2001/03: Wahrnehmung Ästhetik Pädagogik
thema
Wolfgang Zacharias: Alles ist ästhetisch – irgendwie und sowieso
Medienkompetenz ist Teil der ästhetisch-kulturellen Kompetenz, die als Bildungsziel verankert sein muss. Medienpädagogik als integrierter Bestandteil eines Bildungskonzepts übernimmt die Aufgabe von kultureller Medienbildung.
(merz 2001-03, S. 146-156)
Beitrag aus Heft »2001/03: Wahrnehmung Ästhetik Pädagogik«
Autor: Wolfgang Zacharias
Beitrag als PDFEinzelansichtChristian Stracke: Der Computer ist kein Nürnberger Trichter
Nicht das Medium selbst ist entscheidend für positive Lerneffekte sondern die Interaktion zwischen Kind und Computer und die dem Medium implizite Lerntheorie, die Vorrang vor der Präsentationsweise hat.
(merz 2001-03, S. 157-160)
Beitrag aus Heft »2001/03: Wahrnehmung Ästhetik Pädagogik«
Autor: Christian Stracke
Beitrag als PDFEinzelansichtEva-Maria Marzok: Auf der Suche nach Qualität im Kinderfernsehen
Auch die Bedürfnisse der Kinder nach Unterhaltung müssen Ernst genommen werden. Ein adäquates Programm sollte ein weites Spektrum von inhaltlicher und formaler Gestaltung umfassen.
(merz 2001-03, S. 161-165)
Beitrag aus Heft »2001/03: Wahrnehmung Ästhetik Pädagogik«
Autor: Eva-Maria Marzok
Beitrag als PDFEinzelansichtHans-Joachim Gelberg: Wenn Bilder und Bilderbücher zum Erlebnis werden
Ein Bild ist nicht ein Bild; es entsteht und verfertigt sich während der Betrachtung. Für die ästhetische Ausbildung der Kinder ist es unabdingbar, dass sie eigene Bilder finden, um so schließlich die Welt begreifen zu lernen.
(merz 2001-03, S. 166-171)
Beitrag aus Heft »2001/03: Wahrnehmung Ästhetik Pädagogik«
Autor: Hans-Joachim Gelberg
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medienreport
Erwin Schaar: Was ein Mensch wert ist...
„Beim black box-Problem geht es um die Erforschung der Verhaltenscharakteristika und der inneren Struktur eines Systems, dessen Eingangs- und Ausgangsgrößen beobachtbar sind“ ist im „Handbuch psychologischer Grundbegriffe“ (Theo Herrmann u.a., München 1977) nachzulesen. Der diplomierte Psychologe Andres Veiel, 1959 geboren, der mit den Dokumentarfilmen „Balagan“ (1993) und „Die Überlebenden“ (1995) reüssierte, hat sich also als Titel für seinen neuen Versuch der Wirklichkeitserforschung einen Begriff aus seinem Fachgebiet gewählt, der keine Lösung des vorgestellten Systems verspricht, es eher mit Bildern, Dialogen, Musik zur weiteren Bearbeitung vorstellt.1989 wird der Bankier Alfred Herrhausen, alleiniger Sprecher des Vorstands der Deutschen Bank durch ein Attentat in seinem Auto getötet, für das die RAF die Verantwortung übernimmt. 1993 stirbt das RAF-Mitglied Wolfgang Grams im Bahnhof von Bad Kleinen. Wie, dafür gibt es zwei Versionen: die offizielle, die von Selbstmord spricht, und die von Grams’ Bruder, der im Film von einem gezielten Polizistenschuss in den Hinterkopf aus unmittelbarer Nähe berichtet. Aber dazu wird im Film nicht weiter Stellung genommen. Es beschleicht einen das Gefühl, dass die Tabuzone um die Auseinandersetzungen von RAF und Staat immer noch nicht ohne Sanktionen betreten werden darf, Bekennertum und Sympathiebekundungen die Sprache der Sympathisanten, Staatsräson die Sprache der Veröfffentlichungen und der Analysen lenken. Die Öffnung der Black Box wird noch hinausgeschoben, damit aus ihr nicht eine Büchse der Pandora wird. Dieses Verhalten oder Vorgehen scheinen alle politischen Systeme verinnerlicht zu haben - vielleicht dient es der sozialen Gesundheit, der Überlebensfähigkeit eines Sozialwesens.
Etwas bisher Unmögliches„Mir war klar, dass der Film damit etwas bisher Unmögliches versucht“ meinte Andres Veiel in einem Interview zu seiner Konzeption, die Leben eines Terroristen und eines Opfers zusammenzubringen. Wobei Grams keine Bezüge zum Attentat gegen Herrhausen unterstellt werden können.*
Beide sind Protagonisten eines historischen Segments der BRD. Beider Tod löst bei den Angehörigen immer noch Schmerz aus. Die Bezugspunkte des Zusehers erreicht der Film mit der verschachtelten Montage des Schicksals beider Menschen, er stimuliert Gefühle dafür oder dagegen - und das bei beiden Männern.
Der musisch veranlagte Wolfgang Grams, der zum gesuchten RAF-Terroristen wird und der alerte Karrieremann Alfred Herrhausen, der in seinen letzten Lebensjahren einen Kurs in der Deutschen Bank steuert, den sein geistlicher Freund im Film so kennzeichnet: Es kann nicht sein, dass wenige Profit aus der Armut der vielen ziehen. Woraus diese Einsicht resultierte? Herrhausen hatte jedenfalls diesen Kurs der gerechten Sache gegen den Widerstand des Managements eingeschlagen, ohne ihn lange verfolgen zu können. Und Grams kämpfte für die Gerechtigkeit in der Welt, gegen alle Mächtigen mit allen Mitteln und erlitt den Tod in frühen Jahren. Sollen wir damit eine Art Parallelität im Opfertod sehen? MontagenIn den abwechselnd montierten Viten werden wir von Angehörigen, Freunden, Kollegen mit Impressionen bedient, die manchmal sehr persönlich und sympathisch geraten, wie bei Traudl Herrhausen, der zweiten Frau des Bankers, deren Selbstverständnis vor der Kamera Vertrauen für diejeningen hinter der Kamera voraussetzt. Kühl und selbstgefällig, machmal kritisch distanziert die Kollegen von der Bank, Thomas R. Fischer, Vorstandsmitglied, Hilmar Kopper, Aufsichtsratsvorsitzender und Rolf E. Breuer, Vorstandssprecher. Zeitweise enervierend und kleinbürgerlich Mutter und Vater von Wolfgang Grams, wenn auch der Schmerz um den Verlust des Sohnes spürbar wird und ihr Stehen zu ihm für sie einnimmt. Erschreckend in ihrer steifen Konventionalität die Schweter von Herrhausen, politisch unbestimmt die ehemaligen Freunde von Wolfgang. Private Aufnahmen und Bilder der TV-Berichte über die Szene zeigen den weichen Habitus von Wolfgang Grams in seiner Jugend, die vornehme Lebensweise des den Reichtum genießenden Herrhausen, der in der NS-Eliteschule im oberbayerischen Herrsching seine Ausbildung erhielt (1930 geboren), eine schnelle Karriere bis an die Spitze schaffte, dann mit seiner Fürsprache für die 3. Welt für Irritationen im Gewerbe sorgte.Wenig Bilder über Grams, dessen soziale Empathie eher ohne Maß war und dessen Gesicht in seiner aussichtslosen Lage immer härter wurde.Die Zeit der Reife?
