die 34-jährige Regisseurin und Drehbuchautorin hat einen behutsamen und melancholischen Film inszeniert, der durch die kleine Hauptdarstellerin Henriette Confurius und durch die Gesamtchoreographie beeindruckte. Elisa geht diesmal nicht zum Ballettunterricht. Ihre Mitschülerinnen kommen ihr heute besonders doof und kindisch vor. Viel lieber verbringt sie den ganzen Nachmittag am schönsten Ort, den sie kennt: im Eiscafé Dolomiti. Dort arbeitet Holger aus der 12a als Aushilfskellner und der hat schließlich das süßeste Lächeln der ganzen Schule. Elisa traut sich nicht, ihn anzusprechen, aber ihr Horoskop hat gesagt, dass heute etwas Wunderbares passieren würde. Obwohl im Dolomiti nicht besonders viel los ist – für Elisa ist es ein äußerst spannender Nachmittag, denn ihre Fantasie und geheimen Tagebucheinträge lassen tolle Dinge geschehen.Der Film taucht ohne Moralisieren in Elisas Gedankenwelt ein und will keine spektakulären Geschehnisse porträtieren, sondern beweist Gespür für Details. Die Geschichte lässt den Tagträumen einfach freien Lauf. Die internationale Jury verlieh an „Ballett ist ausgefallen“ den Spezialpreis des Deutschen Kinderhilfswerkes für den besten Kurzfilm. Derzeit stellt Anne Wild den TV-Film „Königskinder“ fertig, bei dem Henriette Confurius die Hauptrolle spielt.
Wir dürfen gespannt sein.Klatretøsen(Kletter-Ida)Regie: Hans Fabian Wullenweber – Buch: Nicolai Arcel, nach einer Idee von Hans Fabian Wullenweber, Nicolai Arcel und Erland Loe – Darsteller: Julie Zangenberg (Ida), Stefan Pagels Andersen (Sebastian), Mads Ravn (Jonas), Lars Born (Idas Vater), Nastja Arcel (Idas Mutter) – Produktion: Dänemark, Schweden, Norwegen (Nimbus Film) 2001. – Länge: 89 MinutenGlasskår(Einschnitte)Regie: Lars Berg – Buch: Harald Rosenløw Eeg, Lars Berg, nach dem gleichnamigen Kinderbuch von Harald Rosenløw Eeg – Darsteller: Eirik Evjen (Viktor), Martin Jonny Raaen Eidissen (Roger), Eirik Stigar (Arnor), Ine M. Eide (Nadine), Jonas Lauritzsen (Ole Kristian), Lasse Kolsrud (Viktors Vater), Janne Kokkin (Viktors Mutter), Robert Skjaerstad (Onkel Reidar) – Produktion: Norwegen, Schweden (Paradox Produksion AS) 2001 – Länge: 76 MinutenBallett ist ausgefallen (Ballet was cancelled)Regie: Anne Wild – Buch: Anne Wild – Darsteller: Henriette Confurius (Elisa), Matthias Schweighöfer (Holger), Maria Petz (Laura), Lena Stolze (Frau mit Cellokasten) – Produktion: Deutschland (Jost Hering Filmproduktion) 2001 – Länge: 14 Minuten
Erwin Schaar: Das Abbild der Körper und die Reflexion der Wahrnehmung
Wenn der voyeuristische Fernsehzuschauer um Mitternacht intime erotische Bilder zu sehen wünscht, kann er den Sender „Neun Live“ einschalten., wo bis 6 Uhr früh „la notte – sexy night“ läuft. Im Minutentakt entkleiden sich dort Frauen aller Hautfarben bis zum buchstäblichen Nichts. Wenn er nun glaubt, dass er das der sexuellen Libertinage des frühen 21. Jahrhunderts zu verdanken hat, sitzt er natürlich einem Irrtum auf, weil schon das beginnende 20. Jahrhundert die Erfindung des Films dazu nutzte, die Entblößung des weiblichen Körpers in bewegten Bildern vorzuführen. Diese 100 Jahre und mehr alten Reminiszenzen können in der AusstellungPrüderie und Leidenschaft – der Akt in der viktorianischen ZeitIm Münchner Haus der Kunst betrachtet werden. Die von der Tate Gallery London übernommene Ausstellung, die noch in New York und in Japan in Kobe und Tokio zu sehen sein wird, möchte zeigen, dass das 19. Jahrhundert in England nicht nur von der sprichwörtlichen viktorianischen Prüderie beherrscht wurde.
