Prof. Dr. Bernd Schorb
- Herausgeber
Vita
Studium der Pädagogik, Politikwissenschaft, Psychologie, Soziologie und Zeitungswissenschaften an der Ludwig-Maximilians-Universität München.
Ich bin bei merz seit:
- 1976 bis 1991 als Redakteur
- 1990 bis heute als Mitherausgeber
Aktivitäten
- Mitherausgeber der Zeitschriften merz | medien + erziehung undMedien & Alter(n)
- Vorsitzender des JFF – Jugend Film Fernsehen e. V. München
- Professor für Medienpädagogik und Weiterbildung am Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft der Universität Leipzig
- Erster Vorsitzender des Verein Medienpädagogik e. V. Leipzig
- Erster Vorsitzender des Verein JFF Berlin-Brandenburg
- Stellvertretender Vorsitzender des Verein
Gesellschaft – Altern – Medien e. V. Leipzig
Schwerpunkte
- Forschungen zu Medienaneignung in Kindheit, Jugend und Alter
- Theoriebildung und Modellentwicklung für die Medienpädagogik
Beiträge in merz
Bernd Schorb: Ich habe kein Handy
„Könnten Sie mir bitte Ihre Handynummer geben, damit ich Sie erreichen kann?“ „Ich ruf’ dich dann auf dem Handy an!“ „Tragen Sie hier die Nummer Ihres Mobiltelefons ein.“ Alle diese Aufforderungen, die mir täglich begegnen, beantworte ich mit „Nein“ oder gar nicht. Ich habe kein Handy. Handelt es sich bei dem Auffordernden um ein Formular, ist die Sache in Ordnung. Handelt es sich um einen Partner aus dem Bereich des Dienstlichen, erfolgt oft erst die Wiederholung der Frage und dann das Stirnrunzeln mit der unausgesprochenen Feststellung: Ein seltsamer (manche denken auch noch: alter) Kauz. Freunde und gute Bekannte fragen: „Wie?“ oder „Warum?“ Dann muss ich erklären.Anfangs war mir das Mobiltelefon noch zu teuer. Außerdem regten mich die Angeber auf, die immer dann, wenn eine ausreichend große Menschenmenge um sie herumstand, ihr damals noch dickleibiges Mobiltelefon herauszogen und mit wichtiger Miene höchst Wichtiges verkündeten: „Mutti, ich steig jetzt gleich in den Flieger ein.“ Später dann, als jeder, der so bedeutend war, dass er dienstlich auch unterwegs erreichbar sein musste, ein Handy hatte, wurde der Druck größer. „Wenn du nicht erreichbar sein willst, dann kannst du das Handy ja abstellen. Aber wenn mal was Wichtiges ist!“ Schön wär’s! Mein Problem ist, ich kann das Handy nicht abstellen.Zuhause hatten wir ein paar Jahre lang das einzige Telefon in der Siedlung. Das schwarze Gerät stand im Hausflur direkt unter dem Spiegel gegenüber der Eingangstür.
Wer zu uns kam, sah zuerst das Telefon. Wenn es läutete, konnte eine Oma gestorben oder ein Kind geboren sein, eine Fuhre Kohle geliefert werden oder mein Vater verkündete seine verspätete Ankunft zum Essen. Ausschalten konnte man da nichts. Das Kabel wuchs aus der Wand, es war ein Teil des Hauses. Das Klingeln dieses Telefons war bedeutungsvoll, viele Jahre lang. Heute, wo die Handy-Versorgungsrate in Deutschland 107,3 Prozent beträgt, weil außer ein paar Alten jeder ein Handy hat und viele sogar zwei, gelte ich als verschroben. Da habe ich aber nichts dagegen. Ich möchte weiterhin nicht erreichbar sein dürfen und auch nicht jederzeit telefonieren können müssen. Wenn der Zug wieder mal Verspätung hat, ist meist ein Schaffner so nett und leiht mir sein Diensthandy. Natürlich beeindrucken mich die Zeitungsmeldungen von dem einsamen Wanderer, der in den Alpen vom Weg abgekommen ist und dank der Möglichkeit, sein Handy zu orten, gerettet werden konnte. Aber ich frage mich auch, ob ich überall und jederzeit und überhaupt von unserem Innenminister geortet werden will. Tief beeindruckt war ich auch, als ich letztes Jahr im Himalaya mit einigen anderen Wanderern auf 4.000 Meter Höhe eingeschneit war und eine Schweizerin über ihr Handy per Satellit ihren Mann in Wägis anrief und der in Echtzeit im Netz die Wetterentwicklung am Anapurna prüfte und die Auskunft gab, dass es weiter schneien wird.
Wie lange ich das Privileg, autonom zu entscheiden, wann ich erreichbar bin und wann nicht, noch halten kann, weiß ich nicht. Es trifft mich der Vorwurf des Snobismus: „Das muss man sich erst mal leisten können.“ Es ist eigentlich auch ganz bequem, immer und überall Kontakt mit anderen aufnehmen zu können. Zuletzt habe ich geschwankt, als ich eines der Gesamtpakete von 1+1 angeboten bekam. Ich bin darauf eingegangen, allerdings ohne Handy. Das war richtig, denn der Kundendienst fürs Internet ist so miserabel, dass ich froh bin, mich nicht auch noch mit einem selten funktionierenden und falsch abgerechneten Handy herumschlagen zu müssen.
Helga Theunert/Bernd Schorb: Hans Schiefele zum 100. Geburtstag
Hans Schiefele, ein herausragender Pädagoge und Denker sowie ehemaliger Vorsitzender des JFF, feiert seinen 100. Geburtstag. Bekannt für seine scharfsinnigen Analysen und die Öffnung des Raums für die Diskussion unterschiedlicher Perspektiven, hat er Generationen von Studierenden inspiriert, sich mit den Herausforderungen der modernen Medienwelt auseinanderzusetzen. Seine Überzeugung, dass Bildung und Erziehung entscheidend sind, um junge Menschen zu mündigen und sozial verantwortlichen Individuen zu formen, prägt bis heute die Medienpädagogik. Der Beitrag von Bernd Schorb und Helga Theunert würdigt Schiefeles Lebenswerk und seinen Einfluss auf die Entwicklung von Medienkompetenz in der Gesellschaft.
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Helga Theunert/Bernd Schorb: Die Maschine KI - Herausforderung für eine subjektorientierte (Medien-)Pädagogik
Was kann KI und wie genau sehen ihre Unterstützungsleistungen aus? Wo-durch unterscheiden sich Maschinen bzw. das maschinelle Lernen von den generativen KI-Systemen, wie zum Beispiel ChatGPT? Warum ist die Vermenschlichung von KI problematisch und was sind die pädagogischen Implikationen ihres Einsatzes? Hierüber und über weitere Fragen sprechen Prof.Dr. Helga Theunert und Prof. Dr. Bernd Schorb mit Dr. Thomas Hickfang.
Anja Hartung-Griemberg/Burkhard Schäffer/Bernd Schorb: Editorial: Generation. Perspektiven in Medienforschung und -Pädagogik
Wenn in gegenwärtigen Debatten von Digitalisierung und gesellschaftlichem Wandel die Rede ist, dann ist auch der Generationenbegriff nicht weit. Er ordnet und sortiert, er interpretiert und erklärt. So überrascht es nicht, dass er sich hier und da großer Beliebtheit erfreut. Das mag einerseits an seiner großen Ladungsdichte liegen. Offen und unbefangen fügt er sich bejahend (Generationensolidarität) oder ablehnend (Generationenkonflikt) reibungslos in mannigfaltige Erzählungen, ohne auf Verwendungsformalität und Kriterien wissenschaftlicher Methodik angewiesen zu sein. Andererseits kommen ihm gewisse administrative Qualitäten darin zugute, eine vermeintliche Ordnung zu schaffen, wo keine ist. Neben derart kursierenden populären Verwendungsweisen des Generationenbegriffs treten inkommensurable wissenschaftliche Zugriffe, die jeweils unterschiedlichen Forschungsparadigmen folgend auf differenten Ordnungslogiken und Analysekategorien basieren. Die bezeichnete Gemengelage spiegelt sich auch im inhaltlichen Spektrum des vorliegenden Heftes wider. Grob umrissen lassen sich zwei Perspektiven konturieren, die im Spannungsfeld von erziehungstheoretisch-anthropologischen und sozialethischen Diskursen angesiedelt sind. In einem ersten mikrosoziologischen Zuschnitt geht es um die Frage pädagogischer Beziehungen unter den Bedingungen unterschiedlicher Medienerfahrungen und -praxen. Die Gedankengänge fußen hier unter anderem auf der Prämisse, dass durch die Erfahrungsdifferenzen der Vertreter*innen unterschiedlicher Alterskohorten tradierte LehrLern-Konstellationen brüchig werden und mithin neue Formen der pädagogischen Reziprozität erfordern. In einem zweiten Zuschnitt finden sich Beiträge, die ihren Blick auf ethische Fragen der Verantwortung und Gerechtigkeit der Generationen richten. Gefragt wird hier beispielsweise, welchen Stellenwert digitale Medienpraktiken für die kommunikative Selbstverständigung und Identitätsausformung sozialer Protestgemeinschaften im Kontext aktueller Klimadebatten haben und wie Fragen der Verantwortung und Gerechtigkeit über mediale Praktiken intergenerationell verhandelt werden.