Die Sympathie des Films scheint eher Grams zu gehören, wenn ich denn richtig zugehört und zugesehen habe. Die musikalische Untermalung beider Porträts drückt bei den Sequenzen über Grams doch mehr das traurige Mitfühlen aus. Herrhausen wirkt immer steif und reich und vergnügungssüchtig, zumindest in frühen Jahren - ein seltsamer undefinierter Freund berichtet über Besuche einschlägiger Etablissements - und bringt dem Zuseher das Gefühl, als Auslöser für die Bewegung gedient zu haben. „Alfred Herrhausen war ein besonderes Hassobjekt, weil er sich aus Sicht der radikalen Linken eine scheinsoziale Maske aufsetzte“ (Veiel im schon erwähnten Interview in „Filmecho/ Filmwoche 19/2001).
Wann werden wir die Sprache und das Selbstverständnis gewinnen, diese Geschehnisse vorurteilslos zu analysieren - ohne Angst, ohne Beschuldigungen, ohne Angst vor Beschuldigungen? Nur zur Lösung dieser Frage kann der Film doch gemacht worden sein. Die Black Box muss also doch geöffnet werden. Der Lebenslauf von Grams scheint eher klar, gern mehr erfahren hätte ich über Alfred Herrhausen, denn er hatte die Macht in seinen Händen, einflussreiche Freunde und bestimmte mit in unserer Gesellschaft.
Beitrag aus Heft »2001/03: Wahrnehmung Ästhetik Pädagogik«
Autor: Erwin Schaar
Beitrag als PDFEinzelansichtFernand Jung: Religionen: Infotainment und echte Information
In einer zutiefst säkularen Welt hat das Interesse an religiösen Themen auf eine überraschende Weise zugenommen. Was auch immer die Gründe hierfür sein mögen, vor allem fernöstliche Heilslehren und nichtchristliche Weltreligionen erleben zur Zeit im Westen eine Konjunktur. Die Nachfrage nach anschaulichen Unterrichtsfilmen zu fremden Kulturen und Religionen hat in letzter Zeit zu einem gesteigerten Angebot bei evangelischen und katholischen Medienzentralen geführt, bei den Landesfilmdiensten und Bildstellen kursieren über 200 Filme mit religiöser Thematik. Auffallend bei den Neuzugängen ist der Trend zu Mehrteilern und Serien, die von Fernsehanstalten übernommen werden, was einerseits einen Mindestanspruch an Qualität garantiert, andererseits aber auch zu Visualisierungsformen führt, die zuweilen an die Grenzen des Erträglichen gehen. Als Beispiel für diese Art von Infotainment im konfessionellen TV könnte man die groß angelegte ZDF-Reihe „2000 Jahre Christentum“ anführen, szenische Dokumentationen im Stil von „Terra-X“, mit viel Aufwand und teils reißerisch inszeniert, hart an der Grenze zum religiösen Kitsch.
Eine der neuesten Produktionen dieser Serie ist Glut unter der Asche - Die Zukunft der Religion: Kreuzzug oder Dialog(Regie: Rob Hof - Produktion: Eikon/ ZDF 1999 - Länge: 45 Minuten - Verleih: Matthias-Film)
In ihr wird der Versuch unternommen, das widersprüchliche Bild Gottes im Christentum, Judentum und Islam zu untersuchen. Die Schauplätze wechseln so schnell wie die Themen. Von Jerusalem über Rom in die arabische Wüste, von einer türkischen Soziologin über Maya-Priester in Guatemala bis hin zu einem Vertreter der San Egidio-Gemeinde in New York. Im Mittelpunkt steht der lange Weg zur Religionsfreiheit und die Entwicklung von mehr Toleranz und Mitgefühl für andere, wobei die Vernichtungsfeldzüge unter dem Zeichen des Kreuzes und die Diskriminierung der indigenen Völker durch den Katholizismus nicht ausgespart werden. Diese Reportage von Rob Hof zeichnet sich durch Sorgfalt bei der Bildgestaltung und beim Schnitt aus und bietet eine Reihe von interessanten Diskussionsansätzen (etwa über den islamischen Fundamentalismus in der Türkei).
Geradezu als Antipode zu dieser neuen Art der Information mittels fernsehgerechter Reportageformen erscheint die Video-Edition, die beim Institut für Film und Bild in Wissenschaft und Unterricht (FWU) unter dem Serientitel Welten des Glaubens erschienen ist. Einzeltitel lauten:Animismus - Naturreligion in Australien / Judentum - Bar Mitzwah / Sikhismus - Der goldene Tempel / Hinduismus - Der Elefanten-Gott(Produktion: Channel Four, Großbritannien 1996 - Länge: je 15 Minuten - Verleih: Bildstellen)
Wie will man Schülern Einsichten in diese bei uns weitgehend unbekannten Religionen vermitteln, wie die komplizierten Zusammenhänge der ihr zugrunde liegenden Philosophien und Denkmuster veranschaulichen, wie lassen sich abstrakte religiöse Gedankengänge filmisch überhaupt darstellen? Erst einmal gar nicht, oder höchstens mit ebenso die Abstraktionsfähigkeit des Zuschauers beanspruchenden Mitteln. Um ein Beispiel zu geben: Den im Buddhismus zentralen Begriff der „Leerheit“ könnte man allegorisch und filmisch adäquat mit einer weißen Leinwand darstellen. Erklärt wäre damit der Begriff aber keinesfalls: Die Schüler hätten vermutlich nichts verstanden und der Lehrer könnte vermutlich nichts erläutern. Die Autoren haben also wieder einmal den bequemsten Weg gewählt, nämlich die Religionen auf Riten und Zeremonien zu reduzieren, die sich filmisch leicht und eindrucksvoll dokumentieren lassen, wählten als Darsteller Jugendliche, die bei der Feier eines populären Festes ihrer jeweiligen Religion in ihrem familiären Umfeld gezeigt werden: Das Fest zu Ehren des Guru Nanak für die Sikhs, das Ganesh-Fest zu Ehren des Gottes mit dem Elefantenkopf für die Hindus usw. „Alles Wissenswerte“ vermittelt der Kommentar. Damit läßt sich zwar keine Einsicht in das Wesen des Sikhismus oder Hinduismus gewinnen, etwas von der Vielfältigkeit der Religionen und von einem anderen Lebensverständnis vermitteln die Filme aber allemal.