Das heißt, dass die vielen, oft großformatigen Gemälde mit nackten Körpern nicht zur alltäglichen Bildkultur der Briten gehörten. Dabei dürften die sittlichen Ansichten des niederen Volkes nicht mit denen höherer gesellschaftlicher Stände identisch gewesen sein. Es ist zu vermuten, dass durch die als mindere Kunst verachtete Photographie einem Abbildverbot des nackten Körpers entgegengewirkt wurde, dem sich die malenden Künstler nicht widersetzen mochten und sie sich daher mit camouflierenden klassischen Szenerien dem Thema näherten, um die Auftraggeber, die naturgemäß aus den höheren Schichten stammten, von der dargestellten Nacktheit zu überzeugen. Diese konnten sich dann mit gutem Gewissen öffentlich an dem gemalten Fleisch ergötzen.Die Prüderie in England des 19. Jahrhunderts mochte aus der puritanischen religiösen Entwicklung auf der Insel resultieren und so wurden in Kunstausstellungen meist nur Porträts, Landschaften oder historische und literarische Szenen gezeigt. Die ersten Anfänge der Globalisierung brachten die Kunststudierenden aber Mitte des Jahrhunderts nach Paris – und dort mussten sie ja infiziert werden!Diese Ausstellung versucht nun die Entwicklung der Aktmalerei zu systematisieren und macht uns zuerst mit Versuchen bekannt, die naturalistische Darstellungen von weiblichen Körpern in klassische Bildthemen einbanden. Die griechische Klassik oder Shakespeare Dramen boten genügend Anlässe und die darin eingebundenen nackten Frauenkörper entbehrten jeglicher an die Wirklichkeit gemahnenden Sexualität.
Es wird ja kolportiert, dass John Ruskin in der Hochzeitsnacht beim Anblick von Effie Grays Schamhaar vor Abscheu ins Wanken geriet, weil seinem Gemüt das haarlose Ideal antiker Skulpturen entsprach.Aber die Entwicklung hin zum Lasziven war nicht aufzuhalten, wobei der männliche Akt kaum mit dem Sittenkodex in Konflikte geriet – das bevorzugte virile Ideal von Männlichkeit konnte ja nur vollkommen unterdrückten homosexuellen Neigungen, die nur im geheimen ausgelebt werden konnten, zur Versuchung gereichen.Was nicht zu verhindern war trat ein, der Akt löste sich den bürgerlichen Bildzusammenhängen und wurde zu einem eigenständigen Sujet bildnerischen Gestaltens, wobei natürlich die filmischen und photographischen Nacktaufnahmen das verlangen einer ganz anderen Klientel stillten. Sie erblickten nicht so intensiv das Licht der Öffentlichkeit. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erfolgte ihre massenhafte Verbreitung.Das Material der Ausstellung bietet genügend Anknüpfungspunkte, um über nackte Körperdarstellungen zu reflektieren, da muss gar nicht über die Historie nachgedacht werden. Das beweisen die Aufnahmen nackter kleiner Mädchen, die vom Verfasser von „Alice im Wunderland“, Lewis Carroll, stammen.
Die Fotos aus dem Jahr 1879 könnten ihn, wenn er heute leben würde, ganz schön in die Bredouille bringen.Kann diese Ausstellung in ihrer Systematik wenig überzeugen, weil die Verbindungen von Geschichte, Wahrnehmung, Moral, trivialen Kulturäußerungen sich erst dem erschließen, dem die Themen nicht ganz fremd sind – zu viele schwer erträgliche kitschige Bilder werden als Ausstellungsobjekte zu ernst genommen -, dann wird der Betrachter mit der parallel laufenden Präsentation im selben HausMalerei und Skulptur im Wettstreit. Von Dürer bis Daumiereine stringent aufgebaute Lektion in Wahrnehmungs- und Mediengeschichte erwarten, die zudem noch viel Freude und Lust beim Betrachten einzelner Exponate bereit hält. Mit dem individuellen Erwachen in der westlichen Kultur ging auch die Emanzipation der Künste einher. Die mediale Vermittlung löste sich von der Abhängigkeit der Religion und machte das bildnerische Schaffen, das mediales schaffen war, zum Inhalt des Nachdenkens über skulpturale und malerische Darstellungen. Natürlich muten historische Konstruktionen im Nachhinein meist sinnfällig an, weil Ausklammerungen immer bewusst getätigt werden, um linear darzustellen. Aber solch bewusst angestrebten Konstruktionen erleichtern uns das Nachdenken über zurückliegende Geschichtsprozesse, wenn wir unser Bewusstsein auch über die Vergangenheit definieren. Dieser rationale Prozess scheint mir in der christlichen Kultur ein gesellschaftliches Movens zu sein, im Gegensatz zur islamischen Kultur, die bald nach ihrer Entfaltung in gewolltes stagnatives Denken verfiel.„Malerei und Skulptur im Wettstreit“ beschränkt sich auf die Zeit vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, als die Medien Malerei und Skulptur ihr Selbstverständnis und ihre Selbstdefinition artikuliert haben.