Generationen und Medienpraxiskulturen in pädagogischen Beziehungen
Die Denkfigur, neue mediale und digital-mediale Entwicklungen an die Entstehung neuer Generationengestalten zu koppeln, hat sich nicht nur in populärwissenschaftlichen Diskursen hartnäckig etabliert. Generation@, Windows Generation, Generation SMS, Generation WEB 2.0, Generation Twitter... fortlaufend wächst die Innovationskette um ein neues Generationenglied. Solche Periodisierungen dienen gern als Modell, die Auswirkungen gesellschaftlicher Transformationsprozesse zu erklären, indem gleichartige Wirkungen unterstellt und als kollektive Erfahrungen gedeutet werden; sie konstruieren aber auch Identitäts-und Verhältnismuster, die auf einen sehr willkürlich definierten Ursprung verweisen. Ein aktuelles Beispiel: Die sogenannte Generation Z der Geburtenjahrgänge zwischen 1995 und 2010, also die heute Zwölf- bis 29-Jährigen, weisen im Vergleich aller Kohorten die höchste Brutto-Nutzungsdauer für Video, Audio, Text und Internet auf. Bei der Geburtsdekade 2000 bis 2009 steigt die Videonutzung noch einmal an. Dieser interessante Kohorteneffekt wird von den Forscher*innen der ARD/ZDF-Massenkommunikation mit dem Schlagwort „Generation Video“ belegt (Egger et al., 2021, S. 290). Solche und ähnliche Begriffsstrategien sind typisch für „essayistische Generationenkonzepte“ (Schäffer, 2003). Dass der Generationenbegriff als analytische Kategorie im Rahmen dieser, auf sogenannten APCModellen (age period cohort) basierenden, quantitativen Mediennutzungsforschungsansätzen bewusst (und dort mit plausiblen Gründen) keine Verwendung findet, wird ausgeblendet. Eine solche essayistische Verwendungsweise des Generationenbegriffs begegnet aufmerksamen Beobachter*innen im Kontext der Mediennutzung allenthalben. Aus aktuellen Daten zu Nutzungsgewohnheiten und -präferenzen unterschiedlicher Alterskohorten werden nicht nur Generationenzugehörigkeiten und -ausgrenzungen definiert, sondern auch Medienkompetenzen und -inkompetenzen antizipiert und problematisiert. Unter den Vorzeichen des beschleunigten medialen Wandels erfahren Medienerfahrungen und ihre vermeintlich generationsspezifische Prägung seit den 1990er-Jahren eine zunehmende Problematisierung im Hinblick auf pädagogische Beziehungsverhältnisse. Angesichts der sich abzeichnenden Differenzen im Medienhandeln wird dabei hinterfragt, inwiefern Erziehungsverantwortliche den Herausforderungen der familialen Medienerziehung oder der Ausgestaltung des schulischen Lernalltags gewachsen sind. Eine empirisch fundierte Differenzierung der in diesem Zusammenhang oft holzschnittartig zugewiesenen Generationenprägungen bieten die Beiträge von Dertinger und Lieder. Zentral ist dabei einerseits der Rekurs auf den inzwischen als kanonisch geltenden Beitrag Karl Mannheims zum „Problem der Generationen“ (1928) und dessen (posthum veröffentlichte) kultursoziologischen Abhandlungen zu konjunktiven Erfahrungsräumen und andererseits die Weiterentwicklung dieser Überlegungen zum Konzept der generationsspezifischen Medienpraxiskulturen von Burkhard Schäffer (2003).
Anhand narrativ ausgerichteter, leitfadengestützter Interviews an bayerischen Sekundarstufen untersucht Andreas Dertinger, wie Lehrpersonen verschiedener Alterskohorten den digitalen Wandel erleben und welche Orientierungen damit im Kontext des eigenen professionellen Handelns verbunden sind. Seine Ergebnisse belegen zwar die Relevanz konjunktiver Erfahrungen; sie machen aber auch deutlich, dass diese nicht im Sinne einer damit einhergehenden einheitlichen pädagogischen Grundhaltung zu interpretieren sind. Vielmehr ist von einer fortwährenden Entwicklung pädagogischer Wertevorstellungen und Einstellungen über die pädagogische Laufbahn hinweg auszugehen, die nicht homogen verläuft, sondern biografisch variiert. Auch legen die Ergebnisse der explorativen Studie nahe, dass neben der Dimension Generation künftig auch weitere Differenzierungsdimensionen, beispielsweise kulturelle oder geschlechtsspezifische Aspekte konjunktiver Erfahrungen stärker forschungspraktisch zu berücksichtigen sind. Dass sich unterschiedliche Erfahrungen im Umgang mit (digitalen) Medien auch in den professionsbezogenen Einstellungen von Sozialwissenschaftler*innen niederschlagen, zeigt der gleichsam empirisch fundierte Beitrag von Fabio Lieder. Ausgehend von aktuellen methodischen und forschungsethischen Debatten in den Sozialwissenschaften geht er der Frage nach, wie ältere und jüngere Sozialwissenschaftler*innen den Einsatz von KI-basierten Sprachmodellen in der qualitativen Forschung wahrnehmen. Die dokumentarische Auswertung von Gruppendiskussionen mit Vertreter*innen unterschiedlicher Alterskohorten zeigt, dass jüngere, mit KI-gesteuerten Technologien eher vertraute Forscher*innen, eine größere Offenheit zeigen, die Zusammenarbeit zwischen Mensch und KI neu zu definieren und der KI Handlungsfähigkeit zuzugestehen. Im Gegensatz dazu betonen ältere Forscher*innen die Wahrung der menschlichen Autonomie und Expertise und nähern sich der Integration von KI nur vorsichtig an. Neben seinem erkenntnistheoretischen Ertrag offenbart der durch die Reflexion in der Gruppe inspirierte Austausch, wie wichtig der Dialog unterschiedlicher Perspektiven auch für die Weiterentwicklung sozialwissenschaftlicher Forschungsmethoden ist.
Damit wird der Blick auf solche medialen Lern- und Bildungsansätze der Vermittlung von Medienkompetenzen gelenkt, für die „der Bezug auf das Lebensalter bzw. die Generationenzugehörigkeit im Sinne von Altersdifferenz oder Altersgleichheit“ bedeutsam sind (Liegle & Lüscher, 2004, S. 38.). In der Erwachsenenbildung und mehr noch in der Alter(n)sbildung findet sich inzwischen eine Vielzahl von Projekten, die als „Generationenlernen“ (ebd.), als „intergenerative“ (z. B. Schmidt & Tippelt, 2009) oder „intergenerationelle“ (Franz, 2010) pädagogische Praxis das Lernen von-, mit- und übereinander in altersdifferenten Beteiligungskonstellationen anzuregen suchen. In diesen Zusammenhang sind auch die nachfolgenden Beiträge zu verorten.
Ausgehend von der Popularität, der sich Computerspiele heute in allen Altersgruppen erfreuen, beschäftigt sich Philip Dietrich in seinem Beitrag mit der Frage, inwiefern Videospiele Gelegenheiten des generationenübergreifenden moralischen Lernens bieten. Auf der Grundlage einer quantitativen Studie zu altersspezifischen Motiven des Spielens kommt er zu dem Ergebnis, dass sich die Vertreter*innen aller Alterskohorten für ihre Handlungen in Videospielen verantwortlich sehen, die jüngeren Befragten jedoch eher dazu neigen, moralische Dilemmata in virtuellen Handlungswelten in die Realität zu übertagen. In den je unterschiedlichen Perspektiven der Beteiligten sieht der Autor ein besonderes Potenzial für die pädagogische Förderung moralischer Handlungsfähigkeit (Moral Agency), insofern hierdurch ein lebensweltliches Erfahren andersartiger kultureller Strukturen der Weltwahrnehmung angeregt werden kann.
Dass der Austausch über differente mediale Erfahrungen zwar das Potenzial hat, Bildungsprozesse im Sinne eines Perspektiven- und Orientierungswechsels anzuregen, sich eine solche Dynamik aber nicht per se und selbstläufig vollzieht, zeigt der Beitrag von Friedrich Wolf, Miranda Leontowitsch und Natalie Merkel. Die Autor*innen referieren Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitung eines intergenerationellen Praxisprojekts, in dem sich Jugendliche und ältere Menschen Wissen über Funktion und Einsatzmöglichkeiten von Künstlicher Intelligenz angeeignet haben. In der Reflexion ihrer, aus teilnehmenden Beobachtungen und Gruppendiskussionen gewonnenen, Befunde kommen die Autor*innen zum Schluss, dass das gemeinschaftliche Arbeiten sowohl Partnerschaftlichkeit als auch Alteritätserfahrungen nach sich zog. So wurde das Lebensalter von den Teilnehmer*innen in unterschiedlichen Kontexten immer wieder selbst als zentrale Differenzkategorie reproduziert. Gleichzeitig beschreiben die Autor*innen aber auch eine durch Differenzerfahrungen angeregte Relationierung und Perspektivierung von Altersbildern, die sie in Anlehnung an Franz (2010) als nicht intendiertes Übereinander-Lernen fassen.