Nach diesem Muster sind die meisten der im Angebot befindlichen Filme gestrickt, in ihrer stereotypen Machart austauschbar, kommentarlastig und mit einem Schuss Exotik. Welchen Nutzen diese Art von Unterrichtsfilmen haben mögen, liegt ganz bei den Nutzern und beim pädagogischen Geschick, damit umzugehen. Ohne das Ausgangsmaterial zu kennen, mag dieses Urteil ungerecht sein, handelt es sich doch um die Übernahme von Schulfernsehsendungen des renommierten britischen Senders Channel 4, die aber bei uns in der bearbeiteten Fassung des FWU vorliegen, jeweils auf handliche 15 Minuten gekürzt.Wie problematisch derartige Bearbeitungen sind, hat sich schon des öfteren gezeigt und lässt sich in diesem Zusammenhang an dem Film Wie eine Welle im Ozean(Regie: Wolfgang Bischoff - Produktion: Bayerischer Rundfunk 1995 - Länge: 19 Minuten - Verleih: Medienzentralen) überprüfen, in dem es um die zunehmende Verbreitung des Buddhismus in Deutschland geht. Die Dokumentation aus dem Jahr 1995 war durch ihre Verkürzungen der buddhistischen Methode bereits damals ein Ärgernis für deutsche Buddhisten. Nun liegt eine auf 19 Minuten gekürzte Fassung vor, die das Manko des Originals noch potenziert. Die Quintessenz (und Ratlosigkeit) des Films drückt sich jetzt in seinem Schlußsatz treffend aus: „Weit sind viele Wege zu einem Leben als Buddhist in Deutschland...“
Es gibt nur einen Gott und Mohammed ist sein ProphetIslamische Kultur / Das Glaubensleben / Das Wort und das Gesetz / Kopftuch Glaube Politik / Der Prophet Mohammad / Eine Jugend in Kairo (Regie: Ulrich Baringhorst, Andreas Achenbach - Produktion: KAOS Film- und Videoteam Köln/ WDR 1996 - Länge: je 30 Minuten - Verleih: Medienzentralen)
Zum Thema Islam erschien 1996 eine sechs- teilige Reihe, die das KAOS Film- und Videoteam Köln für den WDR produzierte. Die einzelnen Folgen behandeln auf sehr disparate Weise die unterschiedlichsten Aspekte dieser Weltreligion mit fast einer Milliarde Anhänger. Auffallend lieblos gemacht erscheint „Eine Jugend in Kairo“. Zwei Schüler von islamischen Schulen stellen ziemlich teilnahmslos ihre Familienangehörigen vor. Empfehlenswert ist die Folge „Kopftuch Glaube Politik“, in der eine Auseinandersetzung über das Kopftuch einer Muslima in einer deutschen Schule zum Anlass genommen wird, dieses Symbol für die neue politische islamische Bewegung zu hinterfragen. Islamische Frauen in Istanbul äußern eine differenziertere Meinung zum Kopftuch als die progressive deutsche Lehrerin, die darin nur ein Symbol für die Unterdrückung der Frauen sieht.
„Das Wort und das Gesetz“ behandelt den Koran und die herausragende Bedeutung der Kalligraphie im Islam. Als Eingangssequenz dient hier wie in anderen Folgen auch die große Moschee in Dortmund, der eine Koranschule angegliedert ist. Junge deutsche Muslime geben Auskunft über ihre Religion. So erzählen sie in „Der Prophet Mohammad“ über ihren Religionsstifter, der den Monotheismus in der arabischen Welt begründete. Anschließend blendet der Film nach Istanbul, nach Mekka und zu anderen wichtigen Städten islamischer Kultur. Mit pausenlosem Kommentar versehen, sind Klammerteile aus anderen Filmen zusammenmontiert (die Kaaba in Mekka mit den sie umtobenden Pilgermassen ist ein beliebter Topos), alle möglichen Aspekte einer uns fremden Welt und eines anderen Denkens werden angeschnitten und der (unvorbereitete) Zuschauer bleibt ratlos zurück.
Eingängiger und vor allem filmisch fast allen vergleichbaren Materialien überlegen ist der Film „Mohammed - Die Stimme Gottes“ aus der dreiteiligen Reihe Himmel, Hölle und Nirvana Mohammed - Die Stimme Gottes / Jesus - Rebell oder Messias / Buddha - Der Weg der Erleuchtung (Regie: Sissy von Westphalen, Eike Schmitz, Jens-Peter Behrend, Ingom Hermann - Produktion: Atlantis Film für ZDF 1999 - Länge: je 44 Minuten - Vertrieb: Katholisches Filmwerk)Opulent bebildert gibt dieser Film einen hervorragenden Einblick in das Leben Mohammeds („Der Gepriesene“ lebte von 570 - 632 n. Chr.), ist historisch gründlich recherchiert und wartet mit einer Fülle von überraschenden Details auf, auch wenn die Kommentarlastigkeit ärgerlich ist. Jedenfalls wird der Siegeszug des Islam in der Dokumentation von Sissy von Westphalen und Eike Schmitz auch nachvollziehbar. Aus theologischer Sicht nicht unumstritten, ist er eine der ansprechendsten Produktionen zum Thema. Die beiden anderen Teile behandeln Jesus (Regie: Jens-Peter Behrend und Ingo Hermann) und Buddha, wobei der Filme zum Buddhismus einer der besseren ist, die für den Bildungsbereich angeboten werden. Die Reihe vereinigt alle eingangs erwähnten Vor- und Nachteile des modisch-religiösen TV-Infotainments. Die Spurensuche nach der historischen Figur Jesus etwa, der Christian Brückner als Kommentarsprecher sein Tremolo verleiht, und die stets verfremdeten szenischen Nachstellungen kann man leicht als religiösen Kitsch abtun. Zusammen mit dem vom ZDF-Redakteur Hans-Christian Huf herausgegebenen Begleitbuch „Himmel, Hölle und Nirvana“ (Bergisch-Gladbach 1999) sind die Filme, wenn auch nicht bequem, einsetzbar und empfehlenswert.Die Vermittlung von Religionen so bequem wie möglich zu machen, scheint sich die Bundeszentrale für politische Bildung vorgenommen zu haben. Mit Mini-Filmen aus der Serie „Apropos - Videos und Texte zur politischen Bildung“ werden die eher dürftigen Islam-Filme des KAOS Film- und Videoteams Köln noch einmal recycelt unter Titeln wie Der Prophet Mohammed, Der Koran, Fünf Säulen des Islam, Grundlagen des Islam, Kulturgeschichte des Islam, Orient (Länge: je 10 Minuten) usw. Für Pädagogen, die sich ernsthaft mit dem Islam auseinandersetzen wollen, sei hier der Zweiteiler IslamGlaubensgrundlagen / Religion und Gesellschaft (Regie: Gudrun Friedrich - Produktion: Bayerischer Rundfunk 1990 - Länge: je 30 Minuten - Vertrieb: Katholisches Filmwerk) empfohlen. Die Produktion des Bayerischen Rundfunks besteht aus zwei Filmen, die wegen der Informationsdichte allerdings kaum zur Grundinformation geeignet sind. Die Filme führen jedoch optimal in die Unterschiede zwischen dem Islam und dem Christentum / Judentum ein und erläutern ausführlich die Unterschiede zum westlichen Gesellschaftssystem. Die Reihe legt einen Vergleich mit dem erwähnten Film „Mohammed - Die Stimme Gottes“ nahe. Während dort hervorgehoben wird, dass sich alle drei Religionen auf Abraham berufen und der Islam als ein naher Verwandter des Christentums dargestellt wird (was Mohammed immer wieder betont habe), stehen hier die Unterschiede mehr im Vordergrund. In beiden Filmen werden zudem die fünf Pflichten des Moslems (Glaubensbekenntnis zu Allah und seinem Propheten Mohammed, Ritualgebet, Fastengebot, Almosenabgabe für Bedürftige, Pilgerfahrt nach Mekka) ausführlich behandelt. Besonders interessant ist „Religion und Gesellschaft“, der fundiert Auskunft gibt über die Stellung der Frau im Islam, über die Tradition des Schleiers und die verschiedenen Formen der Scharia. Vor allem die politische Funktion des Islam wird eingängig behandelt: