2000/02: 50 Jahre JFF - 50 Jahre Medienpädagogik
thema
Hans Schiefele und Helga Theunert: Leben mit Medien
Medienentwicklung - bei diesem Wort denkt man an das Tempo, mit dem die Neuerungen sich jagen, und an die Atemlosigkeit derer, die ihnen zu folgen versuchen. Der Blick auf die Entwicklung der Bildmedien zeigt, dass das nicht immer so war. Weit über ein halbes Jahrhundert ging es recht gemächlich zu. Der Guckkasten auf dem Jahrmarkt, dann das Kino als Ort des filmischen Vergnügens, später gelegentlich der Film auch als Mittel der Unterrichtung - das alles ließ sich Zeit. Und so hatte auch der Mensch Zeit, die neue Errungenschaft Film in sein Leben einzuordnen.
Auch das Fernsehen kam nicht gerade im Galopp daher: Ein Erstes Programm, etliche Jahre später ein Zweites und die Dritten - und das war’s für ziemlich lange Zeit; glücklich die Bayern, denen die Österreicher zusätzlich was auf den Bildschirm lieferten. Das geruhsame Medienleben hatte in den 80er Jahren ein Ende: Kabel, Satellit, Video, Computer - mehr und immer mehr Medienangebote zum Vergnügen, zum Lernen - manchmal auch zum Davonlaufen. Aber: Die Weiterentwicklung der Medientechnik eröffnete auch andere Möglichkeiten, v.a. die, mit den Medien selbst etwas anzustellen.Leben mit Medien - in den letzten zwei Jahrzehnten blieb den Menschen wenig Zeit, sich mit den neuen Technologien vertraut zu machen, darüber nachzudenken, welchen Platz sie in ihrem Leben innehaben sollten. Die Medien haben Besitz ergriffen von Lebenszeiten und von Lebenswelten.
Leben mit Medien - das bedeutet heute etwas sehr anderes als zu Beginn des Jahrhunderts und auch etwas sehr anderes als vor 50 Jahren, als das JFF antrat, um das Leben mit Medien pädagogisch zu begleiten, um - was damals natürlich noch nicht so hieß - Medienpädagogik zu betreiben.
(merz 2000-02, S. 75-85)
Beitrag aus Heft »2000/02: 50 Jahre JFF - 50 Jahre Medienpädagogik«
Autor: Hans Schiefele, Helga Theunert
Beitrag als PDFEinzelansichtDiskussionsrunde: Ethik und Kompetenz - Perspektiven der Mediengesellschaft
Eine Diskussionsrunde zum Thema.
Aufgestellte Thesen und Fragen von Bernd Schorb. Stellungnahme von Ludwig Bauer ("Medienpädagogik hat die Aufgabe selbstverständlich zu werden"), Gerhard Engel ("Die Leistungen für die Medienpädagogik sind mangelhaft"), Walter Flemmer ("Medienpädagogik muss sich einmischen in die Diskussion um das Wünschenswerte"), Wolf-Dieter Ring ("Medienpädagogik muss in der Ausbildung verankert werden"), Fred Schell ("Medienpädagogik ist kein Reparaturbetrieb für Fehlentwicklungen"), Fritz Schösser ("Medienpädagogik heißt auch Erziehung zur Eigenverantwortung"), Brigitte Tutte ("Medienpädagogik wird zu oft nur verbal unterstützt") und Gerhard Tulodziecki ("Die Dominanz der Ausstattungsfragen ist eher schädlich").
(merz 2000-02, S. 86-98).
medienreport
Margret Köhler: Die 50. Berlinale im Jahr 2000
Fassbinder-Adaption
Aller Skepsis zum Trotz ging die Jubiläums-Berlinale in Berlins neuer Mitte am Potsdamer Platz relativ reibungslos über die Bühne. Es gab kaum logistische Probleme, das Festival bestand die Bewährungsprobe. Die mehr als 400.000 Besucher sollten als positives Zeichen gewertet werden. Altbewährt waren die meisten Namen im abgespeckten Wettbewerb - Zhang Yimou, Oliver Stone, Milos Forman, Norman Jewison, Stanley Kwan oder Anthony Minghella. Auf deutscher Seite komplettierten Volker Schlöndorff, Rudolf Thome und Wim Wenders die Altherrenriege. Etwas mehr Mut und ein Bekenntnis zum Nachwuchs, auch weiblichen und heimischen, hätte nicht geschadet. Nicht von ungefähr sorgten zwei Beiträge von Youngsters für Aufsehen: Der 33-jährige François Ozon präsentierte mit „Gouttes d´eau sur pierres brulantes“ eine provozierende Fassbinder-Adaption. Ozon, der schon in „Sitcom“ (1997) genüsslich die Institution Familie zerpflückte, hat ein Faible für Menschen in Grenzsituationen.
Und einen Hang zu Rainer Werner Fassbinder, dessen „gnadenlose Härte und Gewalt in menschlichen Beziehungen“ ihn fasziniert. Im Deutschland der 70er Jahre, irgendwo zwischen spießbürgerlichem Mief und Aufbruch lernt ein 50-jähriger Geschäftsmann (Bernard Giraudeau) einen 19-Jährigen (Malik Zidi) kennen und lieben. Während der junge Intellektuelle als Hausmann seine Identität verliert, verdient der Ältere den Lebensunterhalt, lässt den Partner die Abhängigkeit spüren. Das Zusammenleben wird zur Hölle, Routine erstickt die Gefühle, es geht nur noch um die Zerstörung des anderen.
Fassbinder schrieb dieses Stück im Alter von 19 Jahren, bei dem sich jetzt der 33-jährige Ozon auf die Psychologie der Figuren konzentrierte und den Machtkampf als düsteres Kammerspiel inszenierte. Spielerisch durchbricht er immer wieder die Struktur, präsentiert absurdes Theater mit Anspielungen auf Comics. So zeigt er das Täter/Opfer-Verhältnis mit aller Brutalität, wechselt dann urplötzlich in schräge Tanzeinlagen, lässt am Ende Trauer und Einsamkeit spüren. Zwar übertreibt der Pariser etwas die Germanisierung mit ständigem „Prost“ und zweimaligem Zitieren von Heines „Loreley“, aber man sollte sich über jeden Film freuen, der irritiert und provoziert.
Suche nach Liebe und Vergebung
Auch wenn militante Anhänger des europäischen Kinos Krokodilstränen weinen: Der Amerikaner Paul Thomas Anderson hat mit seinem dreistündigen Epos „Magnolia“ über die intensive Suche nach Wahrheit und Liebe den „Goldenen Bären“ verdient.
Zu dem fulminanten Werk gab es keine Alternative. Nach einem furiosen Epilog startet der 29-Jährige ein filmisches Feuerwerk über den Zynismus im Medienzeitalter und die Macht des Zufalls. Zu Beginn glaubt man sich in einem Irrenhaus, erst langsam regelt sich das Chaos, man befindet sich plötzlich mitten auf dem Magnolia-Boulevard, der das San Vernando Valley durchquert. Einen Tag und eine Nacht lang kreuzen sich hier die Wege von neun Menschen am Wendepunkt ihres Lebens, ihre Schicksale verbinden sich virtuos. Da liegt der krebskranke Fernsehmogul Big Earl Partridge (Jason Robards) im Sterben, seine viel jüngere Frau (Julianne Moore) jagt nach Psychopharmaka durch die Stadt und erkennt zu spät, dass sie den Mann, den sie nur wegen des Geldes geheiratet hat, doch liebt. Krankenpfleger Phil (Philip Seymour Hoffman) versucht derweil Partridges verlorenen Sohn Frank T.J. Mackey (Tom Cruise) aufzuspüren, der als Sex-Guru in TV-Seminaren tumbe Männer zu Mini-Casanovas umpolt. In einem weiteren Handlungsstrang erzählt Anderson von Game Show-Moderator und Saubermann Jimmy Gator (Philip Baker Hall), der an einer unheilbaren Krankheit leidet und die Aussöhnung mit seiner Tochter Claudia (Melora Walters) sucht, die - von ihm missbraucht - den Drogen verfallen ist und sich in einen kreuzbraven Polizisten (John C. Reilly) verliebt.
Und da sind noch zwei „Wunderkinder“: Der kleine Stanley (Jeremy Blackman), von seinem ehrgeizigen Vater auf Erfolg in Gators Game Show getrimmt und Donnie Smith (William H. Macy), einst als „Quiz Kid“ gefeiert und jetzt gefeuert und nun dem verblassten Ruhm nachhängt...In 189 aufregend kurzen Minuten entwirft Anderson eine bizarre und bewegende Cronik des Lebens, bei der die kleinen und großen Dramen zu einer grotesken Comédie Humaine verschmelzen. Seine Helden sind verzweifelt, verletzen und sind verletzbar, verdrängen Schmerz und Schuld, bis sich nach einem Naturphänomen biblischen Ausmaßes die verlorenen Seelen reinigen, verborgene Emotionen hervorbrechen, neue Hoffnung keimt. Auf der quälenden Suche nach Liebe und Vergebung (das zentrale Thema) ziehen die Menschen Bilanz, gestehen Fehler ein, zeigen Reue. Wie Altmans „Short Cuts“ bewegt sich dieses Meisterwerk zwischen tiefer Tragik und leichter Komik, zwischen Wahnsinn und Wahrheit. (Siehe dazu auch das Interview mit P.A. Anderson)
Preise: Für und wider
Das Wettbewerbsprogramm war solide, auch wenn man sich fragte, wie sich der russishe Kostümschinken „Russkij Bunt“, die betuliche jugoslawische Bombardementerinnerung „Nebeska Udica“ oder das unsägliche spanische Gewaltdrama „El Mar“ in den Wettbewerb verirren konnten. Wenn die Anti-Kriegs-Satire „Three Kings“ am zweiten Tag des Festivals mit dem Kinostart zusammenfällt, fehlt das richtige Timing. An die Berlinale als Startrampe für Hollywood-Produktionen hat man sich gewöhnt, in dem Fall lag die Schamfrist jedoch eindeutig zu kurz - trotz Stars wie George Clooney, Mark Wahlberg oder Ice Cube. Der Preisregen war flächendeckend. Der „Silberne Bär“ für die „Beste Regie“ an Milos Formans „Man on the Moon“ über den Stand-Up Comedian Andy Kaufman war wohl auch ein Geschenk zu Formans 68. Geburtstag. Das Biopic kratzt an Tabus wie auch schon „Larry Flynt - Die nackte Wahrheit“ (1996). Andy Kaufman, bei dessen Tod 1985 selbst die engsten Freunde an einen PR-Gag glaubten, schlüpfte nicht nur auf der Bühne in verschiedene Rollen, er war jeweils die dargestellte Person mit Haut und Haar. Sein größtes Geheimnis: Es gab ihn eigentlich nicht als Person, sondern nur als Maske. Jim Carrey mimt dieses Chamäleon mit allen Facetten.