Essayistische Generationenkonzepte haben immer auch dort Konjunktur, wo sich gesellschaftliche Streitfragen an differenten Weltanschauungen, Gesellschaftsentwürfen und Lebensorientierungen entzünden. Besonders deutlich wird dies an den medialen Debatten um den globalen Klimawandel und den damit virulenten Fragen von Gerechtigkeit und Verantwortung. Bekanntermaßen sind diese Auseinandersetzungen auch durch kollektive Selbst- (Letzte Generation) und Fremdthematisierungsformeln (Generation Greta versus Baby-Boomer-Generation) geprägt, die vor allem in digitalen Räumen kursieren und hier verhandelt werden. Mirja Silkenbeumer, Julia Becher, Rhiannon Malter, Juliane Engel und Jakob Schreiber zeigen, dass Generationalität im Kontext des Klimaprotests eine doppelte Bedeutung innehat, einerseits als expliziter Aushandlungsgegenstand hinsichtlich einer kommunikativen Selbstverständigung und Identitätsausformung und anderseits hinsichtlich der Auseinandersetzung mit Fragen der Verantwortung und Gerechtigkeit im Verhältnis der Generationen. Unter Einbezug der Analysedimension Generationalität untersuchen die Autor*innen am Beispiel eines TikTok-Videos von Fridays for Future, wie strukturelle Generationserfahrungen und Aushandlungsprozesse von generationaler Verantwortung in jugendkulturellen Räumen verarbeitet, bearbeitet und gestaltet werden. Dabei wird einerseits das Verhältnis der eigenen Lebensperspektiven in Abgrenzung zu vorherigen Generationen bestimmt, andererseits eine antizipierende Bezugnahme auf nachfolgende Generationen hergestellt.
Das Bewusstsein für die eigene generative Verantwortung ist nicht nur, so zeigen die Ausführungen von Jane Lia Jürgen, für junge Menschen ein gewichtiger Beweggrund, sich aktiv in Klimadebatten einzubringen und in einen altersübergreifenden Austausch zu treten. Im Rahmen ihrer explorativen Studie geht die Autorin der Frage nach, welchen Stellenwert die intergenerationelle Weitergabe von Nachhaltigkeit in Familien der for-Futur-Bewegung hat und inwiefern diese durch und in Medien (mit-)bestimmt ist. Dabei zeigt sich, dass sich die gemeinsame Auseinandersetzung mit Zukunftsfragen immer auch im Modus eines biografischen Vergleichs als wichtiger Bezugshorizont der interaktiven Verständigung vollzieht. Familiale Medienpraktiken stehen auch im Zentrum der Ausführungen von Maja Michel. Die Autorin erörtert Fragen der Verantwortung in Auseinandersetzung mit einer Alltagspraxis, die in vielen Familien selbstverständlich ist – die bildmediale Dokumentation und Veröffentlichung familialer Alltagserfahrungen in Social-Media-Netzwerken (Sharenting). Inwiefern unterwandern digitale Praxen der fremdinitiierten Identitätsdarstellung das Recht des Kindes auf eine offene Zukunft? Inwieweit ist eine Mitbestimmung von Heranwachsenden an elterlichen Medienpraktiken notwendig und möglich? In ihrem Beitrag reflektiert die Autorin Facetten einer Ethik der Eltern-Kind-Beziehung im Spannungsfeld von kindlichem Schutz auf der einen und Autonomieermöglichung auf der anderen Seite.
Der Zusammenhang von Verantwortung, Missbrauch und Selbstbestimmung steht auch im Mittelpunkt der Ausführungen von Susanne Lang, Michelle Terschi und Nora Wunder. Erkenntnisleitend ist hier die Frage, welche Potenziale digitale Kommunikationsformen für die biografische Selbstreflexion und Selbstermächtigung von Betroffenen sexualisierter Gewalt haben (können) und wie diese über kollaborative Formen der verarbeitenden Auseinandersetzung vollzogen werden. Anders als in den häufig isolierten Settings der Traumaufarbeitung und -therapie ermöglichen Kommunikationsplattformen wie Foren und Blogs vielfältige und vielgestaltige Möglichkeiten der Artikulation und des Teilens erlittener Erfahrungen. Anhand exemplarischer Falldokumentationen ihrer Netzwerkanalyse zeigen die Autor*innen, dass sich Betroffene über den konjunktiven Erfahrungsraum digitaler Verständigungsformate nicht nur über ihre geteilten Erfahrungen austauschen; über neue bildsprachliche Codes der Artikulation vergewissern sie sich im Sinne eines „doing childhood“, „doing gender“ und „doing future“ ihrer Kindheitserfahrungen gleichsam neu.
Was bleibt?
Gibt es einen medienpädagogischen Generationenbegriff und wenn ja, wo ist dieser ideengeschichtlich und konzeptionell zu lokalisieren und wie ist es um seine theoretische Sinnhaftigkeit bestellt? Christian Swertz schlägt eine klare Antwort vor. In seinem Beitrag vertritt er die These, dass es keinen sinnvollen medienpädagogischen Generationenbegriff gibt und dass es auch nicht sinnvoll ist, einen medienpädagogischen Generationenbegriff zu bestimmen. Ob man so weit gehen will, seine Relevanz grundsätzlich in Frage zu stellen oder gar ad absurdum zu führen, sei dahingestellt. Nicht zu übersehen ist, dass es um seine theoretische Substanz ebenso wie seine methodologisch-methodische Operationalisierung nach wie vor eher schlecht bestellt ist. Die mangelnde theoretische Fundierung setzt sich nicht zuletzt in der (medien-)pädagogischen Praxis fort. Intergenerationelles Lernen folgt hier häufig einer sehr dichotomen Grundanlage: Schüler*innen erklären Senior*innen das Internet, Eltern spielen unter pädagogischer Anleitung ihrer Kinder Computerspiele, Senior*innen berichten in Filmprojekten über ihre Vergangenheit...
Zweifelsohne werfen die im Heft versammelten Beiträge grundlegende Fragen zur Debatte um den Generationenbegriff in Medienpädagogik und -forschung auf. Ob nebeneinander liegende Kohorten tatsächlich handlungsleitende kollektive Orientierungen hinsichtlich digitaler Medien und KI, das unterrichtliche Handeln mit Medien oder den Umgang mit gesellschaftspolitischen Fragen haben, wird sicher noch zu untersuchen sein. Immerhin vermögen es allenfalls Panelstudiendesigns mit hohen Laufzeiten (20 Jahre und mehr!), eine valide Auskunft über entsprechende generationale Orientierungen zu geben. Für Wissenschaftler*innen, die nicht in entsprechenden Panelprojekten arbeiten, stellt sich die Frage, inwiefern hier beispielsweise synchrone Querschnittsanalysen von Angehörigen unterschiedlicher Geburtsjahrgänge erfolgversprechend sind, die auf retrospektive, zum Beispiel medienbiografische Erzählungen rekurrieren. Oder wäre es erfolgversprechender, Gruppendiskussionen mit gemischten Altersgruppen zu realisieren, in denen etwaige generationale Differenzen im Diskursverlauf zur Sprache kommen? Dies sind nur zwei Beispiele für eine weiterführende Thematisierung methodisch-methodologischer Probleme. In der Mehrheit stimmen die Autor*innen dieses Heftes darin überein, dass die Generationendimension allein als hermeneutischer Schlüssel wenig geeignet ist, die sich stellenden Fragen unserer Zeit theoretisch und empirisch in den Griff zu bekommen. Nicht zuletzt besteht in einer vorschnellen Auslegung generationeller Zusammenhänge die Gefahr, die Vielschichtigkeit und Diversität soziokultureller Wirklichkeit und mithin die Interdependenz unterschiedlicher Analysekategorien zu nivellieren. In Mannheims Generationenmodell ist diese Interdependenz in der Differenzierung von Generationslagerungen, -einheiten und -zusammenhängen bereits angelegt: Zum Beispiel ist die eingangs genannte Generation Z in sich keineswegs homogen. Die Alterskohorten der 1995 bis 2010 Geborenen differieren etwa im Hinblick auf ethnische oder Geschlechterzugehörigkeiten oder hinsichtlich ihres Bildungs- und Herkunftsmilieus. So unterscheiden sich beispielsweise die generationalen Erfahrungen einer 25-jährigen Frau mit ‚Migrationsgeschichte‘, aufgewachsen in einem sogenannten sozialen Brennpunkt ohne Schulabschluss vermutlich maximal von jenen ihrer autochthonen Altersgenossin, die in einem bildungsbürgerlichen Milieu aufgewachsen ist und gerade ihren Masterabschluss absolviert. In Mannheims Modell generationaler Erfahrungssedimentation schlägt sich dies in verschiedenen Generationseinheiten nieder. Diese Einheiten können einen völlig konträren Blick auf Themen entwickeln, die in der Gesellschaft verhandelt werden. Aufeinander bezogen besteht die Möglichkeit, einen Generationszusammenhang auszubilden. Allerdings müssen diese Zusammenhänge freilich empirisch überprüft und dürfen nicht ex ante gesetzt werden. Welche Rolle hierbei differierende Medienpraxen und darauf fußende Erfahrungen innerhalb solchermaßen bestimmten Generationseinheiten spielen und wie mediale Repräsentationen zur Bildung von Generationen zusammenhängen beitragen können, steht unseres Erachtens noch aus. In dem vorliegenden Heft sind erste Analyseansätze zu erkennen. Vor diesem Hintergrund bleibt aus unserer Sicht jedoch die weitere grundlagen- und gegenstandstheoretische und vor allem empirisch fundierte (Neu-?) Vergewisserung des Generationenbegriffs weiterhin auf der Tagesordnung.