der Fanatismus der Fundamentalisten, das Scheitern der Revolution im Iran und die Ängste der westlichen Welt vor der Ausbreitung des Islam.Spurensuche - Die Weltreligionen auf dem WegStammesreligionen / Hinduismus / Chinesische Religion / Buddhismus / Judentum / Christentum / Islam(Regie: Hans Küng - Produktion: SWR/ DRS 1999 - Länge: je 60 Minuten - Vertrieb: Matthias-Film)Eine Sonderstellung in dem reichhaltigen Angebot nimmt die siebenteilige Reihe „Spurensuche“ ein, die vom SWR und dem Schweizerischen Fernsehen DRS produziert wurde. In ihr geht der bekannte Tübinger Theologe Hans Küng den Entwicklungen der verschiedenen Religionen nach auf der Suche nach einem „Weltethos“. Küng stellt das Friedenspotential, das in allen Religionen enthalten ist, und die sie verbindenden ethischen Grundsätze in den Vordergrund. Er unterscheidet bei den Leitfiguren der Weltreligionen zwischen den Mystikern (im Hinduismus, Buddhismus), den Weisen (im chinesischen Konfuzianismus und Taoismus) und den Propheten im Judentum, Christentum und Islam. Es überrascht nicht, dass der streitbare Katholik, dem Papst Johannes Paul II. die Lehrerlaubnis entzog, weil er von der „vollkommenen Wahrheit“ abgerückt sei, die Geltungsansprüche eines europäisch geprägten Christentums in Frage stellt. Gleichwohl sind Küngs Ausführungen bei allem Wohlwollen gegenüber den nichtchristlichen Religionen stark vom Christentum geprägt. Er brilliert mit Sachkenntnis, ohne überheblich zu wirken und seiner Argumentation ist gut zu folgen. Die einzelnen Filme setzen jedoch Vorwissen voraus. Als Diskussionsgrundlage zum einem Thema wie „Glauben und Toleranz in der postindustriellen Informationsgesellschaft“ wären sie unbedingt zu empfehlen. Diese Filme überragen inhaltlich wie formal alle anderen Angebote.Unabhängig von der Qualität der hier vorgestellten Filme bleibt die Frage offen, wie spirituelle Inhalte über Filme vermittelbar sind. Keine Frage, Filme können die abstraktesten Gedanken darstellen, aber für eine Stoff-Bewältigung sind sie wenig geeignet. Vielleicht liegt die Lösung im umgekehrten Weg: Von profanen Spielfilmen ausgehend religiöse Inhalte zu erkunden. Die beste Anleitung auf diesem Weg bietet das Handbuch „Spuren des Religiösen im Film. Meilensteine aus 100 Jahren Filmgeschichte“, herausgegeben von Peter Hasenberg, Wolfgang Luley und Charles Martig im Auftrag der Zentralstelle Medien der Deutschen Bischofskonferenz Bonn und des Katholischen Mediendienstes Zürich. Der Band erschien 1995 im Matthias Grünewald Verlag Mainz.
Beitrag aus Heft »2001/03: Wahrnehmung Ästhetik Pädagogik«
Autor: Fernand Jung
Beitrag als PDFEinzelansichtChristina Oberst-Hundt: Rechtsextremismus und rechtsradikale Gewalt im Fernsehen
Menschen werden zu Tode getreten, weil sie eine dunkle Hautfarbe haben, misshandelt, weil sie behindert oder nicht sesshaft sind, in ihren Unterkünften verbrannt, weil sie Asyl suchen, jüdische Friedhöfe geschändet, Synagogen beschädigt - aus Hass auf alles vermeintlich Fremde. Rechtradikale Straftaten haben, so der jüngste Verfassungsschutz-Bericht, deutlich zugenommen. Mehr als 11 000 waren es im vergangenen Jahr.Dass das Fernsehen über all dies informieren muss, auch wenn die öffentliche Aufmerksamkeit Täter bestätigt, Nachahmer anregt, darüber waren sich die Medienfachleute, die zu den 20. Tutzinger Medientagen zum Thema „Rechtsextremismus – Wie reagiert das Fernsehen?“ geladen waren, bald einig. Schwieriger war es, Antworten auf die Frage nach dem angemessenen medialen Umgang zu finden. Ist das, was das Medium bisher leistet, ausreichend? Was fehlt, was muss anders gemacht werden?
Sebnitz – vom „Aufmacher der Anständigen“ zum „Medien-GAU“Der Hamburger Kommunikationswissenschaftler und DJV-Vorsitzende Siegfried Weischenberg stellte die Berichterstattung über den „Fall Joseph“ in den Mittelpunkt seines Referats über „Konstruktionen der Medien zum Thema ‘Rechte Gewalt’“. Nicht die Absicht, das Sommerloch mit spektakulärer Berichterstattung zu füllen, sei der Grund für den „Medien-GAU“ Sebnitz gewesen, sondern eine deutliche Sensibilisierung gegenüber rechter Gewalt, hervorgerufen durch „eine intensive öffentliche Diskussion“, die nach dem Düsseldorfer Bombenanschlag Ende Juli eingesetzt und Zeitungen wie SZ, FR, taz veranlasst hatte, „das Thema nicht von der Tagesordnung verschwinden zu lassen“. Als dann am 23. November BILD mit der Schlagzeile „Neonazis ertränken Kind – Und eine ganze Stadt hat es totgeschwiegen“ aufmachte, hatte das Blatt, so der „Spiegel“, den „Aufmacher der Anständigen“ geliefert und seriöse Zeitungen, die ebenfalls an dem Thema dran waren, ermutigt, mit eigenen Beiträgen nachzuziehen. Sebnitz bot „für die Berichterstattung über rechte Gewalt ein verführerisch perfektes Szenario“, das sich durch die Mithilfe von Josephs Eltern, Ermittlungsbehörden und Politik „in eine scheinbar unwiderlegbare Medienkonstruktion umsetzen ließ“.
Ein Journalismus, „der es gut meint“, dabei aber berufliche Regeln missachtet und Vermutungen zu Fakten macht, führt, so Weischenberg, „direkt zum ‘GAU Sebnitz’“.Hintergrund und Opferperspektive - FehlanzeigeUnd wie sieht die vertiefende Hintergrundinformation, wie sie längere Fernseh-Features, Reportagen und Dokumentationen vermitteln, aus? WDR-Redakteur Wolfgang Kapust hat die Programme von ARD, ZDF, RTL und SAT 1 nach Sendungen zum Thema Rechtsextremismus durchforstet. Das Ergebnis: elf Beiträge in der ARD, einer im ZDF, nichts bei den Privaten! Eine Fülle von Argumenten und Bildern, wichtigen Informationen, engagierten Positionen gab es, die Konfrontationen mit Neonazis und Skinheads, die Darstellung rechtsextremer Gewalttaten, zumeist unterlegt mit dramatisierender Musik, standen allerdings im Vordergrund. Fragen nach Hintergründen und Ursachen oder Versuche historischer Aufarbeitung waren selten. Informationen über die „Neue Rechte“ und deren Medien zum Beispiel, oder über das internationale Netzwerk des Rechtsextremismus waren nicht zu finden, ebenso wenig wie Aufklärung über Antisemitismus oder Begründungen für ein NPD-Verbot. Beiträge, die sich die Opferperspektive zu eigen machten, fehlten ganz. Insgesamt zwar eine „Fülle von Aspekten und Perspektiven zum Rechtsextremismus“, so Kapusts Fazit, ein „systematisches Konzept“ sei jedoch „nicht erkennbar“ gewesen.„Appellhaftes Unruhe-Verbreiten“ statt vertiefender Hintergrundinformation, das war die Kritik, die einer ARD-Schwerpunktsendung von BR und MDR zuteil wurde. Und dann immer wieder diese Aufmärsche glatzköpfiger junger Männer in Springerstiefeln und Bomberjacken! Gibt es, angesichts dieser martialischen Bildsprache so etwas wie eine „ästhetische Komplizenschaft“? Wird Rechtsradikalismus gar zum Jugendkult hochstilisiert?
Auf das grundsätzliche Problem, dass junge Leute, die in die rechte Szene abzudriften drohen, mit noch so qualifizierten Sendungen kaum erreicht werden, weil sie öffentlich-rechtliche Programme meiden, wies NDR-Chefredakteur Volker Herres hin. Mit Spots gegen Hass und Gewalt?