Auf unterschiedliche Resonanz stieß der „Silberne Bär“ für Wim Wenders grandios fotografierten Ausflug in die Welt der Verrückten und Verlorenen Downtown L.A. „The Million Dollar Hotel“. Pikant war die Vergabe eines „Silbernen Bären“ an Zhang Yimou für die bewegende Liebesgeschichte „The Road Home“, schließlich war Jurypräsidentin Gong Li langjährige Lebensgefährtin des Regisseurs. Der deutsche Film, mit drei Wettbewerbsbeiträgen vertreten, fand eine zwiespältig einzuschätzende internationale Anerkennung. Der „Silberne Bär“ für eine herausragende Leistung an das Schauspielerensemble von Rudolf Thomes „Paradiso - Sieben Tage mit sieben Frauen“ löste Kopfschütteln aus, hielten doch nicht nur Feministinnen dieses pseudo-ironische Werk über einen von Weibern umschwärmten 60-Jährigen für das Produkt feuchter Männerträume. Auch der „Silberne Bär“ für die „Beste Darstellerin“ ex aequo an Bibiana Beglau und Nadja Uhl in „Die Stille nach dem Schuss“ sollte man als galante Geste gegenüber dem Gastgeberland verstehen. Mehr als über den Film wurde über den Protest der Ex-Terroristin Inge Viett und die Klage der Edition Nautilus wegen Verletzung von Urheberrechten gegen Volker Schlöndorff diskutiert. Vorwürfe, die der genervte Regisseur, wiederholt strikt zurückwies.
Der mit Spannung erwartete Wettbewerbsbeitrag handelt von RAF-Terroristen, die in der DDR mit Billigung der dortigen Regierung untertauchten und ein Leben mit neuer Identität führten, dann durch die Wende enttarnt wurden. Die Utopien der jungen Leute, die die Welt mit Gewalt verändern wollten, bleiben nebulös. Im DDR-Mief ersticken die Wünsche, die Hauptfigur Rita Vogt (Bibiane Beglau) lässt trotz eines verpfuschten Lebens kaum Trauer erkennen, passt sich schnell den Umständen an. Dem solide inszenierten Film mangelt es an einer Vision. Diese deutsche Geschichte nach einem Drehbuh von Wolfgang Kohlhase ist typisch deutsch im negativen Sinne - bieder und brav. Was hätte man aus diesem brisanten Stoff machen können.
Heimspiele im „Panorama“
Neben dem künstlerisch nicht immer überzeugenden Wettbewerb zog das „Panorama“ mit 39 Spiel-, 13 Dokumentar- und 22 Kurzfilmen wiederum die Zuschauer an. Es war ein ausuferndes Programm, in dem aber die starken Dokumentarfilme beeindruckten. Zehn deutsche Beiträge suchte Wieland Speck in diesem Jahr aus, darunter Werner Schroeters Essay „Die Königin“ über die 90-jährige Grande Dame der deutschen Schauspielkunst Marianne Hoppe, von Panorama-Stammgast Lothar Lambert „Verdammt in alle Ewigkeit“ oder das respektable Regie-Debut von Pierre Sanoussi-Bliss „Zurück auf Los“ über ein Leben mit Aids.
Zwei deutsche Filme füllten den altehrwürdigen Zoo-Palast bis auf den letzten Platz. Als absolutes Highlight darf „Heimspiel“ gelten. Oscarpreisträger Pepe Danquart („Schwarzfahrer“) gelang ein formal und inhaltlich bestechendes Porträt des Eishockey-Clubs „EHC Eisbären“. Danquart zeichnet anhand des früheren ostdeutschen Clubs „Dynamo“ deutsch-deutsche Absurditäten nach. Der Wellblechpalast in der Berliner Plattenbaugegend Hohenschönhausen wirkt wie eine krude Mischung aus Tollhaus und Kultstätte. Die Fans („Ich bin gerne Ossi und stehe auch dazu“) glauben endlich wieder Zusammenhalt zu finden und Gemeinschaftsgefühl. Und manchmal kommt richtige Kalte-Kriegs-Stimmung auf, wenn es heißt „Wir sind stolz auf den Osten, weil er den Westen schlägt“. Danquart verbindet Fan-Aussagen und Histörchen mit dem Spielgeschehen, blickt hinter die Kulissen: Da zieht ein waschechter Bayer die Fäden als Manager, ein Wessi-Sponsor sorgt für Gelder, auf dem Eis tummeln sich Kanadier und Amerikaner, eine direkte Beziehung zwischen Fans und ihren Stars fehlt. Das tut aber der Begeisterung für den „Stasi-Club“ keinen Abbruch. Diese deutsch-deutsche Wirklichkeit beweist, dass die Mauer in den Köpfen noch nicht verschwunden ist. Ganz nebenbei erzählt der Film, der durch seine Realitätsnähe, durch die suggestive Kamera und die Musik überzeugt, auch noch ein Stück DDR-Geschichte.
Die Fans entrollten vor Begeisterung Transparente mit der Aufshrift „Danke, Pepe“. Weniger enthusiastisch dagegen die Reaktion auf „Fandango“. Matthias Glasner folgt dem Trend zu artifiziellen Welten. Seine drei Protagonisten tummeln sich in der Club-Szene, koksen, dealen und geben coole Sprüche von sich („Frauen müssen ab ‘nem bestimmten Alter Kinder kriegen, sonst drehen sie durch“). Nicole Krebitz als Möchtegern-Model, das es nur bis zum Cover von PopRocky schafft und sich vom Disco-Besitzer (Richy Müller) aushalten lässt, der als Dealer auf die Nase fällt, und Moritz Bleibtreu als Kult-DJ, der mit einer Sonnenbrille den Blinden mimt und sich aus der Realität ausklinken will, sind ein obskures Gespann, das sich hauptsächlich damit beschäftigt, Koffer mit Koks oder Kohle in der Gegend herumzukutschieren und tiefschürfende Platitüden von sich zu geben. Wenn dann noch Corinna Harfouch als glatzköpfige lesbische Rächerin auftritt, wähnt man sich in einem Gruselkabinett. Glasner setzt auf den Trend zur glatten Oberflächlichkeit. Sein auf Zelluloid gebanntes Lifestyle-Magazin beeindruckt zwar durch psychodelische Bilderwucht, aber die kann die inhaltliche Leere nicht verdecken.
Die Beständigkeit des Verbrechens
Nicht nur in Polen, sondern auch auf der Berlinale sorgte Krzysztof Krauzes ungeschminkter Blick auf die Auswüchse des Kapitalismus, „Dlug“ (Die Schuld), für Aufsehen. Zwei junge Akademiker geraten aus Mangel an seriösen Kreditgebern in die Fänge von mafiosen Geldeintreibern, werden erpresst und sehen keinen anderen Ausweg mehr als Mord. Krauze prangert die Verbindungen zwischen Polizei und Unterwelt an, die indifferente Haltung der Justiz, zeigt die Enttäuschung der Bürger am Staat. Der spannend inszenierte Spielfilm, der sich an Fakten orientiert, soll auch ein Spiegelbild gegenwärtiger Verhältnisse sein.