Literatur
Egger, A.; Gattringer, K. & Kupferschmitt, T. (2021). Generationenprofile der Mediennutzung im digitalen Umbruch. In Media Perspektiven 05/2021, S. 270–291.
Franz, J. (2010). Intergenerationelles Lernen ermöglichen: Orientierungen zum Lernen der Generationen in der Erwachsenenbildung. W. Bertelsmann.
Hurrelmann, K. & Albrecht, E. (2020). Generation Greta: Was sie denkt, wie sie fühlt und warum das Klima erst der Anfang ist. Beltz.
Mannheim, K. (1928). Das Problem der Generationen, in: Kölner Vierteljahrshefte für Soziologie 7, S. 157–185, 309–330.
Liegle, L. & Lüscher, K. (2004). Das Konzept des „Generationenlernens“ – In Zeitschrift für Pädagogik 50 (2004) 1, S. 38–55.
Schäffer, B. (2003). Generationen – Medien – Bildung. Medienpraxiskulturen im Generationenvergleich. Leske und Budrich.
Schäffer, B. (2009). Mediengenerationen, Medienkohorten und generationsspezifische Medienpraxiskulturen. Zum Generationenansatz in der Medienforschung. In B. Schorb, A. Hartung, W. Reißmann (Hrsg.), Medien und höheres Lebensalter. Theorie – Forschung – Praxis. VS-Verlag, S. 31–50.
Schmidt, B.; Tippelt, R. (2009). Bildung Älterer und intergeneratives Lernen. In: Zeitschrift für Pädagogik 1/55, S. 74–90.
Winkler, M. (1999). Erziehung und sozialer Wandel. Brennpunkte sozialpädagogischer Forschung, Theoriebildung und Praxis. Beltz 1999, S. 51–68
Gespräch mit Thomas Krüger, Bundeszentrale für politische Bildung (bpb): Das Verhältnis von Medienpädagogik und politischer Bildung
Welche Bedeutung haben Medien im Kontext des Politischen? Wie werden Informationen über die demokratische Gesellschaft in diesem Zusammenhang vermittelt? Und wie ist die Medienpädagogik in der politischen Bildung verortet? Diesen und weiteren Fragen gehen Thomas Krüger und Bernd Schorb in ihrem Gespräch nach.
Susanne Eggert/Andreas Lange/Bernd Schorb: Editorial: Soziale Ungleichheit 4.0. Polarisierungen der Sozialstruktur und die Rolle der Medien(-pädagogik)
Das die Soziologie seit ihren Anfängen begleitende Dauerthema soziale Ungleichheit als analytische Vermessung der Ressourcenverteilung innerhalb einer Gesellschaft (Huinink/Schröder 2019) und das sozialphilosophische Begleitkonstrukt soziale Gerechtigkeit als normative Richtschnur der Verteilung von Gütern erleben seit geraumer Zeit eine intensivierte Zuwendung in den verschiedenen gesellschaftlichen Teilöffentlichkeiten. Hintergrund für diese neue Aufmerksamkeit sind zum einen massive sozialstrukturelle Verwerfungen, die ihre unübersehbaren Spuren auch im Ungleichheitsgefüge auf globaler wie nationaler Ebene hinterlassen, als auch vermehrte wissenschaftliche und publizistische Anstrengungen, diese Entwicklungen zu beschreiben, zu verstehen und eventuell ansatzweise zu verändern. Auf internationaler Ebene haben insbesondere die voluminösen Veröffentlichungen des französischen Ökonomen Thomas Piketty (2013; 2020; s. auch Alvaredo et al. 2018) die Debatte enorm befeuert: In seiner ersten großen Publikation belegt er auf der Basis von Steuerdaten den historischen Verlauf von sozialer Ungleichheit in der westlichen Welt mit dem für uns wichtigen Befund, dass ein zwischenzeitliches Absinken der sozialen Spreizung von Vermögen und Einkommen bis etwa 1980 massiv konterkariert wird durch eine enorme Polarisierung in der Reichtumsverteilung zwischen ‚ganz unten‘ und ‚ganz oben‘. Die Gründe dafür sind ganz klar in der neoliberalen Restrukturierung des Wirtschaftslebens und der Vermarktlichung der Gesellschaft zu sehen, nicht zuletzt in einer unglaublichen und atemberaubenden, um nicht zu sagen einfach unverschämten Bevorteilung der ohnehin Privilegierten durch das Steuersystem, wie Saez/Zucman (2020) detailreich und entlarvend exemplarisch für die USA nachzeichnen. Neben der Rekonstruktion der jeweiligen Struktur der Ungleichheit spielt die Legitimation, die Begründung der ungleichen Verteilung eine fundamentale Rolle. Und das ist ein wichtiges Thema, das Piketty (2020, S. 22) in seiner jüngsten Publikation behandelt. Er spricht von der jeweiligen Ideologie der Ungleichheit – Ideologien verstanden als machtstabilisierende Formen der Wissens- und Rhetorikproduktion und als eigenständige Sphäre, die es sozialwissenschaftlich zu beachten gilt: „Dieser Ansatz unterscheidet sich von zahlreichen konservativen Diskursen, die uns erzählen wollen, Ungleichheit sei ‚naturgegeben‘. Es verwundert kaum, dass in ganz unterschiedlichen Gesellschaften, zu allen Zeiten und unter allen Breitengraden die Eliten es darauf anlegen, Ungleichheiten zu naturalisieren, also so zu tun, als hätten diese natürliche und objektive Gründe, um uns darüber zu belehren, die sozialen Ungleichgewichte seien nur zum Besten der Ärmsten und der Gesellschaft überhaupt …“ Dass diese Ideologien heute noch auf breite Resonanz stoßen, zeigen soziologische Umfragebefunde: Man stuft sich gerne hierzulande „in der Mitte“ ein (Beckers 2020) und zementiert so die unhinterfragte gesellschaftliche Hierarchie.
Und spätestens hier kommen die alten und die neuen Medien, die Medienwissenschaften und nicht zuletzt die Medienpädagogik ins Spiel, die aber auch über diesen Zusammenhang hinaus relevant werden:
- Alte und neue Medien können auf der inhaltlichen wie auf der formalen Ebene dazu genutzt werden, die elitenproduzierten Ideologien zu verbreiten oder sie zu relativieren.
- Der Mediengebrauch von Individuen, Mitgliedern sozialer Schichten bzw. Milieus steht in einem engen Zusammenhang mit Aspekten der sozialen Ungleichheit bzw. kann soziale Ungleichheit reproduzieren, verfestigen, aber eventuell auch modifizieren. Dies gilt in besonderer Weise auch vor der Folie der zunehmenden Digitalisierung aller Lebensbereiche.
- Die Medienwissenschaften im weitesten Sinne behandeln immer auch, wenn auch nicht schwerpunktmäßig, konzeptionell und empirisch, soziale Ungleichheiten, nicht zuletzt die Analyse der Repräsentationen von sozialer Ungleichheit entlang der Kategorien Schicht/Milieu, Geschlecht, Ethnizität.
Soziale Ungleichheit als Thema in der Medienpädagogik
In der Medienpädagogik spiegelt sich die Diskussion um soziale Ungleichheit, die in der BRD seit langem und mit Fug und Recht geführt wird, unter zwei Gesichtspunkten wider. Hier geht es erstens um die Frage nach der Aneignung von Medieninhalten, zweitens um die Frage der potenziellen Aneignung technischer Medien. Bis heute, etwa im Kontext von Streamingangeboten oder Internetplattformen, wird mit Medien konnotierte Ungleichheit als Ungleichheit der Nutzung von medialen Angeboten gefasst. Mit Blick auf Kinder und Jugendliche werden mögliche Wirkungen der Medien auf Denken und Handeln sowie auf die Entwicklung der Heranwachsenden analysiert. Eine zentrale Rolle spielten Gewaltdarstellungen im Film bzw. Video, im Fernsehen sowie in Computerspielen (vgl. Theunert 1996; Hausmaninger/Bohrmann 2002). Hier wurde vor allem herausgestellt, dass gesellschaftlich unterprivilegierte Personen, die selbst zu Gewaltanwendung neigen, auch eher bereit sind, mediale Gewaltdarstellungen als Vor-Bilder zu akzeptieren. Diese Frage nach der Wirkung medialer Gewalt wird heute trotz oder wegen der unübersehbaren Masse digitaler Angebote kaum noch gestellt. Über vier Dekaden, in denen diese Frage im gesellschaftlichen Diskurs, nicht nur im medienpädagogischen, wichtig war, wurde einerseits eine große Anzahl von Untersuchungen durchgeführt und es wurden andererseits Modelle entwickelt, um negativen Effekten medialer Botschaften entgegenzutreten, prophylaktisch durch Aufklärung oder verhindernd durch Jugendschutzmaßnahmen.
Allgemein wurden in der kommunikationswissenschaftlichen bzw. medienpädagogischen Forschung Verbindungen von sozialen Unterschieden und Medienaneignung untersucht. „Generell kann gesagt werden: je niedriger das Alter, der soziale Status und das Bildungsniveau, desto undifferenzierter ist die Mediennutzung“. Diese Aussage, die Baacke, Frank und Radde 1989 (S. 115) als Resümee einer ihrer Untersuchungen getroffen haben, ist im Kern heute noch gültig (vgl. Stegbauer 2012).