Wie aber Kinder und Jugendliche, so Wirkungsforscher Jürgen Grimm, „gegen Fremdenfeindlichkeit immunisieren“, wie sie „aktiv gegen Rechts“ machen? Können das pointierte Fernsehspots, wie sie von verschiedenen Sendern bereits ausgestrahlt werden, eher bewirken als die nur von Interessierten genutzten Hintergrundsendungen? Der ORB hat unter dem Motto „Ein Land für alle – Zuhause in Brandenburg“ „Leute von unten“ - ehrenamtliche Bürgermeister, Pfarrer oder Sportler – in landschaftlich schöner Kulisse vor die Kamera gestellt. Sie sollten, so Redakteur Bösenberg, „zum Thema authentisch etwas sagen“. Ob aber eine Mobilisierung gegen Fremdenfeindlichkeit erreicht wird, wenn die Vorteile multikulturellen Zusammenlebens nur verbal thematisiert, nicht aber auch in den Bildern sinnlich manifest vermittelt werden?SAT 1 veranstaltet einen Schülerwettbewerb, dessen beste Spots ausgestrahlt werden. 120 Gruppen haben sich bereits angemeldet. Motto: „Zeigt Mut!“Der Verband „eys&ears“ hat eine Reihe unterschiedlicher Spots produziert, die allen interessierten Sendern zur Verfügung gestellt werden. Am besten kam ein humoriger Spot an: Rechtsradikale als Randgruppe, die es schwer hat! Da standen dann zum Schluss zwei dieser bemitleidenswerten Figuren mit zum Hitlergruss erstarrten Armen - als Halterung für eine Wäscheleine! Aber ausgerechnet die von Jugendlichen genutzten Musiksender Viva und MTV haben es bisher abgelehnt, solche Spots auszustrahlen oder herzustellen.
Neonazis, Skins und alte Kameraden in unserer GesellschaftAuch die fiktionalen Programme nehmen sich verstärkt des Themas an. Seit 1992/93 wird Rechtsradikalismus, so der Hamburger Medienwissenschaftler Knut Hickethier, zunehmend in deutschen Fernsehfilmen und Serien, vor allem im Krimi, thematisiert. Gängige Stereotype sind der fanatische Einzelkämpfer, die Kameradschaft, der Verräter, der aus der Gruppe auszubrechen versucht, und der machtbesessene skrupellose Anführer und ideologische Drahtzieher (Beispiel: Günther Maria Halmer in „Tödliche Wahl“, ZDF 1995).
Ausländer, Asylsuchende oder Deutsche ausländischer Herkunft kommen dagegen „selten aus der Opferrolle heraus“. Gegenspieler sind die Aufklärer, im Krimi also vor allem die vielen Kommissare und Kommissarinnen. Das Thema Rechtsradikalismus wird oft benutzt, um „exzessive Bildspektakel herzustellen, die der Reizverstärkung dienen. Der Übergang zum Actionfilm und Thriller verschwimmt“. Eine Auseinandersetzung mit der rechten Ideologie kommt dabei in der Regel zu kurz. Auf der Strecke bleiben die Nähe zur Alltagsrealität und damit auch eine auf Veränderung zielende Wirkung. Rechtsradikalismus wird so entschärft und verharmlost.„Sensationalisierung“, so Hickethier, hebe die Darstellung „in den Bereich des Unwirklichen, Phantastischen“. „Normalisierung“ mache rechtsradikale Gewalttaten zum Bestandteil des alltäglichen „Lebens in der heutigen Risikogesellschaft“ wie in der SAT 1-Serie „Auf alle Fälle Stefanie“, wo ein brutaler Skin-Überfall lediglich Aufhänger ist, um die psychische Situation einer jungen Frau, die nach der ihr zugefügten lebensgefährlichen Verletzung ihre Karriere als Tänzerin beenden muss, auszumalen. Rechtsradikalismus als hinzunehmende Alltagsrealität unserer Gesellschaft!Antifaschismus und Antirassismus als KonzeptNie wieder Faschismus! Das war die Losung, die nach 1945 Pate Stand bei der Konstituierung eines demokratischen Rundfunks. Sie findet sich in modifizierter Form in allen Landesrundfunkgesetzen.
Es wird Zeit, dass der Rundfunk sich dieses Auftrags wieder stärker besinnt. Dafür sind Konzepte erforderlich, die Rechtsextremismus und seine vielfältigen Erscheinungsformen, seine Geschichte, seine Ideologie und seine Politik in den Blick nehmen, dokumentieren, analysieren und auch in Fiktionssendungen adäquat umsetzen. Beispiele gibt es. Das von der BR-Redakteurin Hildegard Hartmann vorgestellte Magazin „Frauensache“ zeigte, dass Skin-Girls und rechte Frauen in der Szene „auf dem Vormarsch“ sind, als politische Agitatorinnen, als „Drahtzieherinnen im Hintergrund“, als „Rädelsführerinen“ und auch als „Schlägerinnen“. Ergänzt wurde das durch ein kundiges Interview mit Franziska Hundseder, die schlüssig aufzeigte, dass Rechtsextremismus nicht am unteren sozialen Rand unserer Gesellschaft angesiedelt ist, sondern aus ihrer Mitte heraus agiert.Die immer wieder spektakulär ins Bild gesetzten Skin-Aufmärsche dokumentieren nicht nur eine reduzierte Wahrheit, sie suggerieren auch, Rechtradikalismus sei vorrangig ein Problem des Ostens. Sebnitz konnte wohl auch deshalb zum Medien-GAU werden. Es fragt sich, ob so unkritisch berichtet worden wäre, wenn Sebnitz irgendwo im Westen läge.Medien sind keine Reparaturbetriebe!