Rob Epstein und Jeffrey Friedman greifen in „Paragraph 175“ die Geschichte dieses diskriminierenden Paragraphen und die des „Rosa Winkels“ auf, der in den Konzentrationslagern der Nazis homosexuelle Gefangene kenntlich machte. Historiker Klaus Müller vom Holocaust Museum in Washington entwickelte die Idee zu diesem Film, stellte Kontakte zu Überlebenden her und führte die Interviews mit großer Sensibilität. Fünf der 100.000 Verfolgten sprechen vor der Kamera über das, was ihnen angetan wurde, ihre Aussagen kontrastieren die Filmemacher mit historischem Foto- und Filmmaterial, wobei der Einsatz des Propagandamaterials zu einer Gratwanderung wird. Viele der Opfer schwiegen jahrzehntelang aus Scham oder landeten nach dem Krieg sogar noch im Gefängnis. Keiner erhielt eine Entschädigung. Deutsche Förderinstitutionen, die scheinbar unbesehen jede noch so platte Komödie fördern, verweigerten diesem Film die notwendige finanzielle Unterstützung.„Mr. Death“ wirkt so, wie man sich einen ganz durchschnittlichen Mann vorstellt - langweilig und bürgerlich. Dabei verkörpert er die Banalität des Bösen. Fred A. Leuchter fasst schon in jungen Jahren den Entschluss, so etwas wie die „Florence Nightingale der Todeszellen“ zu werden. Er begann elektrische Stühle, giftige Injektionsvorrichtungen, Gaskammern und Galgen zu konstruieren und zu reparieren, wurde zu einem gefragten Fachmann des Todes. Mit seinen „Leuchter-Reports“ - er untersuchte in Auschwitz Ziegelsteine nach Gasspuren - lieferte er David Irving die Vorlage zur Verneinung des Holocausts. Errol Morris zeichnet das Porträt dieses Mannes, der sich als anständigen Menschen definiert. Für Morris, der seinen brisanten Film „eine Liebesgeschichte mit dem Tod“ nennt, ist Leuchter ein „Zufallsnazi“, dessen Gefährlichkeit unterschätzt werden darf. Stabangaben der ausführlicher vorgestellten Filme
Dlug
Regie und Buch: Krzysztof Krauze - Kamera: Bartek Prokopowicz - Musik: Michal Urbaniak - Darsteller: Robert Gonera, Joanna Szurmiej, Andrzej Chyra, Premyslaw Maliszewski - Produktion: Sudio Filmowe „Zebra“ (Polen) 1999 - Länge: 102 Minuten
Fandango
Regie und Buch: Matthias Glasner - Kamera: Sonja Rom - Musik: Fetisch/Meister - Darsteller: Nicolette Krebitz, Moritz Bleibtreu, Richy Müller, Corinna Harfouch - Produktion: Calypso Filmproduktion (Deutschland) 1999 - Länge: 103 Minuten - Verleih: Buena Vista
Gouttes d’eau sur pierres brulantes
Regie und Buch: François Ozon - Kamera: Jeanne Lapoirie - Darsteller: Bernard Giraudeau, Malik Zidi, Ludivine Sagnier, Anna Thomson - Produktion: Fidélité Productions (Frankreich/Japan) 1999 - Länge: 90 Minuten
Heimspiel
Regie und Buch: Pepe Danquart - Kamera: Michael Hammon - Musik: Steigeisen - Produktion: Quintefilm (Deutschland) 1999 - Länge: 95 Minuten
Magnolia
Regie und Buch: Paul Thomas Anderson - Kamera: Robert Elswit - Musik: Jon Brion - Darsteller: Jeremy Blackman, Tom Cruise, Melinda Dillon, April Grace, Luis Guzman - Produktion: Ghoulardi Film Company (USA) 1999 - Länge: 189 Minuten - Verleih: Kinowelt
Man on the Moon
Regie: Milos Forman - Buch: Scott Alexander, Larry Karaszewski - Kamera: Anastas Michos - Musik: Michael Stipe, Mike Mills, Peter Buck (R.E.M.) - Darsteller: Kim Carrey, Danny DeVito, Courtney Love, Paul Giamatti - Produktion: Jersey Films/Cinehaus (USA) 1999 - Länge: 102 Minuten - Verleih: Concorde
Mr. Death
Regie: Errol Morris - Kamera: Peter Donahue, Robert Richardson - Musik: Caleb Sampson - Produktion: Fourth Floor Productions (USA) 1999 - Länge: 91 MinutenParagraph 175Regie: Rob Epstein, Jeffrey Friedman - Buch: Sharon Wood - Kamera: Bernd Meiners - Musik: Tibor Szemsö - Produktion: Telling Pictures (USA) 1999 - Länge: 81 Minuten
Die Stille nach dem Schuss
Regie: Volker Schlöndorff - Buch: Wolfgang Kohlhase - Kamera: Andreas Höfer - Darsteller: Bibiana Beglau, Martin Wuttke, Nadja Uhl, Harald Schrott - Produktion: Babelsberg Film (Deutschland) 1999 - Länge: 104 Minuten
Literatur:
Zum Jubiläum der Berlinale wurde von Wolfgang Jacobsen ein Geleitbuch durch die vergangenen Jahrzehnte herausgegeben: „50 Jahre Berlinale. Internationale Filmfestspiele Berlin 1951 - 2000“. Darin werden die filmischen und auch politischen Ereignisse - der Kalte Krieg, die 60er und 70er Jahre - mit vielen Erinnerungen von Regisseuren, Schauspielern und Politikern geschildert. Der Band ist im Nicolai Verlag, Berlin erschienen (564 S. mit 573 Abb., DM 88,-).
Beitrag aus Heft »2000/02: 50 Jahre JFF - 50 Jahre Medienpädagogik«
Autor: Margret Köhler
Beitrag als PDFEinzelansichtReinhard Kleber: Überall Gewalt und Zynismus
Propaganda und Dokumentation
„Nato Killers“ steht in Großbuchstaben auf einer Mauer in Belgrad. Die bittere Anklage ist symptomatisch für die Geisteshaltung vieler befragter Jugoslawen in dem österreichischen Dokumentarfilm „The Punishment“ des Filmemachers Goran Rebic, der aus der Vojvodina stammt und in Wien lebt. In Interviews und impressionistischen Stadtbildern schildert er Stimmungslage und Lebensbedingungen der Bewohner Belgrads von der Zeit gleich nach dem Nato-Bombardement bis zur Milleniumsfeier am 31. Dezember 1999. Der Film lief auf der diesjährigen Berlinale im Forum-Programm, ist aber nicht der einzige Film, der sich gleichsam aus serbischer Perspektive mit dem Luftkrieg gegen Jugoslawien auseinandersetzt. Im Wettbewerb wurde der jugoslawisch-italienische Spielfilm „Nebeska Udica“ (Sky Hook) von Ljubisa Samardzic gezeigt, der die unmittelbaren physischen und psychischen Folgen des Bombenkrieges auf die Zivilbevölkerung in Belgrad zeigt.
In seinem Regiedebüt beschreibt der 1936 geborene Samardzic, der in seiner Heimat ein Schauspielstar ist und etwa auch in Rebics erstem Spielfilm „Jugofilm“ zu sehen war, wie einige Einwohner Belgrads im Mai 1999 versuchen, mit den nächtlichen Luftangriffen fertig zu werden. Manche flüchten sich in Alkohol oder Drogen, andere tun so, als gäbe es keine Bomben, wieder andere leiden unter Angstzuständen. Ein traumatisierter kleiner Junge hat die Sprache verloren, seine Mutter möchte mit ihm nach Italien ausreisen. Um wenigstens ein bißchen Normalität aufkommen zu lassen, schlägt ein ehemaliger Baseballspieler seinen Kumpels vor, ein zerbombtes Sportfeld wieder aufzubauen.
Beiden Filmen ist gemeinsam, dass sich die meisten Belgrader Bürger als ohnmächtige Opfer unerbittlicher westlicher Aggressoren darstellen. Die Tatsache, dass das Milosevic-Regime in zehn Jahren vier Kriege angezettelt und verloren hat, wird allenfalls gestreift. Samardzic erwähnt denn auch die Gründe für das militärische Einschreiten des Westens nie. Stattdessen verzichtet ein neureicher Schieber großzügig darauf, die Prämie einer Wette einzufordern, die er dem Nato-Bombardement verdankt: „Ich wollte nicht mit Hilfe der Mörderbande da oben gewinnen!“ Auf der anderen Seite zeigt „Nebeska Udica“, der in Berlin von vielen westlichen Kritikern als Propagandafilm geschmäht wurde, die Kriegsmüdigkeit der Bevölkerung.Sehr viel differenzierter kann der in Österreich lebende Rebic argumentieren. In seiner Dokumentation kommen vor allem Oppositionelle zu Wort, Dramatiker, Wissenschaftler, Menschenrechtler und Kriegsteilnehmer. Auch sie klagen über die Ungerechtigkeit der Nato-Angriffe und fühlen sich vom Westen kollektiv bestraft, ja, zurückgeworfen ins wirtschaftliche Chaos und in politische Lethargie. „Einen Film über das andere Serbien“ wollte Rebic drehen, „fern der Einheitsberichterstattung, die gern von Individuen absieht, um den Blick auf Massen, Massaker und Blut zu richten.“ Es sei ihm gerade darum gegangen, jene Leute zu Wort kommen zu lassen, die sonst keinen Platz in den TV-Berichten haben - Serben, die gegen das Milosevic-Regime sind, aber die die Strategie der Nato nicht akzeptieren. Rabic gelingen eindrucksvolle Szenen in einer Schule, in der Schülerinnen und Schüler über ihre Eindrücke und Erlebnisse berichten. Abgesehen von der verbreiteten Festungsmentalität tritt jedoch hier und in anderen Statements eine Flucht vor der Verantwortung für die Verbrechen zu Tage, die im serbischen Namen etwa im Kosovo begangen wurden.
Informationen nur für Festivalgäste
Einen Einblick in das jugoslawische Filmschaffen jenseits der Tagesaktualität vermittelte einige Wochen vor der Berlinale das Filmfestival „Max Ophüls-Preis“ in Saarbrücken mit seiner Reihe „Blick über die Grenzen“. Die acht ausgewählten Spielfilme, zwischen 1993 und 1999 entstanden, sollten seltene „Einblicke in die filmische Aufarbeitung der folgenschweren Ereignisse auf dem Balkan und die Befindlichkeit der Kulturschaffenden eines zerschlagenen Landes“ geben (Festivalleiterin Christel Drawer).
Die Saarbrücker Bestandsaufnahme ist allein schon deshalb wichtig, weil kaum einmal eine Produktion aus Ex-Jugoslawien einen deutschen Verleih findet. Ausnahmen wie zuletzt die slowenische Groteske „Express, Express“ oder die Filme von Emir Kusturica bilden nur die berühmten Ausnahmen von der Regel. Dabei stellte die marode serbische Filmindustrie auch in den vergangenen Jahren fünf bis acht Filme pro Jahr her. Vor allem eine Gemeinsamkeit sprang bei der Auswahl des Ophüls-Festivals gleich ins Auge: Fast überall Morde, Schießereien, Kämpfe und andere Gewalttaten. Das Phänomen Krieg ist allgegenwärtig, und sei es in Reminiszenzen an die antifaschistische Tradition des kommunistischen Partisanenfilms. Symptomatisch für die latente bis offene Brutalität in der serbischen Gesellschaft ist eine Schlüsselszene in „Wheels“ von Djordje Milosavljevic, einer Kombination aus kafkaesker Parabel und US-Krimis der Schwarzen Serie. Als der Student Nemanja in einem Motel mit einem Serienkiller verwechselt und von einem lynchgierigen Mob zum Tode verurteilt wird, dreht er den Spieß um und läßt die Motelgäste ihre Taschen leeren. Das frappierende Resultat: Jeder Bürger, auch der harmlos aussehende, trägt mindestens eine Schusswaffe.