Neben der Frage nach unmittelbaren Wirkungen medialer Inhalte wurde mit zwei Schwerpunkten auch gefragt, welchen Einfluss das Medienensemble auf die Gesellschaft hat, ob und inwieweit die Medien selbst soziale Ungleichheit verstärken. Da ist zum einen die Theorie der Wissenskluft. Sie beinhaltet die Annahme, dass Bildungsprivilegierte im Gegensatz zu Bildungsbenachteiligten Medieninhalte nutzen, um ihr Wissensrepertoire zu erweitern und auf diese Weise ihre privilegierte Position stärken und die Kluft hin zu den Benachteiligten vergrößern zu können. Diese Theorie hat Müller (2019) bezüglich Social Media differenziert und aktualisiert. Die zweite Theorie, die der digitalen Kluft, ist verknüpft mit der Computerisierung der Gesellschaft. In diversen Varianten stellt sie im Kern die Behauptung auf, dass zum einen die Beherrschung der Rechner und ihrer Programme Privilegierte, die das hierfür notwendige Wissen vermittelt bekommen haben, weiter privilegiert und dass diejenigen, die den Zugang zu Soft- und Hardware haben, in einer mediatisierten Gesellschaft über Herrschaftswissen verfügen, welches sie wiederum privilegiert und die Kluft zwischen Handlungsmächtigen und dem Rest der Bevölkerung vertieft. Allerdings ist diese Theorie heute mit der allgemeinen Verfügbarkeit von Rechnern und bezogen auf die Masse konfektionierter Unterhaltungsprogramme, im Internet wie im Fernsehen, umstritten (Arnhold 2003). Jenseits des Unterhaltungssektors aber hat gerade die Corona Krise gezeigt, dass es im Bildungsbereich sehr wohl eine digitale Spaltung gibt. Die Schließung der Schulen und die Verlagerung des Lernens als digitales ins Internet verschärft die Benachteiligung Heranwachsender in prekären Lebensverhältnissen, die zu Hause keinen Computer besitzen, nicht zuletzt, weil sie hierfür keine staatliche Unterstützung erhalten. In sozialen Brennpunkten mehrerer Städte der Bundesrepublik werden Schüler*innen hierdurch vom digitalen Unterricht ausgeschlossen. Hier wird die digitale Spaltung durch staatliche Maßnahmen nicht allein verstärkt, sondern auch geschaffen.
Dieses aktuelle Beispiel verweist auch darauf, dass mediale Ungleichheit immer gebunden ist an soziale Ungleichheit als Kennzeichen der Gesellschaft sowie darauf, dass sie dort ihre primären Ursachen hat. Dem tragen neuere medienpädagogische Projekte Rechnung, etwa die Arbeit von Ingrid Paus-Hasebrink (2014). Sie ist auch in diesem Heft mit einem grundlegenden Artikel vertreten. In dem Sammelband Medien. Bildung. Soziale Ungleichheit (Theunert 2010) werden Medien im Kontext analysiert und dargestellt. Bezugspunkte sind hier die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in ihrer Einwirkung auf Sozialisation und Bildung. Herausgestellt sind die Familie, die Gleichaltrigen, die Schule, die Medien, sowie das Bildungssystem als Chancenverteiler. Diese neueren Ansätze tragen dem Fakt Rechnung, dass die Medien heute integraler Bestandteil der Lebenswelt sind, von dieser wiederum einerseits selbst bestimmt werden, insofern sie in das ökonomische und politische System des globalen Kapitalismus eingebettet sind und andererseits es in der Einwirkung auf die gesellschaftlichen Subjekte legitimieren und zementieren.
Soziale Ungleichheit und Medien: Verantwortlichkeiten und Herausforderungen
Vor dieser Folie beabsichtigen wir mit diesem merz-Themenheft, das Thema soziale Ungleichheit und Medien systematisch im Schnittpunkt von Sozialpolitik, allgemeiner Sozialwissenschaft, Medienwissenschaft und insbesondere Medienpädagogik diskursiv voranzutreiben: Den Auftakt macht der seit langem sich immer wieder in die Diskurse über Ungleichheit und vor allem der Extremform Armut einschaltende Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge. Er beleuchtet in einem historischen Panorama die aus seiner Sicht eher unrühmliche Rolle, die Publizistik und Massenmedien in der Auseinandersetzung mit dem sozial schiefen Verteilungsgefüge seit der Nachkriegszeit gespielt haben. Insbesondere legt er die rhetorischen Strategien zur Individualisierung – Orientierung an Einzelfällen, Ausblenden struktureller Zusammenhänge – des Problems, damit der Ablenkung von den auch sozial und politisch von Menschen gemachten politischen Verhältnissen, schonungslos frei.
Diese an der gesellschaftlichen Makroebene angesiedelte Analyse von Christoph Butterwegge ergänzt Ingrid Paus-Hasebrink durch eine dezidiert mehrebenenanalytische Betrachtungsweise: Sie berichtet über das von ihr geleitete Panel zur Mediensozialisation Heranwachsender in benachteiligten Lebenslagen. Die Analyse des Ineinandergreifens von Sozialstruktur und Familie wird hier über die drei Konzepte Handlungsoptionen, Handlungsentwürfe und Handlungskompetenzen geleistet. Es kristallisiert sich aus der Ergebnisdarstellung ein Zusammenhang heraus, der auch aus anderen Forschungsgebieten wie zum Beispiel der Armutskonsequenzenforschung belegt ist: Sozioökonomische Benachteiligung führt zu Stress und Überforderung der Eltern, die aus diesem Grund nicht mehr über die Aufmerksamkeit und Feinfühligkeit verfügen, die notwendig sind, um eine liebevolle und lenkende Erziehung ihrer Kinder zu bewerkstelligen. Natürlich handelt es sich nicht um einen kausalen Automatismus, weil Persönlichkeitseigenschaften der Eltern und soziale Unterstützungsnetzwerke den Zusammenhang abfedern können. Gleichwohl ist tendenziell festzuhalten, dass gerade heute in Zeiten der ubiquitären Mediatisierung eine so anspruchsvolle Erziehungsaufgabe wie die Vermittlung von Medienkompetenz in der Familie wesentlich durch das Zusammenspiel sozialer, kultureller und ökonomischer Kapitalien beeinflusst wird und damit die Chancen auf gesellschaftliche Teilhabe auch an dieser Stelle ungerecht verteilt sind. Einer der wichtigsten Faktoren mit Blick auf gesellschaftliche Teilhabe ist der Bildungshintergrund bzw. die eigene Bildung.
Heidrun Allert setzt sich in ihrem Artikel damit auseinander, wie algorithmische Strukturen und Prozesse zunehmend auch in Bildungsprozesse Eingang finden und auf diese Einfluss nehmen. Sie macht deutlich, dass es das Wesen von Algorithmen ist, Ungleichheiten aufzuzeigen. Welche Konsequenzen damit verbunden sind, ob also Ungleichheiten als gegeben hingenommen und manifestiert werden und damit scheinbar vorgezeichnete Lebens- und Bildungswege noch schwerer zu ändern sind, oder ob das Wissen, das die Algorithmen liefern, dazu beiträgt, Ungleichheiten zu erkennen und vor diesem Hintergrund Weichen zu stellen und damit Chancen zu generieren, ist eine politische und im Bildungsbereich auch eine pädagogische Entscheidung. Entwicklungen und Entscheidungen dürfen nicht den Vorgaben der KI und der algorithmischen Strukturen überlassen werden, sondern müssen umgekehrt genutzt werden, um Freiräume zu schaffen und verantwortungsvoll zu handeln. Immer wenn es brenzlig und prekär wird, hofft man auf die Kavallerie, in unserem Falle also die zuständige Medienpädagogik.
Guido Bröckling attestiert dieser allerdings in seinem Artikel nur wenig Durchschlagskraft in Sachen Ausgleich soziokultureller Benachteiligungen von Kindern. Verantwortlich hierfür macht er sowohl allgemeine konzeptionelle Desiderata als auch praxisbezogene Leerstellen. Erstens moniert er, dass das Konzept von Medienkompetenz instrumentalistisch verkürzt neoliberalen Interessen im Sinne einer Zuschneidung auf ökonomische Verwertbarkeit geopfert und das Motiv der Unterstützung der emanzipatorischen Subjektbildung unterlaufen werde. Zweitens führe die Nichtreflexion des eigenen gesellschaftlichen Status‘ und damit verbundenen medialen Habitus‘ dazu, dass die genuinen Interessen der weniger privilegierten Kinder und Jugendlichen in den Projekten der Medienpädagogik nicht angemessen berücksichtigt werden und daher auch ein geringer Grad der Beteiligung seitens dieser Gruppe vorprogrammiert ist. Gleichzeitig müssten aber wirklich kompetenzfördernde Angebote für diese Zielgruppe auch deren Habitus überschreiten und Neues bieten – eine Ambivalenz, welche die Schwierigkeit emanzipatorischer Medienarbeit gut umreißt. Schließlich spricht der Autor weitere unhintergehbare Rahmenbedingungen für die ungleichheitssensible Bildungsarbeit an, die in technischen Ausstattungsmerkmalen und vor allem in Zeit und Vertrauen zu sehen sind.