Beide Medien traten in Wettstreit miteinander, welches wohl die wirklichkeitsnähere Darstellung zuwege bringe. Ein häufig gemaltes Sujet war der Blinde, der die Skulptur begreifen kann und damit eine Ahnung der künstlerischen Reproduktion erhält.Die Ausstellung, die sich erstmals dieser Selbstreflexion widmet ist schon von der konzeptionellen Seite her ein Ereignis. Die über 200 Gemälde, Skulpturen, Zeichnungen und Grafiken kommen aus Sammlungen in Los Angeles, Washington, New York, Helsinki, St. Petersburg, Rom, Paris, Wien, London, Kopenhagen und Madrid. Christoph Vitali vom Haus der Kunst ist in Zusammenarbeit mit dem Wallraf-Richartz-Museum Köln eine wahre Glanzleistung gelungen. Nur ein agiler Ausstellungsmacher schafft solche umfangreichen Zusammenstellungen. Die Exponate stammen von Dürer, Spranger, Giambologna, Brueghel, Teniers, Rubens, Rembrandt, Ribera, Giordano, Daumier und anderen: schon von daher eine bewundernswerte Exposition.In der Renaissance begannen die bildenden Künstler über ihre Rolle nachzudenken, bisher waren sie im Gegensatz zu den Dichtern und Musikern nur als Handwerker, als ideenlose Nachahmer der Natur eingestuft. Zunehmend sahen sie sich aber als Überhöher der Wirklichkeit und Neuschöpfer, wie eine in dieser zeit oft gemalte Episode belegt: Der griechische Maler Apelles portätierte die Mätresse Alexanders des Großen, Kampaste, und verliebte sich dabei in sie. Da das Bildnis so hervorragend ausfiel, tauschte Alexander dieses gegen die Frau.Mit der Aufnahme der Skulptur und Malerei in den Kanon der Künste wandelten sich die Zünfte in Akademien, um den gehobenen Status auch in der Ausbildung deutlich werden zu lassen.
Mit Vorlagen aus der griechischen Götter- und Sagenwelt veredelten die Künstler ihre Bildinhalte im humanistischen Geist. Bei Hofe erlangten sie zudem gesellschaftlichen Aufstieg, wenn sie auf Grund ihres Könnens, das von den Herrschenden anerkannt wurde, in den Adelsstand erhoben wurden.Mit dieser Beachtung bei den höchsten Ständen erweiterte die neue akademische Kaste ihr Metier mit selbstgefälligen Bespiegelungen ihrer eigenen Person. Die Selbstbildnisse sollten nunmehr von ihrer Schöpfergabe und ihrem Nachdenken über die Welt Zeugnis geben. Die Zeichen für eine musische und gelehrte Welt wurden zu Bildbeigaben ihrer eigenen Porträts. Kunstsammlungen und Verkaufsräume ihrer Werke wurden in Bildern dargestellt. Das neu gewonnene Selbstbewusstsein und die gesellschaftliche Anerkennung werden aber bald durch Daumiers Karikaturen oder durch Bilder wie das von Chardin, der einen Affen als Maler vor seiner Staffelei zeigt, konterkariert. Die Erhabenheit des Künstlers wird auch als brüchige Existenz imaginiert, wie Rembrandts Selbstbildnis aus seinem letzten Lebensjahr zeigt. Vor der Entblößung des Körpers fand bereits die Entblößung der Psyche statt.Prüderie und Leidenschaft. Der Akt in viktorianischer Zeit. Ausstellung bis 2. Juni 2002 im Haus der Kunst, München. Katalog bei Hatje-Cantz, Ostfildern (288 S., Preis in der Ausstellung: EUR 25,00)Wettstreit der Künste. Malerei und Skulptur von Dürer bis Daumier. Ausstellung bis 5. Mai im Haus der Kunst, München; vom 25. Mai bis 25. August 2002 im Wallraf-Richartz-Museum – Fondation Corboud, Köln. Katalog bei edition Minerva, München (472 S., EUR 29,50).