Ein weiteres Charakteristikum prägt den jugoslawischen Nachwuchsfilm, die frappierende Kombination von bitterem Sarkasmus und unbeugsamem Überlebenswillen. Wie die beiden Seiten einer Medaille kommen sie immer zusammen vor. So etwa in dem ästhetisch ausgereiftesten Beitrag: „Das Pulverfaß“ von Goran Paskaljevic. Die absurde Untergangsballade über verzweifelte Menschen auf den wilden Straßen Belgrads, auf etlichen internationalen Festivals gewürdigt, wartet immer noch auf einen deutschen Verleiher.
Kulturpolitische Ventilfunktion?
Beschränkt sich die Sektion sonst auf den Nachwuchs, so machte man dieses Mal mit den jüngsten Arbeiten der ‘Altmeister’ Paskaljevic (Jahrgang 1947) und Zelimir Zilnik (Jahrgang 1942) zwei Ausnahmen. Zilniks „Wanderlust“ erzählt vordergründig die Odyssee eines Arbeiters, der aus Italien nach Istrien heimkehrt und auf der Suche nach der Frau für’s Leben durch mehrere Balkanländer irrt. Der einstige Dissident Zilnik, der in den neunziger Jahren Antikriegsdokumentationen für den unabhängigen Belgrader Radio- und TV-Sender B 92 drehte, bleibt seiner Linie treu. Im Schelmengewand kritisiert er nicht nur die Korruption und die Jagd nach der schnellen Mark, sondern lässt auch einen Serben auftreten, der lieber Italienisch als seine Muttersprache spricht: Er schämt sich für die Schlächterei in Serbien.Mirjana Vukomanovic skizziert in ihrem Debütfilm „Tri letnja dana“ (Three Summerdays) die skrupellose Ausbeutung von Kriegsflüchtlingen und anderen Deklassierten durch eine krakenhafte Unterwelt-Herrin so treffend, dass sich die Anspielung auf die Ehefrau des Slobodan Milosevic kaum übersehen läßt.
Mit desillusionierender Härte zeigt die 1967 geborene Regisseurin, übrigens die einzige Frau unter den ausgewählten Filmemachern, welche gravierenden politischen und wirtschaftlichen Folgen der Bosnienkrieg für das serbische Volk hat.Während das Milosevic-Regime in politischen Kernfragen mit Gegnern sehr rigide verfährt und in jüngster Zeit gerade gegen unabhängige oder oppositionelle Medien aggressiv vorgeht, gewähren die Zensoren dem fiktionalen Film anscheinend eine gewisse Freiheit
.Dass das jugoslawische Kino eine kulturpolitische Ventilfunktion erfüllt, darauf lassen gerade die Publikumserfolge einiger Filme schließen. So avancierte das „Pulverfaß“ trotz heftiger Attacken der staatlich gelenkten Belgrader Presse und eines regimekritischen Interviews des Regisseurs in einer italienischen Zeitung zum erfolgreichsten jugoslawischen Film der vergangenen Jahre. Und 1996 überflügelten die blutige Soldatentragödie „Pretty Village, Pretty Flames“ von Srdan Dragojevic und das defätistische Melodram „Premeditated Murder“ von Gorcin Stojanovic an den jugoslawischen Kinokassen sogar die US-Blockbuster „Mission Impossible“ und „Independence Day“. „Wir leben seit zehn Jahren in einer Kriegspsychose“, konstatierte im März 2000 Momcilo Perisic, ehemaliger Generalstabschef und jetzt der Anführer der oppositionellen Bewegung für ein demokratisches Serbien.
Dass angesichts der anhaltenden und tiefgreifenden innenpolitischen und ökonomischen Krise vielen Serben nicht nach Lachen zumute ist, lässt sich denken. Dennoch hat sich der erfahrene Schauspieler und Drehbuchautor Lazar Ristovski (Jahrgang 1952) mit „The White Suit“ an eine Burleske gewagt. In seinem Regiedebüt erzählt er von dem verträumten und ledigen Unteroffizier Savo, der von seinem Bruder Vuko die traurige Nachricht erhält, die Mutter sei gestorben. Zum Begräbnis solle er bitte den weißen Anzug mitbringen. Savo begibt sich auf die lange Heimreise und verliebt sich unterwegs in die Striptease-Tänzerin Carmen, die jedoch ebenso wie ihr Zuhälter erschossen wird. Zu Hause stellt Savo fest, dass die Mutter noch lebt und Vuko sich alles nur ausgedacht hat, um an den weißen Anzug heranzukommen. Mit dem will er nämlich in den Westen abhauen. Ristovskis geradezu surrealistische Tragikomödie schlägt mit ihrer drastischen Metaphorik und überbordenden Phantasie gleichsam die Brücke zu den Filmen eines Emir Kusturica, der seit langem im Westen lebt. Insofern wundert es nicht, dass „The White Suit“ von Jugoslawien für den fremdsprachigen Oscar eingereicht wurde.
Markus Achatz: Das Kinderfilmfest der Berlinale
Die 50. Internationalen Filmfestspiele standen anlässlich des Jubiläums und des Umzugs zum neuen Austragungsort am Potsdamer Platz ganz im Zeichen eines Neuanfangs. Auch das Kinderfilmfest schwamm mit der Wahl des Zoo-Palasts als Erstaufführungskino für die Kinderfilme auf einer leichten Welle der Erneuerung. Dies erwies sich als gute Entscheidung und das Kinderfilmfest gelangte zu einer längst verdienten, erhöhten öffentlichen Aufmerksamkeit. Die chinesische Präsidentin der Wettbewerbs-Jury Gong Li eröffnete neben Berlinale-Chef Moritz de Hadeln das Kinderfilmfest und Bundestagspräsident Thierse lud zur Gala des Kinderhilfswerks ins Reichstagsgebäude.
Die zwölf abend-, besser „nachmittagfüllenden“ Spielfilme, sechs Kurzfilme und fünf Animationsfilme des Kinderfilmfests bestachen wieder durch eine einzigartige Vorführ-Atmosphäre. Die Erstaufführungen wurden vom zahlreich erschienenen Kinder-Publikum gerne angenommen.Im stimmungsvollen Premierenkino lieferte bereits der Eröffnungsfilm „Tzatziki, Mama und der Polizist“ nicht nur beste Unterhaltung für Kinder und Erwachsene, sondern bot gleich von Anfang an hohes cineastisches Niveau.
Die Preischancen des Films standen von der ersten Minute an im Raum, denn der Humor und die Cleverness des achtjährigen Tsatsiki brachten das Publikum sogleich auf seine Seite. Situationskomik reihte sich an nicht weniger mitreißende Gefühlsmomente und wurde stellenweise mit stürmischem Szenenapplaus honoriert. Nicht mal Milos Formans Komödie „Man on the Moon“ im Wettbewerb konnte mit vergleichbaren Publikumsreaktionen aufwarten.
Von der Leichtigkeit des Werdens
Als schwedisch-norwegisch-dänische Co-Produktion konnte bei Ella Lemhagens „Tzatziki“ schon mit traditionell gutem Kinderkino gerechnet werden. Dass der Film die Erwartungen noch übertraf, war um so erfreulicher. Tobias wächst bei seiner alleinerziehenden Mutter auf. Alle nennen ihn Tsatsiki, worauf der Junge großen Wert legt, da sein Vater, den er niemals kennengelernt hat, Grieche ist. Tsatsiki wünscht sich sehnlichst mit seiner Mutter Tina einmal nach Griechenland zu fahren, um den Vater zu suchen. Tina und Tsatsiki verbindet eine liebevolle Mutter-Sohn-Beziehung. Die unkonventionelle Mutter spielt in einer Rockband Gitarre und stürmt schon mal mit ihrer energischen Art das Büro des Schuldirektors, weil ihr Sohn von einem älteren Mitschüler bedroht wurde. Tsatsiki freundet sich mit dem Motorradstreifen-Polizisten Göran an und da Tina aus finanziellen Gründen ein Zimmer vermieten will, zieht Göran kurzerhand bei Tsatsiki und seiner Mutter ein. Göran verliebt sich in Tina, und obwohl Tsatsiki lieber möchte, dass seine Mutter mit Göran als mit dem Bassisten der Band zusammen ist, hat er anfänglich Schwierigkeiten damit, seinen Freund mit seiner Mutter zu teilen. Tsatsiki als ein pfiffiger kleiner Bursche weiß sich im Großen und Ganzen durchzusetzen.
Als Tinas Träume, ein Livekonzert und ein Plattenvertrag, mit ihrer Band in Erfüllung gehen, gelingt es auch Tsatsiki sie von seinem Traum, der Reise nach Griechenland, zu überzeugen. Doch die Wirklichkeit ist anders als das idealisierte Vaterbild, das der Junge immer mit sich trug. Tsatsiki hat herausgefunden, daß er und Tina nicht mit dem Vater leben wollen, er ihn jedoch jederzeit besuchen kann. Sich seine Träume zu erfüllen kann manchmal sehr wichtig sein – vielleicht auch nur, um der Wahrheit ein bisschen mehr auf die Spur zu kommen.„Tsatsiki“ endet mit dieser stimmungsvollen Botschaft, die aber nicht mühelos erreicht werden konnte. Der Film strahlt trotz der Darstellung seiner realen, manchmal problembehafteten Alltagswelt in der Summe eine lebensfrohe Leichtigkeit aus, in der es auch in Zeiten neuerer Familien- und Lebenskonstellationen Raum für eine kindgemäße Umwelt gibt. Die Geschichte des achtjährigen Hauptprotagonisten rankt sich um verschiedene Stränge und Figuren seines kleinen Lebens und liefert den Zuschauerinnen und Zuschauern einen überschaubaren und dennoch verzweigten Mikrokosmos. Die Regisseurin beschränkt sich auf sparsame Bilder und gibt der Erzählung Zeit sich zu entwickeln. Die Filmlänge gibt dem Jungen Gelegenheit neben seinen Bindungen zur Mutter und zu Göran solche zu seinem Schulfreund, zur neuen Lehrerin, zu einer ihn umschwärmenden Klassenkameradin und letztlich zum fremden griechischen Vater aufzubauen, die alle auf ihre Weise den Zuschauer anrühren. Außer der Frische in der Darstellung wartet der Film mit Protagonisten auf, die ohne Anbiederung und ohne Klischeehaftigkeit als Menschen aus Fleisch und Blut auf ihre Weise mit den Nöten und Sorgen des Alltags konfrontiert und streckenweise bestens damit fertig werden. Ella Lemhagen ist es gelungen, auf der Basis des großartigen Drehbuchs von Ulf Stark gleichzeitig mehrere Facetten aus dem Leben eines achtjährigen Jungen in jeweils eigene Handlungsstränge einzubinden, die in außerordentlicher Weise zum Gesamtbild des Films beitragen. Die Filmemacherin beweist zudem Mut, die Geschichte mit unkonventionellen Protagonisten auszustatten, die bei aller Individualität keine Helden sein müssen, um etwas Besonderes sein zu können. Neben dem quirligen Samuel Haus in der Hauptrolle, spielt die wunderbare Alexandra Rapaport die Rolle der jungen Mutter. Beide transportieren glaubhaft die Freuden und Schlamassel einer „modernen“ Familie.