Es sind nicht allein die Medien, deren Aufgabe die Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus wäre. Sie können nicht „die Reparaturbetriebe einer Gesellschaft sein“ (Weischenberg). Wenn „Äußerungen im Parlament eine dumpfe Ausländerfeindlichkeit bedienen“, wenn ausländischen Menschen die „Anerkennung als gleichberechtigte Mitbürgerinnen und Mitbürger“ versagt wird, wenn Nationalstolz-Debatten die politische Diskussion beherrschen, wenn Gerichte Prozesse hinauszögern und rechtsradikale Straftaten nicht als solche zu erkennen vermögen, wenn Finanzämter rechtsradikalen Organisationen steuerbegünstigte Förderung zuteil werden lassen, dann sind Politik, Justiz und Verwaltung gefordert. Das Medium Fernsehen kann solche Prozesse begleiten und eigene Schwerpunkte setzen. Es kann und muss über Rassismus und Fremdenfeindlichkeit aufklären und Gegenbilder entwerfen. Der WDR hat seit Januar eine „Beauftragte für multikulturelle Vielfalt im Programm“. Das Beispiel sollte Schule machen.Beitrag aus Heft »2001/03: Wahrnehmung Ästhetik Pädagogik«
Autor: Christina Oberst-Hundt
Beitrag als PDFEinzelansichtFernand Jung: CD-ROMs zum Nachschlagen und Spielen
Eine zentrale nationale Kinemathek, wie sie in anderen Ländern eine Selbstverständlichkeit ist, gibt es in Deutschland nicht (wegen der Kulturhoheit der Länder), und so kam es in den letzten Jahrzehnten immer wieder zu unkoordinierten regionalen Aktivitäten, um den Bestand der Filmkultur wenigstens in Teilaspekten aufzuarbeiten. Nach vielem Hin und Her gibt es seit einigen Jahren den Kinematheksverbund, der eine zentrale filmhistorische Arbeit ermöglicht und die filmkulturelle Tradition lebendig halten soll. Dazu gehören die Sammlung und Sicherung der deutschen Filmproduktion von den Anfängen bis zur Gegenwart, ferner die Restaurierung alter Kopien, die Veröffentlichung von Untersuchungen, die Veranstaltung von Retros u.a.m. Diese Aufgaben teilen sich nun die im Kinematheksverbund zusammengeschlossenen drei größten Filmarchive in Deutschland, das Bundesarchiv in Koblenz, das Deutsche Filminstitut in Frankfurt und das Deutsche Filmmuseum in Berlin – eine Reihe weiterer filmwissenschaftlicher Institutionen sind dem Verbund angeschlossen. Ein erstes Ergebnis dieser Gemeinschaftsarbeit ist die vorliegende CD-ROM, die sich in zwei Abschnitte teilt: Die „Top 100“ und die „Deutsche Filmografie“.1995 führte der Verbund unter Filmhistorikern und Journalisten eine Umfrage nach den „100 wichtigsten deutschen Filmen“ durch, um diese zu dokumentieren, die Kopien archivarisch zu sichern und sie für den nicht-kommerziellen Bereich verfügbar zu machen. Letzteres ist erst bedingt der Fall, aber die auf der CD-ROM versammelten Informationen zu den 100 „wichtigsten“ deutschen Filmen lassen keine Wünsche offen. Ein schier unerschöpflicher Materialfundus aus filmografischen Angaben, Inhaltsangaben und Kritiken, Abbildungen (bis zu 30 je Film) und Filmausschnitten, der dank der hier angewandten Technik leicht zu handhaben ist. Man braucht auch keine Angst zu haben, sich in den Datenmengen zu verlieren.
Die „Deutsche Filmografie“, das Ergebnis einer gesonderten Arbeitsgruppe im Kinematheksverbund, enthält die Grunddaten „aller“ Spielfilme, die zwischen 1895 und 1998 in Deutschland produziert oder mit deutscher Beteiligung koproduziert wurden. „Koproduziert“ wird dabei großzügig ausgelegt und so nimmt der Anteil von Filmen, die man keineswegs als „deutsche“ Produktionen einordnen würde, zuweilen groteske Ausmaße an. „The more the better“ scheint hier die Devise zu sein. Insgesamt sind 17 905 Titel nunmehr recherchierbar, wenn auch nur mit den notwendigsten filmografischen Angaben. Eine ähnlich aufgebaute Datei der deutschen Dokumentar- und Kurzfilme (und experimentellen Filme?) ist in Arbeit.
Für beide Verzeichnisse gilt: Die technischen Daten, die Schreibweise von Namen und Titeln, alles ist ‘astrein’ – man merkt, dass Fachleute zu Gange waren. An Details herumzumäkeln, erscheint bei der Materialfülle schon fast kleinlich oder wie Beckmesserei. Ein Desiderat bleibt doch: Dass alle Filme der Deutschen Filmografie mit derselben Ausführlichkeit dokumentiert werden wie das bei den „Top 100“ der Fall ist. Zu krass erscheinen im Moment die etwas mickrigen Grunddaten im Vergleich zu den opulenten Dokumentationen der Top 100. Jedenfalls ist die Deutsche Filmografie ein Projekt, dem man eine Zukunft wünscht, auch weil es vielfach ausbaufähig ist und von seinen Mitarbeitern offenbar ernst genommen wird.
Beitrag aus Heft »2001/03: Wahrnehmung Ästhetik Pädagogik«
Autor: Fernand Jung
Beitrag als PDFEinzelansichtReinhard Kleber: Auseinandersetzung um Entscheidungen
Jedes zweite Jahr lockt das Festival „Goldener Spatz“ Jung und Alt nach Thüringen. Neben 60 Beiträgen in sieben Wettbewerbskategorien bot das größte deutsche Kinderfilm- und -fernsehfestival in diesem Frühjahr etliche Informationsreihen, Retrospektiven und Diskussionsrunden sowie einen Filmmarkt. Es kamen rund 10.000 kleine und große Zuschauer zum Festival, das erstmals einen Web-Spatz für die beste film- und fernsehbezogene Web-Page vergab.
Zeitgemäße FSK?
Für heftige Diskussionen sorgte die Entscheidung der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK), den Kinderfilm „Die grüne Wolke“ (siehe auch die merz-Besprechung auf S. 186) erst ab zwölf Jahren freizugeben und nicht - wie vom Verleih Constantin beantragt - ab sechs Jahren. Constantin legte den geplanten Kinostart erstmal auf Eis, was voraussichtlich auf einen Verzicht hinausläuft. Das Spatzenfestival hatte den Film dagegen ab acht Jahren empfohlen. Der Münchner Autor, Regisseur und Produzent Claus Strigel hat den Roman „The Last Man Alive“ von Alexander S. Neill, dem Begründer von Summerhill, in freier Form adaptiert. Darin erzählt ein Lehrer seinen acht ungeduldigen Schülern eine phantastische Geschichte, in deren Verlauf sie selbst die letzten Überlebenden einer mysteriösen Katastrophe auf der Erde sind. Zwischen den Episoden mit den bizarren Abenteuern, die die Kinder in einer versteinerten Welt erleben, kehrt der Erzähler immer wieder zur Ausgangssituation zurück. Aus informierten Kreisen verlautete, dass sich die FSK-Prüfer vor allem an einigen Gewaltszenen und der ambitionierten Erzählweise stießen, die für kleinere Kinder das Unterscheiden zwischen Fiktion und Wirklichkeit schwer mache. Da die FSK aber nach ihren Vorschriften keine Unterschiede zwischen den Altersstufen ab sechs und ab zwölf machen darf, setzte sie die Freigabe notgedrungen auf zwölf, um jüngere Kinder vor Schädigungen zu schützen. Für Produzenten und Verleiher ein herber Rückschlag, zumal eine parallel gedrehte TV-Serie in die ARD-Programme kommen soll!
Nun mag man gegen den Film ästhetische Einwände oder qualitative Bedenken erheben - einig waren sich die Kinderfilmexperten in Gera, dass die „Grüne Wolke“ sich an Kinder zwischen acht und 13 Jahre wendet, die dem Film in der Regel auch folgen können. Es bildete sich daher eine Gruppe, die eine „Vorlage für eine Petition“ mit dem Ziel der „Revision der Altersgruppen“ verfasste (www.goldener spatz.gera.de/stiftung/presse). Darin sprechen sich die Initiatoren für eine Überarbeitung des Jugendschutzgesetzes aus. „Die Altersfreigaben, wie sie seit 1951 rechtsverbindlich sind (ab 6, ab 12, ab 16 und nicht unter 18 Jahren), entsprechen nicht mehr der heutigen Medienkompetenz von Kindern und Jugendlichen“ heißt es darin. Der selbstverständliche Umgang mit Medien verschiebe die Altersgrenzen und mache eine Neudefinition der Entwicklungsetappen in der individuellen Mediensozialisation notwendig. Was etwa noch vor 50 Jahren erst ab 12 Jahren zugemutet werden konnte, sei „heute bereits für 7-Jährige eine Unterforderung.“ Das Thesenpapier empfiehlt, die Altersfreigaben künftig so zu gestalten: ohne Altersbeschränkung, ab 8, ab 14 und nicht unter 18 Jahren. Denkbar wäre aber auch, neue Grenzen einzuschieben, um zielgruppenorientierte Bewertungen durch die FSK zu ermöglichen: ohne Altersangabe (o.A.), ab 8, ab 10, ab 12, ab 16 und nicht unter 18 Jahren.