Sophie Anfang: Lernsoftware im Test
Lernsoftware im Test
Lernsoftware scheint oft die letzte Rettung zu sein, wenn die Tochter oder der Sohn in der Schule schlechte Leistungen bringen. Dann wird zum Matheblaster oder Französisch-Paukprogramm gegriffen, denn diese versprechen, spielerisch die Lernprobleme in der Schule zu lösen. Dass Lernprogramme keine Wundermittel sind, dürfte inzwischen jedem klar geworden sein, der seinem Kind ein solches Programm gekauft hat. Empirische Untersuchungen belegen, dass vor allem die Probleme der Lernmotivation und des Motivlernens mit programmierten Unterweisungsverfahren wie sie Lernsoftware darstellt nicht so einfach in den Griff zu bekommen sind. Trotzdem boomt der Softwaremarkt gerade in diesem Bereich und Schulbuchverlage wie z.B. Klett haben inzwischen ein reichhaltiges Arsenal von Lernsoftware im Programm, das für jede Alters- und Schulstufe etwas zu bieten hat. Im folgenden werden drei Edutainmentprogramme dieses Verlags von einer Expertin unter die Lupe genommen, die zur Zielgruppe dieser Lernsoftware gehört. Die 12-jährige Schülerin Sophie Anfang hat die Tauglichkeit verschiedener Edutainmenttitel in Bezug auf spielerisches Lernen geprüft und ihre subjektive Einschätzung gegeben. Die Auswahl ist zufällig und erhebt nicht den Anspruch, das gesamte Programm des Verlages zu beurteilen.
(Günther Anfang)
Physikus - Das Abenteuer aus der Welt der Naturwissenschaften
Idee und Realisation: Ruske & Pühretmaier, Design und Multimedia GmbH 1999 - Vertrieb: HEUREKA-Klett Software GmbH, Postfach 106016, 70049 Stuttgart - MAC und Windows - DM 99,-
Ein dunkler Bildschirm, wunderschöne 3D-Landschaften, das ist die Welt des PHYSIKUS. Der User schlüpft in die Rolle eines jungen Physikforschers, der auf einer Reise durch den Weltraum einen Hilferuf von seinem Planeten bekommt: Nach einem Meteoriteneinschlag steht der Planet still. Auf der einen Halbkugel stirbt man vor Hitze, auf der anderen vor Kälte. Deshalb haben die Bewohner eine riesige Impulsmaschine gebaut, die mit einem gigantischen Rückstoß die Welt wieder zum Drehen bringen soll. Aber im entscheidenden Moment fehlen ein paar Volt, die Welt in Bewegung zu setzen und die Bewohner des Planeten fliehen. Der Baumeister der Impulsmaschine hinterlässt jedoch die Bitte, den Planeten zu retten. Einziges Hilfsmittel ist sein tragbarer Laptop, auf dem er all sein Wissen gespeichert hat.Per Mausklick wandert man nun als Spieler durch eine atemberaubende Landschaft, um das Rätsel zu lösen. Dabei sammelt man Gegenstände, wie zu Beispiel Gewichte oder optische Linsen ein, die man später unbedingt braucht, um genügend Strom zu erzeugen. Damit sich der Planet wieder dreht, gilt es die Gesetze der Optik, Mechanik und der Akustik anzuwenden, um physikalische Probleme zu lösen. Wem da nicht gleich ein Licht aufgeht, hilft der Lernteil, bei dem sogar ich Mathemuffel gleich mehr mit Physik anfangen konnte.Zu Recht ist PHYSIKUS der Favorit bei HEUREKA KLETT. Der einzige Haken an dem Spiel ist allerdings, dass die Aufgaben ziemlich schwer zu meistern sind. Ich habe jedenfalls ziemlich viel Zeit gebraucht, um vorwärts zu kommen! Doch das Spiel ist ja auch erst ab 12 Jahren.
Wenn man irgendwann die Lust am PHYSIKUS verliert, kann man das auf der CD-ROM mitenthaltene „PHYSIKUS-Diveln“ installieren. Bei diesem Spiel kann man durch Auffangen kleiner Bärchen Punkte sammeln. Das bringt etwas Abwechslung in die physikalischen Aufgabenstellungen und hat mir viel Spaß gemacht.