Im Gesamtfeld der Kinderfilmfest-Beiträge war die Überraschung nicht allzu groß, dass „Tsatsiki, Mama und der Polizist“ neben dem Gläsernen Bären der Kinderjury auch den großen Preis des Deutschen Kinderhilfswerks erhielt. Letzterer wurde ex aequo auch an den belgischen Kinderfilm „Mann aus Stahl“ vergeben.
Zeit zur Reife
Die belgische Produktion „Der Mann aus Stahl“ von Vincent Bal gehört zu den Filmen des Kinderfestivals, die sich – empfohlen ab 12 Jahren – eher an das jugendliche Publikum wenden. Victor ist 13 Jahre alt. Vor kurzem ist sein Vater gestorben und er fährt in den Ferien zu seinem Onkel und seiner Tante, die am Meer ein kleines Strandhotel führen. Der Aufenthalt dort erweist sich zur Überraschung Victors zunehmend als kurzweilig. Insbesondere die gleichaltrige Fania fasziniert ihn auf eine für ihn ganz neue Art und Weise. Victor weiß nicht so recht, wie er sich gegenüber dem sehr direkten Mädchen verhalten soll. In seinen tagtraumhaften Fantasien bewegt sich Victor als unverwundbarer „Mann aus Stahl“ durch eine imaginäre Weltraumwelt, in der er als Held allerlei Abenteuer besteht. Sein verstorbener Vater ist als Raumschiff-Commander stets an seiner Seite. Auch Fania taucht in den Träumen immer wieder auf. Der nahtlose Wechsel zwischen der Wirklichkeit und dem fantasierten Universum hilft Victor über den Tod seines Vaters ein wenig hinweg. Doch muss er auch feststellen, dass sich Probleme letztlich nicht durch Hinwegträumen lösen lassen. So beschließt er tatkräftig, seinem Onkel aus der Patsche zu helfen, der bei zwielichten Gangstern hohe Wettschulden hat. Und was er in der Realität herausfinden muss, kann Victor nur mit Fania zusammen durchführen: Wie es ist, wenn sich ein Junge und ein Mädchen küssen...Die Ästhetik der Fantasieabenteuer erinnert an alte Science Fiction-Serien. Die Kostüme und Gerätschaften wirken wie aus einer kindlichen Plastik-, Spiel- und Verkleidungswelt.
In Zeiten nahezu unbegrenzter tricktechnischer Möglichkeiten müssten die Abenteuervisionen des Jungen nicht unbedingt so simpel dargestellt sein. Doch zeigt sich im Verlauf des Films dieses scheinbare Manko als durchaus nachvollziehbares, dramaturgisches Mittel. Victor muss sich durch sein Heranreifen mehr und mehr aus dieser naiven, einfach gestrickten Spielzeugwelt lösen. Wie auch immer diese Darstellungsform entstanden sein mag, als Geniestreich oder aus einer Kompromissentscheidung heraus, wären die technischen Effekte zeitgemäß perfekt, sie würden - wie allzu häufig im Kino zu erleben ist - nur vom Fortgang der Erzählung ablenken.Der Film endet mit einer der schönsten Szenen des diesjährigen Kinderfilmfests: Fania und Victor stehen sich auf dem Bahnsteig gegenüber. Aus der Ferne werden sie vom Onkel und von Fanias Vater beobachtet. Schmunzelnd vereinbaren die beiden Erwachsenen eine Wette: Wer wird wen zuerst küssen?
Leben, Sterben und Magie
Kinderfilme, die sich mit Tod und Sterben beschäftigen, finden sich in den letzten Jahren insbesondere auf Festivals immer wieder. In diese Tradition - „Der ganze Mond“ (Kanada, Neuseeland 1995) von Ian Mune, „Ponette“ (Frankreich 1996) von Jacques Doillon oder „Danny’s Mutprobe“ (Frankreich, Neuseeland 1997) von Bob Swaim - lässt sich auch „Das Geheimnis des Mr. Rice“ von Nicholas Kendall einreihen. Der zwölfjährige Owen ist krebskrank und leidet stark unter der Angst vor dem Sterben. Die Freundschaft zu seinem geheimnisvollen Nachbarn Mr.Rice ist ihm eine große Hilfe, um gegen seine Ängste und die aufkommende Mutlosigkeit anzukämpfen. Als Mr.Rice (gespielt von Popstar David Bowie) plötzlich stirbt, fühlt sich Owen verlassen und verraten. Mr.Rice hatte viel von der Zukunft gesprochen und jetzt Aussagen wie „It’s what you do in life that counts“ eine positive Bedeutung zuzumessen, fällt dem Jungen nun schwerer denn je. Als Owen mit seinen Freunden heimlich Nachts im Haus von Mr.Rice stöbert, findet er einen an ihn gerichteten versiegelten Brief. Mit dieser verschlüsselten Botschaft beginnt ein spannendes und schwieriges Rätsel, dessen Lösung mit Owens Leben zu tun haben muss.
Mit Hilfe eines geheimnisvollen Zauberrings, den er vom Nachbarn einmal bekommen hatte und dem Videoband, das Owen von Mr. Rices Beerdigung gemacht hat, lüftet der Junge das „Geheimnis des Mr. Rice“. Dieser wurde dank eines rätselhaften Lebenselixiers (ein dampfender phosphoreszierender Zaubertrank) um die vierhundert Jahre alt. Dieser Heiltrunk steht nun Owen zur Verfügung. Doch wird dieser nicht unmittelbar zum Zaubermittel gegen die Krankheit. Die Tatsache, um die Wirkung der Flüssigkeit zu wissen, weckt in Owen den Lebensmut und er fühlt sich so gut wie nie zuvor. Allein dadurch werden seine Blut-Werte stetig besser und er verabreicht den Trank einem gleichaltrigen Leidensgenossen, dessen Kampf gegen die Krankheit verloren scheint.
Bei aller Realitätsbezogenheit von Owens schicksalhafter Krankheit überrascht der im Verlauf der Geschichte zunehmende Einsatz von Märchen- und Fantasy-Elementen. Mr.Rice scheint Owen mit seinem Rätselrennen mehr zu schikanieren als ihm wirklich eine Hilfestellung zu bieten. Und, dass Owen voller Selbstzweifel immer und immer wieder zu Mr.Rices Grab läuft und mit seinem Schicksal hadert ist zwar nachvollziehbar, aber lässt die Geschichte doch sehr auf der Stelle treten.
Nicholas Kendall hat sich mit seinem Film auf eine Gratwanderung begeben. Dabei rutscht sein Bild der Realität doch gelegentlich zu sehr ins Klischeehafte ab. Dennoch scheint er am Ende noch die Kurve zu kriegen und fängt den aus der Geschichte abdriftenden Zuschauer gerade nochmal auf. Er entlässt sein Publikum mit dem Gefühl, einen anrührenden und hoffnungsfrohen Film gesehen zu haben. Das Gelingen dieser Gratwanderung ist wohl der Grund, dass die elfköpfige Kinderjury den Film mit einer lobenden Erwähnung bedacht hat. Der Film ist demnach „eine ungewöhnliche und spannende Geschichte mit sehr guten Schauspielern, toller Musik und faszinierenden Schnitten“. Einen beträchtlichen Anteil an der Qualität des Films hat mit Sicherheit der junge Bill Switzer, der als Owen eine bewundernswerte schauspielerische Leistung abliefert und problemlos neben David Bowie besteht.
Das Geheimnis des Mr. Rice(Mr. Rice’s Secret)
Regie: Nicholas Kendall - Buch: J.H. Wyman - Kamera: Gregory Middleton - Musik: Simon Kendall, Al Rodger - Darsteller: David Bowie (Mr. Rice), Bill Switzer (Owen) - Produktion: Kanada (New City Productions) 1999 - Länge: 92 Minuten
Der Mann aus Stahl (Man van Staal)
Regie und Buch: Vincent Bal - Kamera: Glynn Speeckaert - Musik: Wim De Wilde - Darsteller: Ides Meire (Victor), Charlotte De Ruytter (Fania), Peter Gorissen (Onkel Rick), Katelijne Damen (Tante Jeanne) - Produktion: Belgien (Favourite Films) 1999 - Länge: 85 Minuten
Tzatziki, Mama und der Polizist (Tsatski, Morsan och Polisen)
Regie: Ella Lemhagen - Buch: Ulf Stark - Kamera: Anders Bohman - Musik: Popsicle - Darsteller: Samuel Haus (Tsatsiki), Alexandra Rapaport (Tina), Jacob Ericksson (Göran), George Nakas (Vater) - Produktion: Schweden, Norwegen, Dänemark (Felicia Film AB) 1999 - Länge: 91 Minuten
Beitrag aus Heft »2000/02: 50 Jahre JFF - 50 Jahre Medienpädagogik«
Autor: Markus Achatz
Beitrag als PDFEinzelansichtWolfgang J. Fuchs: Das Phänomen „Harry Potter“
Harry Potter ist ein Junge, der kurz vor seinem 11. Geburtstag erfährt, dass er von Zauberern abstammt, mithin selbst geborener Zauberer ist und von nun an ein Zauberinternat zu besuchen hat. Damit ändert sich schlagartig sein eher trübsinniges Leben bei Onkel Vernon und Tante Magda, wo er unter der Treppe in einer Abstellkammer hausen musste und unter den Launen seines fetten, verwöhnten Vetters zu leiden hatte.