Jury-EntscheidungenDa inzwischen immer mehr Kinder im Internet unterwegs sind, war die Etablierung einer eigenen Web-Jury nur folgerichtig. Sie zeichnete das ZDF-Angebot www.tivi.de als beste film- und fernsehbezogene Web-Seite aus. Bei der Preisverleihung zeigte sich das Fachpublikum überrascht über die Kompetenz, mit der die Netz-Juroren Inhalt, Gestaltung, Technik, Unterhaltungswert, Interaktivität und Sicherheit der preisgekrönten Seite unter die Lupe genommen hatten. Ungeachtet ihrer Preisentscheidung monierten sie in ihrer Begründung Schwachstellen wie lästige Hintergrundfarben oder schlechte Video-Auflösungen.
Hatte die Jury des jungen Publikums in den Vorjahren mit mutigen Entscheiden hin und wieder für Überraschung gesorgt, so ging der Preisregen diesmal auf die erwarteten Kandidaten nieder. Als bester langer Spielfilm wurde die Kästner-Verfilmung „Emil und die Detektive“ ausgezeichnet und als bester langer Animationsfilm „Tobias Totz“. Innovative Leistungen oder überraschende Ansätze waren allerdings im Wettbewerb nicht zu entdecken, in dem die Privatsender diesmal mit immerhin acht Beiträgen vertreten waren.Die Experten-Jury zeichnete Dagmar Hirtz für die ZDF-Märchenkomödie „Küss’ mich, Frosch“ als beste Regisseurin aus - eine plausible Entscheidung. Weniger erfreulich war dagegen die mangelnde Beachtung, die die Expertenjury sowohl bei der Preisverleihung als auch in der abschließenden Presseerklärung erfuhr. Bei allem Respekt für die Beschlüsse der Kinder-Jury, die naürlich näher am Zielpublikum ist als die erwachsenen Profis: gerade die diesjährige Bevorzugung glatter Mainstream-Produktionen und gar gefälliger Hochglanzware durch die Jury-Kinder zeigt die Notwendigkeit eines Korrektivs durch Fachleute, die in kritischer Distanz die Meßlatte der Qualität höher legen müssen.
Beitrag aus Heft »2001/03: Wahrnehmung Ästhetik Pädagogik«
Autor: Reinhard Kleber
Beitrag als PDFEinzelansichtMichael Bloech: Spannendes Erzählen hat auch seine Tücken
Neills Vorlage
Neben klassischen, politisch engagierten Dokumentarfilmen wie „Spaltprozesse“ oder „Blue Eyed“ produziert DENKmal in München auch immer wieder interessante Kinder- und Jugendfilme. Ihr aktuellstes Projekt ist dieser Kinderfilm unter der Regie von Claus Striegel, einem Mitbegründer der Produktionsfirma. Die Vorlage für den Film bildete das bereits 1938 in England unter dem Titel „The Last Man Alive“ erschienene Buch von A.S. Neill, das inzwischen zum Kinderbuchklassiker geworden ist. In Deutschland gelangte das Buch erst 1971 unter dem Titel „Die grüne Wolke“ auf den Buchmarkt.A.S. Neill, einer der Begründer der antiautoritären Erziehung, sorgte mit seinem „Summerhill Experiment“, einem Schulversuch ohne die sonst üblichen autoritären Zwänge, nicht nur in England für Furore und Aufregung in der Erziehungswissenschaft. In „The Last Man Alive“ präsentierte er einen Erzähler, der nach seiner Theorie der antiautoritären Erziehung die Geschichte gänzlich nach den Vorgaben und dem Geschmack der Kinder weiterentwickelt. Die Geschichte ordnet sich damit keinem moralisch pädagogischen Grundmuster einer wie auch immer gearteten Erwachsenenperspektive unter, sondern sie hat einfach nur den Sinn spannend und komisch zu sein. Die endliche GeschichteClaus Striegel verlegt Alexander Sutherland Neills Geschichte in die Jetzt–Zeit und beginnt raffinierter Weise mit der Schwierigkeit des Geschichtenerzählens. Manchmal ist das eben nicht ganz einfach, das merkt auch der alte, kauzige Lehrer Birnenstiel der Klasse 5a des Internats Leuchtenberg, der acht Schülerinnen und Schüler am Abend mit packenden Erzählungen fesseln möchte.
Doch die Phantasie lässt den alten Mann zunächst einfach im Stich, seine Geschichten sind wenig originell und außerdem wollen die Kinder selber im Zentrum der Handlung stehen. Und es soll einfach spannender und abenteuerlicher werden. Ein Schüler schlägt schließlich als Thema „Der letzte Mensch auf der Erde“ vor. Die Idee des Endes der Menschheit auf unserem Planeten beflügelt förmlich die Phantasie des Lehrers. Er beginnt mit einer Erzählung, die alle Kinder zunächst in ihren Bann zieht: Eine mysteriöse Wolke verwandelt alle Menschen zu Stein. Nur eine kleine Gruppe Kinder, die zusammen mit einem Multimilliardär in einem Kürbisraumschiff im All unterwegs ist, bleibt davon verschont. Im Laufe des Geschehens stellt sich allerdings heraus, dass durchaus auch noch andere, zum Teil wesentlich unfreundlichere Zeitgenossen der Versteinerung entgangen sind. Und so müssen sich die kleinen Heldinnen und Helden tapfer gegen die Unbilden der Natur, gegen eine mutierte Umwelt, das atomare Chaos und natürlich auch gegen die Schurken stellen. Birnenstiel verfängt sich in seiner Geschichte immer mehr, doch die Kinder haben stets die passenden Änderungswünsche. Als sich alles zum dramatischen Finale ins Fiasko steigert, rebelliert das junge Publikum gegen Birnenstiel.Was wie und für wen erzählen?
Der Film bewegt sich stets souverän zwischen den beiden Ebenen: da ist zunächst einmal die Realität, in der Birnenstiel, angeregt durch die Anmerkungen seiner Schüler, die Abenteuergeschichte vorantreibt, und da ist das Abtauchen in die Erzählung selbst. Diese sorgt vor allem für Action und Spannung. Der Wechsel zwischen den beiden filmischen Welten gelingt Striegel problemlos und junge Zuschauerinnen und Zuschauer haben keine Probleme, diese zwei Ebenen auseinander zu halten. Allerdings wird auch spürbar, dass das Ganze durch den Episodencharakter ein wenig an erzählerischer Eleganz, Dichte und Eloquenz einbüßt. Immer wieder werden neue Handlungsstränge entwickelt und neue Personen eingeführt, ein notwendiges Zugeständnis an das Konzept des Films. Meist ist das zwar originell, dennoch verleiht es dem Film eine Inhomogenität, wodurch der rote Faden ein wenig aus dem Blick gerät. Dieser gebremste Erzählfluss ist möglicherweise auch ein Zugeständnis an das Fernsehen, in dem der Film nach seiner Kinoauswertung als Serie zu sehen sein wird. Das bedeutet, dass dann in appetitlichen Häppchen serviert wird. Der Film versucht ebenso wie das Buch von Neill, Humor, Witz und Spannung aus den Vorlieben der Kinder herzuleiten. Gruseliges und Albernes bilden den actiongeladenen Hintergrund, was Kindern sicherlich Spaß machen wird und manchen Erwachsenen vielleicht eher nicht. Kinder begeistern sich oft für Geisterbahnen, Grusel- und Horrorgeschichten und kommen hier voll auf ihre Kosten: Killertomaten, ein gefräßiger, mutierter Baum, dreiste Nazisoldaten oder dämliche Mafia-Typen mit Kampfhunden bevölkern die Leinwand. Dabei gehen diese Gesellen nicht gerade zimperlich mit ihren Opfern - den armen unschuldigen Kindern - um. Vermutlich dürfte diese Darstellung der Gewalt die Freiwillige Selbstkontrolle bewogen haben, den Film erst ab 12 Jahren freizugeben. Vielleicht eine überdenkenswerte Entscheidung, denn die ironisch überzeichneten Gewaltszenen sind sicher erst für 8- oder 9-jährige Kinder in ihrer Dramaturgie erkennbar und die Freigabe hätte in der nächsten Stufe schon ab 6 Jahren geschehen müssen. So verfehlt der Film mit der bisherigen Altersfreigabe leider klar seine Adressaten, die 8- bis 10-Jährigen und das ist wirklich mehr als schade.