Mean CityProduktion: Language Art Limited 1998 - Vertrieb: HEUREKA-Klett Softwareverlag GmbH, Postfach 10 60 16, 70049 Stuttgart - MAC und Windows - DM 79,-
„Lern english, have fun!“ lautet der Anfangssatz der Beschreibung von MEAN CITY im HEUREKA-Klett Info-Heft. Doch dieser Satz ist nur zum Teil richtig. Denn zum Englischlernen ist dieses Spiel eher ungeeignet. Der User muss nämlich schon mindestens ein halbes Jahr Englisch können, damit er alle Personen des Spiels verstehen kann! Der Sinn des Spiels besteht darin, MEAN CITY vor dem Untergang, den die geheimnissvolle Jinx plant, zu bewahren. Dazu hat man allerdings nur begrenzt Zeit und wer sich bei den ins Spiel eingefügten Übungen zu blöd anstellt, schafft das nicht.
MEAN CITY ist ein Spiel in einer Comiclandschaft, in der man normalen Menschen begegnet, mit denen man ins Gespräch kommt. Dabei erscheinen am Rand des Bildschirms Sprechblasen mit Antworten, von denen aber die meisten nicht richtig sind. Oder soll man etwa auf „Do you want a single room?“ „ Do you want marry me?“ antworten? Leider ist die Grafik der Comiclandschaft oft verwirrend und man irrt stundenlang durch die City, während die Zeit weiter läuft.Als Extra findet man in der Packung einen Lageplan von MEAN CITY und ein Work Book, dessen Übungen sich auf die verschiedenen Abschnitte des Spiels beziehen.
Alles in allem ist MEAN CITY eher ein Adventure auf Englisch, als ein Lernspiel. Doch Leuten, die bereits Englisch können, macht das Spiel sicher viel Spaß.Die Abenteuer von Valdo und Marie
Produktion: Ubi Soft Entertainment 1999 - Vertrieb: HEUREKA-Klett Softwareverlag GmbH, Postfach 10 60 16, 70049 Stuttgart - MAC und Windows - DM 69,-
Auf ins 16. Jahrhundert, das Jahrhundert der Entdeckungen. Gemeinsam mit dem Jungen Valdo reisen wir mit einem Schiff nach Japan, um dort mit seinem Vater, einem Händler, Seide und andere Gegenstände aus seiner Heimat Portugal zu verkaufen. Auf der Sao Bartalomeu lernt Valdo das französische Mädchen Marie kennen. Doch auf der hohen See lauern Gefahren: Flauten, Stürme, Piraten... Gott sei Dank findet Valdo in Marie und dem Seemann Phillipe echte Freunde, mit denen er alle Gefahren überwinden kann. Neben dem Abenteuer, das zu bestehen ist, sind es vor allem die schönen Videoszenen, die das Spiel interessant machen. Gut gefallen hat mir auch, dass das Abenteuer von Valdo und Marie verschieden zu Ende gespielt werden kann. Außerdem fand ich prima, dass nicht alle Gegenstände, die man anklicken kann, Erfolg bringen. So zum Beispiel, sollte man es vermeiden, eine heilige Kuh in Indien anzuklicken bzw. zu berühren, denn das könnte leicht zum Ende des Spiels führen! Sechs Spiele, die der User zwischendurch bewältigen muss, bringen außerdem etwas Abwechslung in das Spiel: das Schiff durch den Atlantik steuern, eine Ganesha-Figur zusammensetzen, eine knifflige Fischfalle auslösen oder die Kiste des Samurais knacken. Da fängt der Kopf schon mal zu rauchen an. Im Beiheft wird der Spieleablauf erklärt und man bekommt einige Tipps zur Lösung der Aufgaben, allerdings in Spiegelschrift. Doch sollte man darauf nicht sofort zugreifen.
Auch in diesem Spiel ist es notwendig, Gegenstände einzusammeln, um weiterzukommen. Außerdem muß man immer wieder Aufgaben lösen, damit das Abenteuer nicht vorzeitig endet. So muss man zum Beispiel im Sturm sehr schnell einen Mann finden, der die Segel einholt oder in Indien einer Frau das richtige Schmuckstück geben. Gelingt das nicht, ist man mit seiner Mission gescheitert.
HEUREKA KLETT hat dieses Spiel für Kinder ab 9 Jahre ausgeschrieben. Da ich bereits 12 Jahre alt bin und bei manchen Spielszenen noch kleine Schwierigkeiten habe, denke ich, dass dieses Spiel eher für etwas ältere Kinder ist, vor allem wenn sie, wie ich, wenig Geduld aufbringen, etwas wieder und wieder zu versuchen.
Außerdem ist mir Valdo als Hauptperson des Spiels nicht sehr sympathisch. Marie als Hauptfigur hätte ich viel lieber. Trotzdem ist dieses Spiel insgesamt sehr gut!