Die Geschichte klingt nicht aufregend? Ist sie aber. Denn dahinter verbirgt sich ein Gedanke, der auch die Autorin der Harry-Potter-Bücher, Joanne K. Rowling, faszinierte: dass nämlich ein Kind der Enge der Erwachsenenwelt entflieht und an einen Ort gelangt, an dem es wörtlich wie bildlich Macht hat. Rowling nimmt die jugendlichen Allmachtsphantasien ernst und schafft in ihren Romanen eine Zwischenwelt außerhalb der Gesetzmäßigkeit der „normalen“ Welt.
Zu Beginn: eine Idee
Die Vorgeschichte des auf sieben Romane angesetzten Romanzyklus, der mit den ersten drei Bänden bereits international Furore gemacht hat, ist fast so sagenhaft wie der Inhalt der Bücher. Rowling hatte an der Exeter University für ihr Lehrerinnenexamen studiert. Sie hatte geheiratet und eine Tochter zur Welt gebracht, als ihre Ehe zerbrach. Alleinerziehend und arbeitslos, von der Sozialhilfe lebend, suchte sie eine Herausforderung, um nicht in Trübsinn zu verfallen. In einem Café bei einem Espresso und einem Glas Wasser begann sie handschriftlich ihren ersten Roman „Harry Potter and the Sorcerers’ Stone“ zu notieren, zu dem ihr die Idee während einer Bahnfahrt von Manchester nach London gekommen war. Sie arbeitete rund fünf Jahre am ersten Manuskript und tippte den Roman auf einer geliehenen Schreibmaschine zweimal ab, da sie nicht genug Geld hatte, um ihn zu fotokopieren. Schließlich erhielt sie vom Scottish Arts Council ein Stipendium, um das Buch fertigstellen zu können. Dann reichte sie das Manuskript bei einem Verlag ein, wurde aber prompt abgelehnt, weil die Lektoren befanden, das Buch sei für ein Kinder- respektive Jugendbuch zu umfangreich. Beim nächsten Versuch fand ihr Buch beim Verlag Bloomsbury (in England) sowie bei Scholastic Books (in USA) auf Anhieb Anklang. Nicht nur das. Auch der Gedanke, dass dies nur der erste Teil einer auf sieben Teile angelegten Buchreihe sei, zu dem sie schon das Handlungsgerüst fertig konzipiert hatte, gefiel den Lektoren.
Der erste Harry-Potter-Roman erschien, die Ehrungen häuften sich, ebenso die Nennungen in den Bestsellerlisten. Anfang Januar 2000 befanden sich die drei Potter-Romane seit Wochen auf der Bestsellerliste der New York Times: „Harry Potter and the Sorcerer’s Stone“ seit 54 Wochen, „Harry Potter and the Chamber of Secrets“ seit 29 Wochen und „Harry Potter and the Prisoner of Azkaban“ seit 15 Wochen.
Das Potter-Virus
Harry Potter ist auch international ein Auflagenrenner. Es gibt die Romane bereits in 16 Ländern. Von den ersten drei Bänden wurden in England und USA zusammen über 5 Millionen Exemplare verkauft. In Deutschland hat der Carlsen Verlag von Band 1 und 2 im ersten Jahr immerhin 80 000 Exemplare abgesetzt und 1999 die Startauflage von Band 3 auf 70 000 erhöht. Die Romane haben inzwischen weltweit eine große Anhängerschaft. Verlage wie Fans haben Dutzende von Websites eingerichtet, auf denen man Auskünfte über die Autorin, die Bücher, aber auch über die gerüchteweise verlauteten Inhalte der Folgebände erfahren kann. So soll in Band 4 jemand zu Tode kommen, Harry seine Hormone entdecken und Band 7 mit dem Wort „Narbe“ enden! Beispiele für die Websites sind: www.scholastic. com/harrypotter/ oder harrypotter.freehosting.net oder harrypotter.iwarp.com und www.harrypotter. com sowie www.harrypotter.de. Natürlich hat auch der Carlsen Verlag eine eigene Harry Potter Webseite eingerichtet: hogwarts@carlsen.de. Lässt man Suchmaschinen nach Harry Potter forschen, findet man unzählige Sites. Und Hollywood hat auch schon angeklopft. 2001 will man sich bei Warner Brothers an eine Verfilmung von Joanne K. Rowlings Geschichten wagen.
Was es zu erzählen gibt
Um was genau geht es in diesen Romanen, die solchermaßen Furore gemacht haben, dass „Focus“ meinte: „Das Potter-Virus infiziert nun auch Deutschland“?
In Band 1, Harry Potter und der Stein der Weisen, steht wie schon erwähnt Harrys 11. Geburtstag bevor. Harry wohnt bei Familie Dursley, die aus seinem Onkel Vernon, seiner Tante Magda und seinem fetten, verwöhnten Cousin Dudley besteht. Da die Dursleys nichts von Zauberei wissen wollen, muß Harry in einer Kammer unter der Treppe hausen, bis eine erste Eule einen Brief für Harry bringt. Der Onkel vernichtet den Brief sofort. Daraufhin kommen weitere Briefe in sich steigernden Szenen der Groteske, die die Spannung steigen lassen, bis endlich auch für Harry klar ist, dass er ein besonderes Kind ist. Er stammt nicht nur von Zauberern ab, die von einem Bösewicht vernichtet wurden, dessen Namen (Voldemort) man in Zaubererkreisen nicht auszusprechen wagt. Nur Harry konnte er - außer einer Narbe auf der Stirn - nichts anhaben. Der Versuch, Harry zu töten, führte zum Verschwinden Voldemorts. Zauberer besuchen die Zauberschule im Alter von 11 bis 17 Jahren (Jeder Roman beinhaltet ein Jahr von Harrys Schulzeit, daher die Festlegung auf 7 Bände.). Deshalb darf auch Harry die Zauber-Internatsschule Hogwarts besuchen. Die Abfahrt beginnt um 11 Uhr am Bahnsteig 9 3/4 im Londoner Bahnhof King’s Cross, einem der Schnittpunkte zwischen der Welt der Zauberer und der Welt der Muggel (= Nichtzauberer). Was sich im ersten Schuljahr ereignet? Es zeigt sich, dass es auch in der Zauberwelt Parallelen zu den Schulen der Normalwelt gibt mit guten Freunden und neidischen Mitschülern, mit guten Lehrern und mit schlechten. Und mit so manchem Geheimnis, das bei nächtlichen Ausflügen lauert. Am Ende muss Harry sich noch einmal dem nicht endgültig geschlagenen Bösewicht stellen.
Der erste Band ist mit leichter Hand geschrieben. Er zieht einen sofort in seinen Bann, zumal er nicht nur geschickt Spannung aufbaut und konsequent mit den Unterschieden und Ähnlichkeiten der realen und der Anderwelt spielt, sondern weil er Witz und Charme hat und trotz der allgegenwärtigen Bedrohung durch das Böse nie Hoffnungslosigkeit aufkommen lässt. Die Erzählung ist brillant konstruiert und mit sicherem Stilgefühl geschrieben (und übersetzt). Sie sprüht vor Einfällen und köstlichen Dialogen.
Thomas Bodmer schrieb im „Magazin“ des „Tagesanzeigers“: „Die Bücher der 34-jährigen Joanne K. Rowling sind zwar für 9- bis 11-jährige gedacht, aber besser geschrieben als 92 Prozent der Erwachsenenliteratur.“Im zweiten Band wird ein unheimliches Geheimnis der Internatsschule Hogwarts aufgedeckt, das zunächst einigen Schülern Angst vor Harry macht, weil man ihn für einen Bösewicht hält. Trotz eines furchtbar aufgeblasenen Lehrers, der in Wirklichkeit nur ein Blender ist, gelingt es aber, alles wieder ins Lot zu richten. Nur Hagrid, mit dem sich Harry und seine Freunde Ron und Hermine angefreundet haben, gerät im Verlauf der Geschichte in einen bösen, aber unbegründeten Verdacht, dessentwegen er als Gefangener nach Askaban kommt, was den Anknüpfungspunkt für den dritten Band ergibt, von dem „Time“ meinte, man solle den Roman nicht zu spät am Abend anfangen, da man die letzten 80 Seiten nicht aus der Hand legen möchte, ohne sie zu Ende gelesen zu haben. Wenn man glaubt, dass die Harry-Potter-Romane nur unterhaltsam sind, greift man mit seinem Urteil daneben. Sie stecken nämlich so voller kluger Erkenntnisse und sind bei aller Fantasy doch Schlüsselromane über die Welt der Schulbildung und für die Erkenntnis unserer Realität und ihres dualistischen Wesens, das ständig zwischen Gut und Böse schwankt. Vielleicht ist es gerade die Schwebe zwischen realer Welt und Anderwelt, die über die vorhandenen unterhaltsamen Qualitäten hinausweist, da sie Wünsche und Hoffnungen der Leser befriedigt und ihnen eine eigene Welt eröffnet, die man mit Freude entdecken kann.