Dass es durchaus schon Schritte in diese Richtung gibt, illustrieren die sich anschließenden Beiträge, die ihren Blick aus einer praktischen Perspektive auf das Thema richten. Mit ‚schwer erreichbaren Familien‘, was es so schwer macht, sie zu erreichen und wie dies aber doch gelingen kann, beschäftigt sich Katrin Schlör in ihrem Artikel. Als zentrale Hürde beschreibt sie den normativen Blick auf die Medienpraktiken der Familien, mit dem diese isoliert von den jeweiligen Lebenslagen betrachtet würden. Genau diese sind es aber, an denen angesetzt werden muss. Die individuellen Lebenslagen und die damit verbundenen Ressourcen der Familien müssen den Ausgangspunkt für jegliche Unterstützungsleistungen darstellen. Methodisch sind dabei partizipative Formate, die es Familien ermöglichen, sich als diejenigen zu erleben, die ihre Lebens- und Medienwelt gestalten, besonders wertvoll.
Eltern miteinander ins Gespräch über Erziehungsfragen zu bringen, ist eine Herangehensweise niedrigschwelliger Präventionsarbeit, die seit fast 20 Jahren erfolgreich im Projekt ELTERNTALK umgesetzt wird. Der eine Pfeiler des Projekts ist Kommunikation, der andere das Peer-to-Peer-Prinzip. Der Austausch auf Augenhöhe senkt die Hürde, sich mit den eigenen Erfahrungen und Problemen einzubringen. Da über die Jahre zahlreiche Eltern aus anderen Kulturkreisen, die zum Teil auch andere Sprachen sprechen, das Angebot von ELTERNTALK wahrgenommen haben, selbst die Rolle der Gastgeberin oder des Gastgebers übernommen oder sich zur Moderatorin bzw. zum Moderator haben weiterbilden lassen, ist die ELTERNTALK-Community inzwischen groß und vielfältig. Vor diesem Hintergrund und mit diesen Ressourcen gelingt es auch, geflüchtete Eltern zu erreichen. Nataša Eckert und Marianne Meyer beschreiben, welche Schwierigkeiten in diesen Familien im Vordergrund stehen und wie sie durch die ELTERNTALK-Runden unterstützt werden können.
Abschließend wendet sich Florian Seidel der Zielgruppe der jugendlichen Gamer*innen zu. Er macht deutlich, dass Computerspiele im Jugendalter milieuübergreifend eine wichtige Rolle als Kommunikations- und Handlungsraum und für die Identitätsarbeit spielen sowie als „verbindendes Element [fungieren] … und sich durch die heutigen technischen Möglichkeiten als zusätzliches Teilhabeinstrument anbieten.“ (S. 52 f.) Damit könnten sie ein wertvolles Instrument sein, um mit Jugendlichen unabhängig von ihrem sozialen Hintergrund zu arbeiten. Dieses Potenzial wurde und wird in der (außerschulischen) Bildungsarbeit aber nur zögerlich genutzt; solange das Computerspielen keine bessere Lobby bekommt, wird sich daran wohl auch nicht viel ändern.
Welche Aufgaben ergeben sich nun aus unserer selektiven Zusammenstellung von Hot Spots des Zusammenhangs zwischen sozialer Ungleichheit, Medienrezeption und Medienproduktion?
Vonnöten ist im gesamten Bereich der Medien- und Kommunikationswissenschaften eine stärkere integrale und systematische Berücksichtigung sozioökonomischer Variablen und Zusammenhänge, insbesondere auch im interdisziplinären Zusammenspiel mit Ökonomie und Soziologie. Im Feld der praktischen medienpädagogischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen wie auch mit Familien gilt es, Medienangebote auf ihr Potenzial, sozialeUngleichheiten zu nivellieren, abzuklopfen und sie – wie am Beispiel von Computerspielen gezeigt – entsprechend gezielt zu diesem Zweck einzusetzen sowie sich wieder stärker am Konzept der Unterstützung der emanzipatorischen Subjektbildung zu orientieren.
Literatur
Alvaredo, Facundo/Chancel, Lucs/Piketty, Thomas/Saez, Emmanuel/Zucman, Gabriel (2018). Die weltweite Ungleichheit. Der World Inequality Report 2018. München: C.H. Beck.
Arnhold, Katja (2003). Digital Divide. Zugangs- oder Wissenskluft? Internet Research, Band 10. München: Fischer.
Baacke, Dieter/Frank, Günter/Radde, Martin (1989). Jugendliche im Sog der Medien. Medienwelten Jugendlicher und Gesellschaft. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Beckers, Maja (2020). Die Mitte als Extrem. In: Hohe Luft, 2020 (3), S. 37–40.
Hausmanninger, Thomas/Bohrmann, Thomas (Hrsg.) (2002). Mediale Gewalt. Interdisziplinäre und ethische Perspektiven. München: Fink Verlag.
Huinink, Johannes/Schröder, Torsten (2019). Sozialstruktur Deutschlands. 3. Auflage. München: UVK (UTB).
Müller, Patricia (2019). Social Media und Wissensklüfte. Nachrichtennutzung und politische Informiertheit junger Menschen. Wiesbaden: Springer VS.
Paus-Hasebrink, Ingrid/Kulterer, Jasmin (2014). Praxeologische Mediensozialisationsforschung. Langzeitstudie zu sozial benachteiligten Heranwachsenden. Baden-Baden: Nomos.
Piketty, Thomas (2017). Das Kapital im 21. Jahrhundert. München: C. H. Beck.
Piketty, Thomas (2020). Kapital und Ideologie. München: C. H. Beck.
Saez, Emmanuel/Zucman, Gabriel (2020). Der Triumph der Ungerechtigkeit. Steuern und Ungleichheit im 21. Jahrhundert. Berlin: Suhrkamp.
Stegbauer, Christian (Hrsg.) (2012). Ungleichheit. Medien- und kommunikationssoziologische Perspektiven. Wiesbaden: Springer VS.
Theunert, Helga (1996). Gewalt in den Medien – Gewalt in der Realität. Gesellschaftliche Zusammenhänge und pädagogisches Handeln. Reihe Medienpädagogik, Bd. 6. München: kopaed.
Theunert, Helga (Hrsg.) (2010). Medien. Bildung. Soziale Ungleichheit. Differenzen und Ressourcen im Mediengebrauch Jugendlicher. München: kopaed.
Bernd Schorb: Nachruf: Wolfgang Brudny
Dr. Wolfgang Brudny, Mitgründer und Ehrenvorstand des JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis, ist im 95. Lebensjahr von uns gegangen.
Die Medienpädagogik hat Wolfgang Brudny während seines Lebens begleitet und er hat sie aktiv mit getragen. 1949 als Student bei Prof. Martin Keilhacker an der Universität München hat er den Arbeitskreis Jugend und Film e. V., die Keimzelle des heutigen JFF, mitgegründet. Als ein Pionier medienpädagogischer Forschung war er in den folgenden Jahren an den Untersuchungen des Arbeitskreises zum ‚Filmerleben von Kindern‘ maßgeblich beteiligt. Diese Untersuchungen beruhten erstmals auf Methoden der Beobachtung, die das volle Ausdrucksvermögen von Kindern erfassten, also nicht allein an Wort und Schrift gebunden waren. Die Ergebnisse dieser Forschung schlugen sich 1953 nieder in seiner Dissertation: Das Kind zwischen Spielfilm und Schulfilm. Gestaltungsfragen des Unterrichtsfilms im Hinblick auf das außerschulische Filmerlebender Jugend. Die fundierten Kenntnisse, die er sich hier erworben hatte, bestimmten seine weitere berufliche Laufbahn. Bis zu seiner Pensionierung im Jahre 1988 war Wolfgang Brudny am Institut für Film und Bild in Wissenschaft und Unterricht (FWU) erst in München, später in Grünwald tätig. Als Produktionsreferent für Jugend- und Erwachsenenbildung ermöglichte er die wegweisenden Unterrichtsfilme dieses Instituts. Seine Sach- und Fachkompetenz brachte er auch in seine Gutachtertätigkeit in den Gremien der Filmbewertungsstelle der Länder (FBW) und der Freiwilligen Selbstkontrolle (FSK) ein.
Immer war Wolfgang Brudny dem JFF verbunden. Seit der Gründung war er fast durchgängig Mitglied des Vorstands, seit 1999 ist er dessen Ehrenmitglied. In den vielen Jahren hat er aktiv die Entwicklung des JFF begleitet, mit wertvollem Rat, thematischen Ideen und Einordnungen aktueller Entwicklungen in historische Zusammenhänge. Durch seine Beiträge in merz | medien + erziehung haben sein Wissen und seine Anregungen auch die Medienpädagogik in Deutschland bereichert.
In Trauer und mit Dank für seine Verbundenheit – für den Vorstand des JFF e. V. und
die Herausgeberschaft von merz | medien + erziehung
Bernd Schorb, Kathrin Demmler: Wechsel in der merz-Redaktion
Zwei langjährige Redaktionsmitglieder haben sich zum 1. Juli 2019 verabschiedet. Zeitgleich haben Günther Anfang und Albert Fußmann ihre kontinuierliche Arbeit in der Redaktion von merz | medien + erziehung niedergelegt und sind in den Ruhestand gegangen. Günther Anfang wirkte seit Mitte der 1980er-Jahre bei merz mit und verantwortete als Mitglied der ehrenamtlichen Redaktion über 150 Ausgaben unserer Zeitschrift. Allein in den letzten 15 Jahren veröffentlichte er darüber hinaus selbst über 60 Artikel bei merz. Doch Quantität ist nicht alles, auch wenn unsere Zeitschrift davon lebt, dass Menschen unentgeltlich ihre Gedanken zu Papier bringen und auf diese Weise daran mitwirken, dass es alle zwei Monate heißen darf: Eine neue merz ist erschienen.