Tilmann P. Gangloff: 25. Stuttgarter Tage der Medienpädagogik
Die Dummen werden immer dümmer, die Klugen immer klüger: Auf diese ebenso schlichte wie besorgniserregende Formel lässt sich die so genannte Wissenskluft-Hypothese reduzieren. Technischer Fortschritt wird in den nächsten Jahren dazu führen, dass die Schere noch weiter auseinander klafft: Immer mehr Schulen setzen auf Bildung durch Technik. Nicht nur an den Projektschulen der Bertelsmann-Stiftung, auch an vielen anderen hat der Computer längst Einzug gehalten. In Bayern ist das Unterrichtsfach IT an weiterführenden Schulen Pflicht, in Baden-Württemberg theoretisch auch. Doch wenn die Schüler ihre Kenntnisse nicht zuhause am PC vertiefen können, wird vieles auf der Strecke bleiben. Ohnehin gelten zum Beispiel Hauptschulen schon jetzt als Verlierer des Fortschritts: Vielerorts sitzen in den Hauptschulklassen vor allem Kinder von Ausländern; da ihre Eltern nicht wahlberechtigt sind, engagiert sich die Politik prompt nur noch halbherzig. Fatal ist dies vor allem in Hinblick auf den Arbeitsmarkt der Zukunft. In spätestens dreißig Jahren, so führte Siemens-Manager Egon Hörbst, Dozent an der TU München, im Rahmen der 25. Stuttgarter Tage der Medienpädagogik (Thema: "Technische Innovation = Bildungsfortschritt?") aus, werden 60 bis 70 Prozent der heutigen Arbeitsplätze ausgelagert sein.
Die "Telearbeit" werde die Gesellschaft genauso verändern wie die Erfindung des Rads. Auf die neuen Strukturen der Gesellschaft müsse das Bildungssystem daher vorbereitet sein; es dürfe nicht reagieren, sondern müsse diese Veränderungen antizipieren. Auf Seiten der Arbeitnehmer zum Beispiel setze Telearbeit natürlich neben Computerkenntnissen eine gewisse Selbstständigkeit voraus; wer die nicht mitbringe, so Hörbst, werde wohl auf der Strecke bleiben. Ohnehin prognostiziert der Mathematiker einen Anstieg der Arbeitslosigkeit in den nächsten fünf bis zehn Jahren auf sechs Millionen: "In Zukunft werden auch jene Arbeiten stark verändert, von denen man heute noch glaubt, sie könnten nur von einem Menschen durchgeführt werden." Gefährdet sind laut Hörbst zum Beispiel Ärzte, zumal komplizierte Operationen am Gehirn schon jetzt von Computern erledigt würden, aber auch Lehrer. Von diesem Berufsstand verlangt Hörbst, dass er endlich alle Vorbehalte gegenüber der Technik überwinden soll. Ohnehin erwartet die Wirtschaft eine stärkere Ausrichtung der Schulen auf gesellschaftliche Erfordernisse. Allein in München fehlen laut Hörbst 50.000 Fachkräfte in neuen Berufen wie Fachinformatiker, IT-Systemelektroniker oder Fachberater für verschiedenste IT-Bereiche.
Diese grundlegende Veränderung der Arbeitswelt, die sich gleichzeitig öffnen wie auch vernetzen wird, muss sich auch im Bildungssystem niederschlagen. Die Wirtschaft erwartet von den Schulen daher, dass Lehrpläne nicht nur abgearbeitet werden; wo immer der Einsatz des Computer sinnvoll erscheine, müsse er auch tatsächlich zum Einsatz kommen. Daher verstehe es sich von selbst, dass jeder Lehrer den Computer auch beherrsche. IT-Qualifikation, so Hörbst, "wird eine der wesentlichen Voraussetzungen für einen qualifizierten Arbeitsplatz werden". Zweite Forderung: Die Schüler sollen mehr soziale Kompetenz mitbringen. Sie sollten sowohl im selbstständigen Arbeiten wie auch im "Teamwork" geübt sein; daher müsse in den Schulen verstärkt auf Gruppenarbeit und Projekte gesetzt werden. Das Ideal wäre also ein Zustand, wie er bereits jetzt an den Bertelsmann-Projektschulen herrscht: Die Schüler arbeiten in modellhaften Medienprojekten, und die Ergebnisse sind dank Intranet allen zugänglich. All dies ist zwar eine Frage des Geldes, aber machbar. Aus Sicht der Lehrer ist jedoch gerade die soziale Kompetenz vielleicht sogar das größere Problem: Bei vielen Schülern, so klagen die Lehrer, handele es sich um kleine Prinzen und Prinzessinnen, die sich um die Interessen der Gruppe wenig scherten, sondern in erster Linie an sich selbst dächten.