Ist es außerdem nicht erfreulich, dass ein Romanzyklus mit so umfangreichen Bänden selbst junge Leser dazu bringen kann, sich auf Bücher einzulassen und nicht nur elektronisch ein Weltbild zu entfalten? Man kann nur dazu raten, sich diese solide gemachten Schmöker nicht entgehen zu lassen, bevor sich Hollywood ihrer bemächtigt hat. Harry Potter hat es verdient, in unserer eigenen Phantasie Gestalt anzunehmen, ehe wir uns auf ein schnödes filmisches Abziehbild einstellen müssen. Die Harry-Potter-Romane sind im Carlsen Verlag, Hamburg erschienen und wurden von Klaus Fritz ins Deutsche übertragen.
Harry Potter und der Stein der Weisen, 1998, 336 S., DM 26,-
Harry Potter und die Kammer des Schreckens, 1999, 352 S., DM 26,-
Harry Potter und der Gefangene von Askaban, 1999, 448 S., DM 28,-
Beitrag aus Heft »2000/02: 50 Jahre JFF - 50 Jahre Medienpädagogik«
Autor: Wofgang J. Fuchs
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kolumne
Herbert Riehl-Heyse: Mensch – Medien – Zukunft
Wenn Sie mich etwas befangen hier stehen sehen, so hat das mehrere Gründe: Einer ist, dass ich ja dem Programm habe entnehmen und soeben bei der Podiumsdiskussion habe sehen können, wie viel bedeutende und respekteinflößende Persönlichkeiten bei dieser Tagung schon aufgetreten sind, eine Reihe von Wissenschaftlern darunter, die sowieso sehr viel mehr von den hier zu diskutierenden Fragen verstehen, und dann auch noch den Vorteil haben, dass sie vor mir dran waren. Die Gefahr ist also groß, dass ich Ihnen nichts Neues sagen werde – und das auch noch auf unwissenschaftliche Weise. Aber da müssen wir jetzt alle durch – ich mehr noch als Sie. Sie können ja die Augen schließen und vielleicht einen inneren Film an sich vorbeiziehen lassen.
Haben Sie bitte alle den eleganten Übergang zur Kenntnis genommen? Ich bin jetzt also auf dem Umweg über den Film doch endlich bei den Medien, über deren Zukunft in meiner Eigenschaft als Mensch – wenn ich das Programmheft richtig gelesen habe – ich heute reden soll. Ich soll das ausdrücklich nicht als Medienpädagoge, der ich auch nicht bin, weil meine jüngste Tochter 16 ist und nur noch müde lächelt, wenn ich sie mal vorsichtig frage, warum sie auch die Wiederholung der Wiederholung der alten Folgen von „Beverly Hills, 90210“ noch mal sehen muss, statt eine gute Kultursendung bei 3sat: Als Medienpädagoge bin ich also an meinen Grenzen, als Futurologe bin ich das aber auch, genau genommen gehört es sogar zu den vielen Fähigkeiten, die ich nicht habe, dass ich so richtig zielsicher in die Zukunft schauen könnte. Ich weiß also, das wird Sie jetzt enttäuschen, nicht genau, wie alles kommen wird. Ich kann es mir höchstens denken, genauer: zu denken versuchen. Jedenfalls habe ich mir gedacht, ich teile meine jetzt folgende fünfstündige Rede in zwei Hauptteile: der erste Teil wird davon handeln, wie es kommen könnte im Zusammenhang mit den Medien, wenn man die heutige Entwicklung hochrechnet. Und die zweite davon, wie es kommen müsste.
*Wie die Lage der Medien heute ist, wissen Sie selber: Sie ist überwältigend, um eine neutrale Formulierung zu gebrauchen. Wären wir von der Wasser- und Schifffahrtsdirektion – übrigens mit drei „f“ – dann würden wir von einer Medienflut reden, davon, dass die Pegelstände überall steigen auf dem Murdoch-Strom, in den Bertelsmann-Gewässern, in dem Ozean, der nach Bill Gates benannt ist. Wenn die Fluten noch weiter steigen, dann steht uns – sagt die Erfahrung – irgendwann das Wasser bis zum Hals, und später ersaufen wir dann darin.
Nein, das war jetzt ganz blöd – man kann Bilder auch zu Tode strapazieren, und in Wahrheit ist es ja genau umgekehrt. Je höher die Fluten steigen, je mehr Medien wir haben, desto mehr sollen wir uns freuen. Wären wir jetzt bei den Münchner Medientagen oder bei den Konkurrenzveranstaltungen in Hamburg oder in Köln, dann träte mit Sicherheit irgendwann ein Bürgermeister ans Mikrophon oder gar ein leibhaftiger Ministerpräsident und rechnete uns vor, dass – beispielsweise – im Großraum München, das habe ich kürzlich einem solchen Grußwort entnommen, jetzt schon mehr als 100.000 Leute irgendwie im Medienbusiness tätig sind, und von Medien leben, als Regisseur oder Kabelträger, als Lohnschreiber, Intendant oder Intendantensekretärin. An dieser Stelle würde sich dann jede weitere Debatte ohnehin erübrigen: Wo so viele Arbeitsplätze entstanden sind und immer noch entstehen, wo so viele schöne Umsatzrenditen erzielt werden - oder wenigstens erzielt werden sollen – verbietet sich jede kulturkritische Bemerkung über die Produkte, die in diesem Business hergestellt und vertrieben werden, über die Inhalte, die gesendet oder gedruckt werden, über den „Content“, wie wir Fachleute das nennen. Weil das so ist, denke ich mir, reden ja auch immer weniger Leute über Inhalte, redet niemand mehr über ein Programmwie RTL2 zum Beispiel, nicht einmal über dessen Programmhöhepunkt. Wie, den kennen Sie gar nicht? Wenn Sie sich ein bisschen beeilen heute Abend, können Sie leicht dabei sein, um 22.30 Uhr bei „Strip“, der Erotik-Show mit Jürgen Drews. Der Content der Sendung ist, dass sich alle fünf Minuten, jeweils nach einem Jubelschrei des Moderators, eine immer wieder andere Frau – gerne auch eine Hobbykünstlerin aus dem Publikum - , um eine Art Kletterstange windet, sich dabei auszieht, sich ans Geschlecht greift und ein bisschen stöhnt. Über so etwas, denkt jetzt vielleicht der eine oder andere, redet man nicht in einem solchen Festvortrag.
Man redet aber überhaupt nirgends darüber, weil hier wirklich die Unsäglichkeit zum Programm gemacht worden ist; darüber ließe sich höchstens in den Wirtschaftsteilen der Zeitungen berichten, wo einmal im Jahr ja auch darüber berichtet wird, dass sich der Jahresumsatz bei Beate Uhse um 10,2 Prozent gesteigert hat, weil die Nachfrage nach Dildos angezogen hat.
Man könnte natürlich auch umgekehrt argumentieren, könnte sagen, dass gerade die Unsäglichkeit mancher Programme eine gewisse Diskussion herausfordert. Man könnte fragen, was es über den kollektiven Geisteszustand einer Gesellschaft aussagt, wenn der Exhibitionismus Programmbestandteil geworden ist, könnte darüber nachdenken, was es für den Geschmacks- und Gefühlshaushalt junger Leute bedeutet, mit solchen Programmen ganz selbstverständlich groß zu werden, könnte sich sogar fragen, wozu es eigentlich all die gesellschaftlich relevanten Persönlichkeiten gibt, die als Medienminister in den Staatskanzleien sitzen, oder als Repräsentanten von irgendwas, zum Beispiel der Kirchen, in den Medienräten, wenn sie alle zusammen ein Phänomen wie den ständig kreischenden Herrn Drews sang- und klang- und kommentarlos zur Kenntnis nehmen. Aber andererseits – mit solchen Fragen machte man sich irgendwie lächerlich, schließlich sind wir alle aufgeklärte Menschen und manche von uns – ich zum Beispiel - haben die Verklemmtheiten der 50er Jahre zu schrecklich in Erinnerung, als dass sie auch nur eine Sekunde in den Verdacht geraten wollten, sie wünschten sich die „Aktion saubere Leinwand“ zurück. Deshalb stelle ich die oben aufgeführten Fragen auch nicht.
Ich erwähne das alles sowieso nur, weil man vielleicht davon ausgehen muss, dass die Perfektionierung des Fernsehschaffens auch auf dieser Ebene in den nächsten Jahren noch viele weitere Höhepunkte erwarten lässt. Der kleine Mathematiker in uns Zukunftsforschern braucht sich nur die Kurve der Entwicklung anzusehen, braucht sich nur zu erinnern, was sich getan hat, seit den vor zehn Jahren noch viel diskutierten Tutti-Frutti-Ratespielen, die man heute ohne weiteres im Kinderfernsehen zeigen könnte. Wir sind einfach ein ganzes Stück weiter, da brauchen Sie sich nur anzuschauen, wie der schrottigste Schrott, den das Fernsehen produziert, dann wieder in kleine Stückchen zerlegt und in witzigen Sendungen neu gesendet wird, woraufhin der Moderator von „TV Total“ natürlich sofort einen Medienpreis erhält - ich finde „TV Total“ natürlich auch ganz witzig, auf Wunsch kann ich Ihnen auch „Maschendrahtzaun“ vorsingen, und wer nicht weiß, was ich damit meine, hat im Prinzip auf einer Veranstaltung des JFF gar nichts verloren. Trotzdem: Wenn Sie sich das alles vor Augen halten, und es dann mit Tausend multiplizieren – weil zwar das digitale Fernsehen in Premiere World bis jetzt erst 69 Kanäle hat, aber demnächst gewiss tausend –, und wenn Sie das Ergebnis endlich mit einer Million Websites im Internet zur Potenz rechnen, – dann, ja dann muss uns nicht Bang werden um eine Vision von der Zukunft des Menschen in der Medienwelt: Die eine Hälfte der Menschheit wird davon leben, die Fluten zu erzeugen, in denen die andere Hälfte ersäuft.