Günther Anfang steht für Kontinuität und Zuverlässigkeit, vor allem aber auch für Themen. Sein besonderes Steckenpferd sind – sicherlich auch weiterhin – Filme: Kinder- und Jugendfilme, populäre kulturprägende Mainstreamproduktionen, aber vor allem auch kleine Nischenwerke, die sich sowohl mit besonderen gesellschaftspolitisch relevanten Themen befassen und mit einer eigenen, neuen Filmsprache experimentieren. Neben dem Film ist Günther Anfang jedoch immer offen für neue Medienentwicklungen gewesen, wie beispielsweise die vielen Besprechungen von sogenannten Edutainment-Angeboten zeigen. Ein weiteres Kontinuum stellen alle Themen und Einsatzbereiche der aktiven Medienarbeit und in den letzten Jahren vor allem der Einsatz von Medien in der frühen Bildung. Darüber hinaus berichtet Günther Anfang zuverlässig und unterhaltsam von Festivals und Kongressen, beispielsweise der Ars Electronica oder der documenta.
Albert Fußmann unterstützte die ehrenamtliche Redaktion seit 2013. Als Direktor des Institut für Jugendarbeit Gauting und leidenschaftlicher Kulturpädagoge steht er in der Redaktion vor allem für eine multiperspektivische Betrachtung medialer Phänomene und die Beachtung künstlerischer Potenziale von Bildungsprozessen mit und durch Medien. In seinen Artikeln kommt darüber hinaus sein fundiertes Wissen hinsichtlich Sozialisationstheorien und sein Einsatz für umfangreiche Angebote der politischen Bildung zum Ausdruck. Die kritische Betrachtung aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen, die Unterstützung von Teilhabeangeboten für Kinder und Jugendliche sowie die Auseinandersetzung mit politischer Information in den Medien sind gemeinsame Anliegen von Albert Fußmann und Günther Anfang. Dafür treten sie auch in den Redaktionssitzungen leidenschaftlich ein und werden dies auch sicher weiterhin in Beiträgen für merz tun. Denn wir wünschen uns in jedem Falle weiterhin eine gute Zusammenarbeit und Artikel, Kolumnen oder Rezensionen von den beiden scheidenden Redaktionsmitgliedern.
Seit Sommer 2019 wirkt Mareike Schemmerling in der Redaktion mit. Sie hat an der Universität Augsburg Medien und Kommunikation mit dem Schwerpunkt Mediendidaktik studiert und arbeitet seit 2011 als medienpädagogische Referentin am JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis. Zum 1. Juli ist sie in die Fußstapfen von Günther Anfang getreten und hat die Leitung der Abteilung Praxis am JFF übernommen. Ihr besonderes Interesse gilt der aktiven Medienarbeit mit Jugendlichen mit Flucht- oder Migrationserfahrung, dem Einsatz von Medien in verschiedenen Bildungsfeldern, denen sie sich vor allem hinsichtlich der Förderung einer aktiven, aber auch ethisch-reflektierenden Haltung zu aktuellen Social Media-Angeboten widmet. Darüber hinaus bringt sie eine besondere Expertise in der Entwicklung mediendidaktischer Materialien für schulische und außerschulische Jugendarbeit mit. Wir freuen uns sehr über das Interesse von Mareike Schemmerling, an der Redaktion mitzuarbeiten, und danken Günther Anfang und Albert Fußmann herzlich für ihre langjährige Mitarbeit.
Anja Hartung-Griemberg/Bernd Schorb: Flipped Classroom als Ansatz für die pädagogische Praxis
Im Zuge der Digitalisierung finden ständig neue elektronische Medien Einzug in die Klassenräume. Christian Spannagel von der Pädagogischen Hochschule Heidelberg erklärt im Interview mit Bernd Schorb, emeritierter Professor für Medienpädagogik an der Universität Leipzig, und Anja Hartung-Griemberg, Pädagogische Hochschule Ludwigsburg, das Konzept des Flipped Classrooms und dessen Potenziale in verschiedenen Bildungsbereichen.
Anja Hartung-Griemberg/Bernd Schorb: Digitale Bildung oder von der ewigen Wiederkunft der Unvernunft
Was wäre Hiphop ohne Loops? Keine Frage: Er wäre langweilig oder gar überfordernd. Die Redundanz der Tonsequenzen macht das Besondere aus. Musik lebt von der Wiederholung und Wiederholung macht Musik. In der Lerntheorie wird Wiederholung (auch Repetition oder Rekapitulieren) als Voraussetzung dafür verstanden, das Gelernte manifestieren zu können: Repetitio est mater studiorum („Wiederholung ist die Mutter des Studierens“)! Mit der Bildung verhält es sich bekanntermaßen anders. Sie ist das, was übrig bleibt, wenn man das Gelernte vergessen hat. Sie entfaltet sich dann, wenn wir an Grenzen geraten, weil alte Muster sich angesichts neuer Herausforderungen als inadäquat erweisen. Vergegenwärtigen wir uns den Stand der Diskussion um die Konsequenzen der Digitalisierung, hat die Zeitgeschichte offenkundig weder Lernerfolge gezeitigt noch Bildungskräfte entfaltet. Hier wiederholt sich ein überzogener bildungstechnologischer Optimismus, der bereits mehrfach – zuletzt unter dem Label des E-Learning – gescheitert ist. Und abermals wird das Etikett gewechselt. Bildung lautet heute das viel beschworene Schlüsselwort. Auf eine nähere Bestimmung desselben wird in der Regel verzichtet. Rhetorisch gesehen dreht sich das Karussell in Sachen Digitalisierung in Hochgeschwindigkeit. Im Hype um das neue Wirtschaftssystem herrscht Goldgräberstimmung. Und es scheint ebenso ausgemacht, dass die Digitalisierung das gesamte Bildungssystem revolutioniert. Und alte Verheißungen tauchen wieder auf: Anschaulichkeit, individualisiertes, selbstständiges, kollaboratives, fächerübergreifendes, projekt- und handlungsorientiertes Lernen ... Zweifelsohne bergen die mit der Digitalisierung verbundenen Optionen erweiterte Lernmöglichkeiten und gewiss auch Bildungspotenziale. Worin aber besteht der Mehrwert eines neuerlichen Begriffswechsels? Was unterscheidet die digitale Bildung von Medienbildung, was digitale Kompetenz von Medienkompetenz und was schließlich den digital gebildeten Menschen vom allseitig gebildeten? Wo steht die Praxis selbst jenseits populärer Verlautbarungen und was sind konkrete Herausforderungen und Hürden aber auch Möglichkeiten, die mit der Digitalisierung verbunden sind? In der aktuellen merz-Ausgabe beziehen Expertinnen und Experten Stellung. In Abgrenzung zu verbreiteten Engführungen tragen sie dabei einerseits der historisch-gesellschaftlichen Verfasstheit des Bildungsbegriffs Rechnung und sie hinterfragen andererseits seine aktuelle Verwendung und vor allem seine praktische Umsetzung im politischökonomischen Betriebssystem der Gesellschaft.
Eröffnet wird die Auseinandersetzung mit einem Beitrag von Manuel Rühle. Seine historische Rekonstruktion der ideen- als auch sozialgeschichtlichen Aspekte des Bildungsbegriffs bietet eine Hintergrundfolie dafür, die aktuellen Debatten einordnen und in ihrer Relevanz reflektieren zu können. Diesen Versuch unternehmen die nachfolgenden zwei Beiträge. Hans-Dieter Kübler hinterfragt den substanziellen Ertrag euphorischer Debatten um die Bildungszukunft der Gesellschaft. Der Autor erinnert an vergleichbare Diskurse, markiert sinnentleerte Redundanzen und legt dabei den Finger in die Wunden unbedachter Wiederholung. Denn unter der Oberfläche der gegenwärtigen Diskussion um die Chancen der Digitalisierung harren noch viele andere Probleme im Bildungssystem der Bearbeitung. Auch Ralf Vollbrecht setzt sich kritisch mit dem Konstrukt der digitalen Bildung auseinander. In seinem Beitrag beleuchtet er einschlägige Argumentationsführungen der Digitalisierungsstrategie und plädiert angesichts einer fehlendenden Klarheit der Zielsetzung für eine Unterscheidung der Beobachterperspektiven. Denn nur, wenn die Perspektiven von Bildungspolitik, Organisationen, Profession und Lernenden hinreichend differenziert würden, sei es möglich, Interessen- und Zielkonflikte deutlicher herauszuarbeiten.