Die guten Absichten drohen also an der normativen Kraft des Faktischen zu scheitern, denn theoretisch würden wohl alle Lehrer unterstreichen, was sich die Medienschulen aus dem Bertelsmann-Projekt zum Ziel gesetzt haben: Hier will man erreichen, dass die Schüler möglichst effizient lernen und die Schule als mündige, gebildete Bürger verlassen, die bereit sind, Verantwortung zu übernehmen. Doch welche Herausforderungen auch immer die Zukunft bringen wird: Zu den Bausteinen einer neuen Lehr- und Lernkultur wird ein deutlich stärker handlungsorientiertes Lernen gehören, mehr Lernen im Team, fächerübergreifende Projekte und mehr Selbstverantwortung sowohl für die Schülerinnen und Schüler wie auch für die Schule. Die Schüler/innen selbst sind übrigens schon deutlich weiter. In ihren Schulutopien fordern sie mehr Freizügigkeit beim Lehrstoff sowie selbstständiges Lernen am Computer, und zwar zuhause; in die Schule kommt man nur noch zum Diskutieren und für Gruppenarbeiten.
Beate Weyland: Eine noch junge Disziplin: Medienpädagogik in Italien
Ziel dieses Beitrages ist es, einen Überblick zu geben über die aktuelle Entwicklung der Medienpädagogik in Italien und dabei die wichtigsten Vertreter dieser für uns neuen Disziplin ebenso vorzustellen wie die MED, Italiens erste Vereinigung für die Medienerziehung. Schließlich soll auch ein Bild der aktuellen epistemologischen Diskussion zur akademischen Anerkennung der Medienerziehung entworfen werden. Italien hat eine noch junge Geschichte im Bereich der Forschung und des pädagogischen Umgangs mit den Medien. Verglichen mit anderen Ländern fehlen hier systematische Überlegungen und aufeinander abgestimmte und belegte Methoden. Dennoch nimmt die Diskussion um das Verhältnis Medien und Erziehung heutzutage angesichts der Entwicklung neuer Technologien und der zunehmenden didaktischen und organisatorischen Autonomie der Schule immer mehr Raum ein.
Und auch im akademischen Bereich werden Vorschläge laut für Ausbildungsangebote und Masterkurse in Medienerziehung als Antwort auf einen immer größeren Argumentations- und Handlungsbedarf im Hinblick auf unser mediales Umfeld.Zum Begriff der Media EducationUnter ‚Medienpädagogik‘ verstehen die Italiener nicht dasselbe wie die Deutschen. Im deutschsprachigen Raum verbindet man damit alle theoretischen und praktischen Überlegungen zur Beziehung zwischen Mensch, Medien und Erziehung. In Italien ist diese wörtliche Zusammensetzung von Pädagogik und Medien nicht vorgesehen, obwohl sich verschiedene Pädagogen bereits seit der Erfindung des Kinos damit beschäftigt haben. Ein Grund hierfür liegt wohl darin, dass es der Pädagogik unter dem Einfluss von Giovanni Gentile nicht gelingen wollte, sich von der Philosophie als selbstständige Wissenschaft abzugrenzen, sondern deren Teildisziplin geblieben ist. Die epistemologische Frage an sich war schon ein großes Problem für die Pädagogen, umso weniger konnten sie sich also darauf einlassen, eine weitere Teildisziplin zu begründen...
( merz 2002/02, S. 111 - 117 )
kolumne
Rudolf Maresch: "Cyborgs"
Soeben sind die Olympischen Winterspiele in Salt Lake City zuende gegangen. Zur besten Fernsehzeit konnten wir die Spannweiten von Oberschenkeln, Brustkörben und Oberarmen der AthletInnen bewundern, die technische Präzision, mit der sie ihre Vehikel ins Ziel lenkten ebenso, wie das modische Outfit ihrer Rennanzüge, das Männlein und Weiblein einen merkwürdig androgynen Status verlieh. Dass diese Jagd der Menschenkörper nach Rekorden, Werbeverträgen und Images nicht ganz ohne Wachstumshormone, chemische Zusätze und medizinische Tricks ablaufen würde, ist bekannt. Ernährungspläne, Trainingsprogramme und die Computer gesteuerte Abgleichung von Blut- und Laktatwerten genügen nicht, um über Nacht zum Titanen, Heroen oder Giganten aufzusteigen, der in der Hall of Fame des Weltsports Aufnahme findet.