Beitrag aus Heft »2001/03: Wahrnehmung Ästhetik Pädagogik«
Autor: Michael Bloech
Beitrag als PDFEinzelansichtBarbara Eppensteiner: Österreichische Besonderheiten
Die medienpädagogische Landschaft Österreichs ist vielfältig. Für ein kleines Land, in dem die wesentlichen Akteure einander kennen könnten, ist sie aber erstaunlich wenig vernetzt. Das hat weniger mit den Bergen und Tälern zu tun, die mögliche Kontakte erschweren, als vielmehr mit einer spezifisch österreichischen Kommunikationskultur, der die Konfliktvermeidung so wichtig ist, dass sie das Gespräch oft lieber gar nicht erst sucht. Weit effizienter als die PädagogInnen arbeiten jedenfalls die zusammen, deren Tun den gesellschaftspolitischen Hintergrund für medienerzieherisches Handeln wesentlich mitbestimmt: die Medienmacher, bei denen ich ganz bewusst auf das Binnen-“I“ verzichte. Die wichtigen Akteure sind alle männlich!
(merz 2001-03, S. 188-192)
Beitrag aus Heft »2001/03: Wahrnehmung Ästhetik Pädagogik«
Autor: Barbara Eppensteiner
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kolumne
Georg Maria Roers: Wer war es, der meinen Mund zuschraubte?
Bei uns am Ort gab es kein Kaufhaus. In meiner Familie lernte ich eine Welt wahrzunehmen, die überschaubar war. Und jetzt? Wäre ich doch erst gar nicht in die Stadt gezogen, wie es im 20. Jahrhundert modern wurde. Noch bis ins 19. Jahrhundert hinein war es üblich, auf dem Land zu leben und im 21. Jahrhundert gilt plötzlich beides nicht mehr. Menschen von heute, die etwas auf sich halten, sind global vernetzt. Sie reisen durch die Welt und leben mal hier und mal dort. Wie sie leben, ist kaum auf einen Nenner zu bringen. Eine einzige mögliche Form des Familienlebens gibt es nicht mehr, denn die ideale traditionelle Familie - Eltern mit vier Kindern - hat mächtig Konkurrenz bekommen. Peter Neysters zählt in seinem Buch Heiraten - oder nicht? Chancen und Risiken einer Lebensentscheidung (München 2000) insgesamt 14 mögliche Lebensformen auf, die er in vier Gruppen zusammenfasst: die traditionelle Familie, die modernisierte Familie (Doppelverdiener-Familie, Wochenend-Familie, Familie mit Hausmann, Familie mit Tagesmutter), die neuen Eltern (alleinerziehende Mütter und Väter, homosexuelle Paare mit Kindern), die kinderlose Familie (Singles, kinderlose Ehe oder Partnerschaft, Wochenend-Beziehung, schwule und lesbische Partnerschaften), die zusammengesetzten Lebensformen (Stief- oder Fortsetzungsfamilien, freie Wohn- und Lebensgemeinschaften).Die ländliche-traditionelle Familie ist kein Ideal mehr. Der österreichische Literat Josef Winkler schreibt in seinem Roman Der Leibeigene Anfang der 90er über seine Kärntner Heimat: „Wer war es, der, als ich ein Kind war, meinen Mund zuschraubte und die blutigen Löcher mit Schraubenmuttern belegte? Wer war es, der Heiligenbilder, so groß wie Lesezeichen, auf meine Lippen klebte? An den Geruch der Hände, die von hinten kamen und mir die Augen zuhielten, kann ich mich noch erinnern. Einmal schlug mir jemand mit einer zusammengefalteten Zeitung auf den Mund. Ich suchte die Buchstaben, die von der Wucht des Schlages aus der Zeitung auf den Boden gefallen sein mussten, fand sie aber nicht.“
Dieses Stück österreichische Gegenwartsliteratur setzt mit dem Jahr 1897 ein. Seitdem hat es riesig viel Fortschritt gegeben. Aber in der Erziehung scheint das Gegenteil der Fall zu sein. Kinder werden heute mehr denn je geschlagen!Ich hatte schon als Kind viele „Fragen“. So heißt auch ein autobiographisches Gedicht aus meinem Band Gestern war es Schnee (München 2000): „Der Dreizehnjährige rechnete / jeden Tag hieb- und stichfest / mit den Schlägen des Vaters // in der Hand seine / Gürtelschnalle im Gesicht / nichts als Hass und Schweiß // im Kopf die Rippen zu brechen / zerquetschen Fragen dem Jungen / seine gequälte Lunge // damals fühlte er nur / wie jemand das Blut / aus seinem Kopf wusch.“Je weniger Kinder der Gewalt ihrer Eltern ausgesetzt sind, je weniger sie nur auf ihre eigene traditionelle Familie fixiert sind, desto mehr können sie sich entfalten. Andererseits: Je vielfältiger die Formen des familiären Zusammenlebens in unserer Gesellschaft sind, desto wichtiger wird für das Kind die Geborgenheit in der Familie. Um welche Form von Familie es sich dabei handelt ist sekundär. Wie Frauen und Männer harmonisch miteinander zusammenleben, können Eltern, Geschwister, Verwandte, Freunde, Bekannte, Lehrer und Erzieher vorleben.Unsere Wahrnehmung wird durch unsere Umgebung und durch menschliche Beziehungen geprägt und verändert. Formenvielfalt trägt solange zur Lebensfreude bei, wie wir lernen, damit umzugehen.
Die Umgestaltung unserer Lebensumstände wird um so mehr gelingen, wie sich das soziale Netz nicht in ein undefinierbares, globales Netz verliert. Ausdruck von Leben kann nur anhand konkreter Formen gelingen.Wer nur Schönes erlebt, der wird kaum lernen über seinen Tellerrand hinauszuschauen. Wer dagegen nur Hässliches erlebt, der wird äußerlich und innerlich verkümmern. Um sich in der Welt zurechtzufinden, bleibt es wichtig, Schritt für Schritt zu lernen, was zu tun und was zu lassen ist. Das gilt auch und gerade, um in einer Informationsgesellschaft zu überleben.Kinder haben einen anderen Horizont als wir Erwachsene. Deshalb sind Formen keine Stilfrage, sondern lebenswichtig. Nur bei grüner Ampel über die Straße zu gehen, ist für ein Kind wichtiger, als zu wissen, wie eine Ampelanlage überhaupt funktioniert. Darüber können Mädchen und Jungen zukünftig noch genügend nachdenken, wenn es dann überhaupt noch Ampeln geben wird!
Beitrag aus Heft »2001/03: Wahrnehmung Ästhetik Pädagogik«
Autor: Georg Maria Roers
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