*Ich sehe schon, jetzt ist mir doch wieder der Gaul durchgegangen, den ich doch eigentlich am Zügel führen wollte. Wenn ich wollte, könnte ich gerne noch ein paar Stunden über meine Vermutungen philosophieren, wie es um die Kontakt- und Erlebnisfähigkeit von Menschen aussehen wird, die in ihrer Jugend zu viel Telefonsex-Werbung gesehen haben nachts um halb eins oder auch nur zu viele Tatorte mit von der Russenmafia hingemetzelten Prostituierten. Darauf verzichte ich, genauso wie auf längere Ausführungen über die Segnungen der immerwährenden Kommunikation, von denen ich endgültig überzeugt bin, seit ich kürzlich die Geschichte von einem Model gelesen habe. Die Frau habe, so erfuhr man später von der Polizei, im letzten Monat bevor sie nicht mehr leben wollte, eine Telefonrechnung in Höhe von 3.000 Mark gehabt und ist offenbar beim dauernden Telefonieren völlig vereinsamt. Würde ich diesen meinen Trieb zum Kulturpessimismus weiter ausleben, so würde ich an dieser Stelle auch noch auf das Interview verweisen, das kürzlich der amerikanische Internet-Pionier Clifford Stoll dem Spiegel gegeben hat, um vor den Gefahren des von ihm so vorangetriebenen Mediums zu warnen. „Das Wichtigste, was wir auf Erden haben“ – hat er gesagt – „ist die Zeit. Sie ist begrenzt und wir verschwenden sie mit dem Surfen im Internet, stundenlang. Nach fünf Stunden sitzt man da und fragt sich, was es einem gebracht hat. Bin ich ein besserer Mensch geworden, verstehe ich besser, was die Welt im Innersten zusammenhält. Nein, ich bin nur um fünf Stunden älter geworden.
“So, wie gesagt, würde ich nie reden, der Mann redet ja wie ein Pfarrer, und viel zu pessimistisch. Ich persönlich bin eher – wie Sie vielleicht schon gemerkt haben – ein Optimist, jedenfalls jetzt im zweiten Teil meiner Rede, den man immer optimistisch anlegen soll, um seine Zuhörer nicht in die Depression zu schicken. Sie werden, wenn Sie den zweiten Teil hören, vielleicht glauben, ich redete als der Agent des Bundesverbandes der deutschen Zeitungsverleger, aber das ist nicht wahr. Ich wollte Ihnen in diesem zweiten Teil nur sagen, wie es mit den Medien und dem Menschen in der Zukunft weiter gehen sollte. Und das geht nicht ohne ein Plädoyer für das gedruckte Wort, auch wenn dies in Gegenwart von lauter Fachleuten aus den konkurrierenden und für die konkurrierenden Medien vielleicht ein wenig unpassend wirken sollte. Man lädt aber nicht ungestraft einen Zeitungsredakteur zu einem solchen Vortrag ein, und sowieso war bisher von Zeitungen nicht die Rede.*Wozu also wird man künftig noch Zeitungen brauchen? Das ist nun wirklich leicht zu erklären. Oder haben Sie schon einmal versucht, Ihre Schuhe, wenn die im Regen nass geworden sind, mit Hilfe von Fernsehsendungen oder gar mit dem Internet auszustopfen? Na also! Die Beweisführung stammt übrigens von dem bekannten Kommunikationswissenschaftler Loriot und wird als unwiderlegbar in die Geschichte des Zeitungswesens eingehen.
Vielleicht sollte man sich aber noch nicht einmal mit dieser Loriotschen Rechtfertigungslehre des Zeitungsmachens zufrieden geben. Womöglich gibt es ja noch ein paar andere Argumente für die These, dass die Zeitungen, insbesondere die Tageszeitung, (für die ich hier vor allem sprechen möchte), ihre besten Zeiten erst noch vor sich haben. Anders gesagt: ich bin fest davon überzeugt, dass sie im nächsten Jahrhundert noch mehr gebraucht werden als je zuvor.
Obwohl es doch diese vielen anderen, neueren, schnelleren Medien gibt, über die ich im ersten Teil schon geredet habe. Das erste Argument für meine These hängt paradoxerweise genau mit dieser Entwicklung zusammen. Ich versuche sie noch einmal etwas deutlicher zu formulieren: Wenn auch nur annähernd stimmt, was etwa der amerikanische Medienexperte Nicolas Negroponte nicht müde wird zu prophezeien, dann haben wir es sehr bald mit einem völlig neuen Fernsehzeitalter zu tun, dem digitalen eben: Irgendwann werden weltweit 15.000 Fernsehprogramme auf dem Markt sein, die man sich mit Hilfe eines Zauberkastens namens Decoder ins Wohnzimmer wird holen können, lauter Programme, die uns zum Beispiel dabei helfen werden, die anstrengenden Politik-Sendungen der ARD – sofern es sie dann noch geben sollte – weiträumig zu umsurfen.
- Das gelingt den Jüngeren jetzt schon perfekt: Erst gestern ist in den Zeitungen über diese Studie berichtet worden, aus der hervorgeht, dass innerhalb von sechs Jahren der Anteil der Jugendlichen, die noch ARD und ZDF sehen, von 40 Prozent der Gesamtbevölkerung auf 19 Prozent gesunken ist.Aber zurück in die Zukunft: Nichts wird es mehr geben, das nicht gesendet werden wird. Es wird Sendungen geben, aus denen wir alles über die Traditionen des türkischen Bauchtanzes erfahren werden oder auch das Neueste über die Feinheiten der kreolischen Kochkunst, nicht zu vergessen die schönsten indischen Seifenopern, auf die wir keineswegs verzichten müssen, wenn wir nur ein bisschen zu zappen gelernt haben. Ganz zu schweigen von den unzähligen Möglichkeiten, sich mit Hilfe des Video on Demand ein besonders schönes DFB-Pokal-Halbfinalspiel aus dem Jahre 1977 reinzuziehen oder auch einen überdurchschnittlich gelungenen Zigeunerbaron des Stadttheaters Luzern...
Mit anderen Worten, schon bald wird es kein Fernsehen im herkömmlichen Sinn mehr geben, weil es nämlich dann in seine 15.000 Bestandteile atomisiert (und marginalisiert) sein wird. Dann wird es vielleicht so sein, dass uns das immer größere Angebot immer gleichgültiger lässt, auch weil sich der Esel zwischen tausend Heuhaufen überhaupt nicht mehr entscheiden mag – vielleicht ist das ja, nebenbei gesagt, die Erklärung dafür, warum sich Premiere World so verdammt schwer tut, genug Zuschauer zu finden und Geld zu verdienen. Ich frage mich ohnehin, ob es beim Fernseh-Quoten-Geschäft nicht mal ein paar sehr böse Überraschungen gibt. Davon abgesehen ist eines jedenfalls sicher: Wenn diese Atomisierung, von der ich gesprochen habe, erst einmal passiert ist, sieht jeder von uns dauernd etwas anderes, und unsere altvertraute Frage an den Arbeitskollegen, ob er gestern vielleicht das aufrüttelnde Magazin „Panorama“ gesehen habe, wird endgültig absurd sein.*Wenn aber das Medium Fernsehen ausgefallen sein wird als Basis für die öffentliche Diskussion und wenn insoweit auch das Internet nicht weiterhelfen wird, das ja mit seinen Millionen Möglichkeiten der individuellen Kommunikation geradezu das Gegenteil von Öffentlichkeit herstellt, was bleibt da übrig? Genau – wir werden die Tageszeitungen, die Wochenblätter und die Magazine brauchen, aus gesellschaftspolitischen Gründen sozusagen.
Demokratie setzt nämlich die öffentliche Debatte voraus, die wiederum nicht möglich ist, wenn nicht eine größere Anzahl von Menschen die gleiche Wissensbasis für ihre Fragen, Gegenentwürfe und letztlich ihre Entscheidungen hat. Um die Qualitäten oder Mängel des vom Finanzminister geschnürten Sparpakets zu beurteilen, muss man es schließlicherst kennen – genauso wie man in der Kleinstadt nur mit Hilfe der Zeitung – und ein paar schönen Zeichnungen in derselben – sinnvoll darüber diskutieren kann, wo die Trassen der neuen Umgehungsstraße angelegt werden sollen und ob man überhaupt eine Umgehungsstraße braucht.
Ein zweites Argument hängt eng mit dem ersten zusammen: Der Mensch versteht die Geheimnisse der bundesdeutschen Innenpolitik ja nicht deshalb besser, weil inzwischen zwanzig deutsche Fernsehkanäle – und demnächst vielleicht 50 – eigene Nachrichtensendungen haben und deshalb schon bald 500 Kameraleute den Minister fast zu Tode quetschen, damit er auf dem Weg vom Sitzungssaal zum Klo einen Halbsatz darüber formulieren kann, dass noch nichts entschieden ist in der Frage der Erbschaftssteuer. Auch die ganze Welt versteht der Mensch nicht besser als früher, weil er heute tausendmal mehr erfährt als noch vor 50 oder gar 100 Jahren über Zugunglücke in Hinterindien und Regierungskrisen in Surinam. Das Gegenteil ist der Fall: Aus der amerikanischen Mediendiskussion stammt der Satz, wir alle seien „overnewsed and underinformed“ – und wenn das richtig ist, dann haben die Zeitungen heute eine ganz andere - zusätzliche - Funktion als jemals zuvor: Sie müssen Lebenshilfe bieten, sie haben so etwas zu sein wie die Leuchttürme im immer dichter werdenden Nebel.Je komplizierter und undurchschaubarer die Sachverhalte, desto mehr bedürfen sie der Erklärung durch Journalisten, die sich auf das eine oder andere Feld spezialisiert haben, von dem sie deshalb etwas mehr verstehen als der Nachrichten-Normalverbraucher. Niemand kann ja auch nur annähernd noch für sich beanspruchen, dass er alleine den Überblick behalten hätte – ganz gewiss können das auch Journalisten nicht. Stattdessen können wir aber eine Mittler-Rol
Beitrag aus Heft »2000/02: 50 Jahre JFF - 50 Jahre Medienpädagogik«
Autor: Herbert Riehl-Heyse
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