Den Body mit Wirkstoffen und anderen Stimulantien und Drogen aufzupeppen, ihn mit künstlichem oder im Labor gezüchtetem Material zu screenen oder upzudaten, liegt im Trend. Weswegen wir dieses technische Hochtrimmen eines als mangelhaft erfahrenen Körpers zu neuen Höchstleistungen überall dort finden, wo Fitness und Non-Stop Engagement für die Firma, die Organisation oder den Verein verlangt werden oder der eigene Körper zum Kapital und Markenzeichen im Kampf um mediale Aufmerksamkeit und Prominenz wird. Reproduktionsmedizin, Diätetik und Schönheitschirurgie bieten denn auch eine Vielzahl von Praktiken und Techniken an, um Lippen oder Brüste aufzuschäumen, Häute und Wangenknochen zu glätten oder überflüssige Pfunde abzusaugen.
Der Wille zur Selbstvervollkommnung geht soweit, dass manche(r) sich giftige Substanzen unter die Haut spritzen lässt, um wieder wunderbar frisch wirkende Gesichtspartien zu erzielen. Den Nachteil, den diese subkutane Verabreichung von Bakterien hat, scheinen die auf juvenil getrimmten Personen gern in Kauf zu nehmen. Da durch das Gift die Signalübertragung zwischen Muskel und Nervenzelle gelähmt wird, ist die Person zu keiner Regung der Wut, der Angst oder der Freude mehr fähig. Auf ihre Umwelt wirkt sie daher wie ein Tagesschau-Sprecher oder eine Figur aus Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett. Vor den Möglichkeiten, die Selektions- und Optimierungstechniken anbieten, verblassen die Erfolge der Forschungen zur künstlichen Intelligenz. Trotz lichtschneller und entscheidungssicherer Schach- und Kreditprüfungsprogramme, und trotz aller Tamagotchis, AIBOs und Fußball spielender Robocups, die Eigenschaften lebendiger Systeme (Autonomie, Flexibilität, Teamgeist ...) simulieren, ist es den AI-Forschern bislang nicht gelungen, eine Intelligenz zu modellieren, die der menschlichen in etwa gleichkommt oder sie gar übertrifft. Offensichtlich lässt sich Intelligenz nicht so einfach von seinem kohlenstoffbasierten Träger trennen oder auf andere Stoffe übertragen.
Damit sie selbstständig Entscheidungen treffen, situativ auf Ereignisse reagieren und Bekanntes im Lichte neuer Erkenntnisse reflektieren kann, braucht die Intelligenz die Erfahrung der Erdschwere, der Verdauung, der Bewegung usw.Wahrscheinlicher ist deshalb eine Kooperation und schrittweise Annäherung von Mensch und Maschine. Diese Cyborgisierung des Menschen vertritt beispielsweise auch Rodney Brooks in seinem Buch „Menschmaschinen“, das soeben im Campus Verlag erschienen ist. Darin wagt der Direktor des Artificial Intelligence Lab am MIT einen Ausblick, wie man sich die technische Manipulation des Menschenkörpers bald vorzustellen hat: Gehörschnecken, die eine direkte Verbindung zum Nervensystem herstellen, Netzhaut-Chips für Blinde, Arm- und Beinprothesen, die womöglich vom Gehirn aus gesteuert werden. Und während Roboter mit Menschen kommunizieren, die Gentherapie den Hautsack auf zellulärer Ebene manipuliert, machen Schulkinder ihre Hausaufgaben mit implantiertem Internetzugang.
In Philipp K. Dicks „Do Androids Dream of Electric Sheep?“, der Romanvorlage des SF-Klassikers “Blade Runner” von 1982, ist die Verschmelzung des Menschen mit der Maschine nahezu abgeschlossen. Dort sind die Replikanten bereits so perfekt, dass biologisches Original und technische Fälschung nicht mehr voneinander zu unterscheiden sind. Nur durch einen sogenannten „Empathie-Test“ sind sie von ihren Schöpfern noch zu unterscheiden. Damit wären wir wieder am Anfang, bei den Titanen des Sports. Was sie uns so sympathisch macht, ist ja weniger das Timing, mit der sie ihre Rekorde erzielen. Vielmehr ist es ihr Blut und Schweiß, ihre Wutausbrüche und Tränen der Freude und der Enttäuschung, die uns bewegen und faszinieren. Schon wegen dieses ganzen Gefühlsmatches werden die Roboter-Menschen den Maschinen-Robotern immer eine Nasenlänge voraus sein.
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Kati StruckmeyerVerantwortliche Redakteurin
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