Die sich anschließenden Beiträge reflektieren das Verhältnis von Soll und Haben aus internationaler Perspektive. In sieben Kurzdarstellungen werfen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Deutschland (Sven Kommer und Christian Spannagel), Österreich (Christine Trültzsch-Wijnen), Tschechien (Zdeněk Sloboda), Schweden (Michael Forsman und Anne Kaun), Südkorea (Jinsuk Kang und Merita Ignatius), Japan (Daniel Diegmann) und den USA (Jennifer Kreß) einen kritischen Blick auf den je spezifischen Status quo. Und es wird deutlich: Bei all den nicht von der Hand zu weisenden länderspezifischen und kulturellen Unterschieden zeigen sich vielerlei Gemeinsamkeiten – übereilte Investitionen, fehlende didaktische Konzepte und konzeptionelle Verkürzungen, Ausstattungs- und Wartungsprobleme, die Ignoranz vieler anderer substanzieller Baustellen im Bildungsbetrieb und nicht zuletzt die unzureichende Berücksichtigung all jener Akteurinnen und Akteure, die nur im Verbund zum Gelingen dessen beitragen können, was unhinterfragt bereits vorausgesetzt wird.
Bernd Schorb und Helga Theunert: Er war ein Pädagoge
Hartmut Warkus, Professor für Medienpädagogik am Institut für Kommunikation und Medienwissenschaft der Universität Leipzig und seit zwei Jahrzehnten engagiertes Mitglied und wichtiger Kooperationspartner des JFF – Institut für Medienpädagogik ist am 5. Dezember 2011 seiner heimtückischen Krankheit erlegen.Hartmut Warkus war mit seinem ganzen Können und all seinen Sinnen Pädagoge. Ihm lag daran, den Menschen etwas beizubringen, ihr Verständnis für die Medienwelt, deren Möglichkeiten und Risiken zu erweitern und ihren eigenen Medienumgang verantwortlich zu gestalten.Als Professor für Medienpädagogik sah er seine vorrangige Aufgabe in der Lehre (leider längst keine Selbstverständlichkeit mehr) und fühlte sich den Studierenden verpflichtet. Ihnen bot er Erfahrungsräume und schaffte Gelegenheiten für medienpädagogische Betätigung. Sie hatten sein Ohr, wenn sie Rat brauchten und konnten auf seine Hilfe vertrauen.Auch in seiner medienpädagogischen Arbeit stand das Pädagogische im Zentrum, nicht zuletzt wenn er sich der strittigen Angebote der Medienwelt und der Begeisterung von Kindern und Jugendlichen dafür annahm. Das Computerspielen in seinen vielfältigen Variationen steht exemplarisch dafür. Hartmut Warkus versuchte, die Begeisterung von Kindern und Jugendlichen für die Spiele zu ergründen und auch seine eigene, denn er spielte selbst gern. Aufbauend auf diesen Erfahrungen entwickelte er Modelle wie die Computerschule Leipzig, die Kinder und ihre Eltern animiert, sich gemeinsam mit Computerspielen zu befassen, praktisch und reflektierend. So erschließen sich den Eltern die geliebten Spiele ihrer Kinder und die Motive ihrer Spielbegeisterung.
Die Kinder werden zum Nachdenken über ihr Spielverhalten angeregt und müssen ihre Vorlieben argumentieren. Das ist handlungsorientierte Medienpädagogik. Hartmut Warkus‘ pädagogisches Bestreben machte auch vor der Politik nicht halt. Nach dem Motto: Die sollten wenigstens wissen, worüber sie reden, spielte er mit Regierungsmitgliedern. Wie tief die Einsichten in der Politik reichen, ist nicht abzusehen. Hartmut Warkus jedenfalls fand es spannend, Pädagoge für alle zu sein, er mochte seinen Beruf und hatte Spaß daran.Für das JFF war Hartmut Warkus zwei Jahrzehnte ein engagiertes und beliebtes Mitglied, das unsere Versammlungen solidarisch begleitet und bereichert hat. In vielen Forschungs- und Praxisprojekten war er zudem ein zuverlässiger und stets hilfsbereiter Kooperationspartner. Ob es um die Untersuchung von digitalen Jugendschutzinstrumenten, um den Aufbau eines virtuellen Umweltzentrums oder um die Organisation einer Großtagung ging – auf Hartmut Warkus konnten wir uns immer verlassen und er hat uns in diesem (immer noch) anderen Teil unseres Landes etliche Türen geöffnet, die wir selbst nicht gefunden hätten.
Wir verlieren mit Hartmut Warkus einen Medienpädagogen, der dieser Berufsbezeichnung alle Ehre gemacht hat, wir verlieren einen Kooperationspartner, für den solidarisches Handeln selbstverständlich war, wir verlieren einen Kollegen, der eine Lücke hinterlässt und wir verlieren einen Freund, der uns fehlen wird.
Bernd Schorb: Zerreguliert
In regelmäßigen Abständen wird der Rundfunkstaatsvertragneu geregelt – zum vierzehnten Mal diesen Sommer – und damit meist auch der Jugendmedienschutz. Inzwischen ist dieses Werk so komplex und unverständlich wie die meisten deutschen Gesetze. Gut, die Medien nehmen zu, kommenin neuen Gewändern daher und sind immer schwerer zu durchschauen – dafür sorgen Microsoft und Google – und zusätzlich erzwingen Partei- undWirtschaftsinteressen Kompromisse und Verwässerungen.Vor allem die Eltern, die den Schutz mit gewährleisten sollen, verstehen allenfalls Bruchstücke von dem, was hier geregelt werden soll. Die Teil-Evaluation des letzen Jugendmedienschutzstaatsvertrages, die das JFF aus der Perspektive von Eltern und Heranwachsenden durchgeführt hat, konstatierte denn auch: „Mangelnde Transparenz und Inkonsistenz ... sind Ankerpunkte für Missverständnisse und Fehlinterpretationen“ und forderte „Transparenz – Voraussetzung eines alltagspraktisch effektiven Jugendmedienschutzes“. (Theunert & Gebel in merz 1/2009, S. 1-25)
Löblich ist sicher die Absicht, eine bessere Kontrolle des Internets zu schaffen. Doch ob das auf dem Weg immer stärkerer Selbstregulierung gelingt? Die Einführung der ‚regulierten Selbstregulierung‘hat vor allem Selbstkontrollorgane hervorgebracht, getragen von der Medienindustrie, die die selbst kontrollierten Inhalte produziert. Darüber thront die KJM (Kommission Jugendmedienschutz), die aber – in der Regel – nicht selbst konkrete jugendgefährdende Angebote prüft, sondern lediglichdie Selbstkontrolleure zulässt und beaufsichtigt. Mit der jetzigen ‚Verfeinerung‘ des Systems wird dieses Kontrollorgan noch etwas machtloser. Denn nach § 19 gelten nun „Einrichtungen der freiwilligen Selbstkontrolle ... als anerkannt, soweit es die freiwillige Alterskennzeichnung von ... Spielprogrammen und für das Kino produzierten Filmen betrifft, wenn diese ... zum Herunterladen im Internet angeboten werden.“ Soll heißen, jetzt können sich die Selbstkontrolleure auch selbst zulassen. Wer keine eigene Regulierungsstelle hat, darf seine Angebote von einem bestehenden Organ prüfen lassen – was richtig teuer werden kann. Oder er übernimmt die Regeln eines zugelassenen Selbstregulierers und macht sich so zu einer ‚Quasi-Selbstregulierungsstelle‘. So verzinkt wie die Selbstregulierung ist auch die Alterskennzeichnung. Mit der Etablierung des kommerziellen Fernsehens entstand in den achtziger Jahren die Idee, die Altersklassifikation dererfolgreichen FSK (Freiwillige Selbstkontrolle Kino)auf das Fernsehen zu übertragen. Dazu wurde die Ideologie der bundeseinheitlichen Zubettgehzeiten erfunden und bestimmt, dass Filme, die erst ab 16 bzw. 18 Jahren zugelassen sind, erst nach 22 bzw. 23 Uhr ausgestrahlt werden dürfen. Das wird jetzt aufs Internet übertragen, indem Filme mit entsprechender Einstufung erst ab diesen Zeiten abrufbar sind – Ausnahmen impliziert,versteht sich. Wenn der Anbieter nämlich „durch technische oder sonstige Mittel die Wahrnehmung des Angebots durch Kinder oder Jugendliche ... unmöglich macht oder wesentlich erschwert“ (§ 5), können Altersverifikationen odertechnische Filter die Zeiten-Regel ersetzen.
Diese Idee hatten Anfang des Jahrtausends schon die Anbieter des Pay TV – der Versuch hielt der Realität nicht stand. Die Eltern konnten oder wollten die Filtertechnik nicht installieren. Also wurdensenderseitige Sperren verpflichtend gemacht, die von den Eltern nicht ein-, sondern ausgeschaltet werden müssen (Schorb & Theunert: Jugendmedienschutz – Praxis und Akzeptanz. Berlin 2001). So werden Kinder und Jugendliche im Pay TV wieder unabhängig von Vermögen und Willender Eltern geschützt, wie es auch im Grundgesetz bestimmt ist. So viel Selbstregulierung aber wollte man der Internetindustrie wohl nicht zumuten.
Bernd Schorb: Ungewöhnliche Werte gehen. Wertevermittlung in der politischen Bildung?
Wertevermittlung spielt eine große Rolle in der Pädagogik – so selbstverständlich auch in der Medienbildung und der politischen Bildung. Bernd Schorb und Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb), im Gespräch über das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, die Wertevermittlung von globalen Medienunternehmen sowie den Stellenwert von Medienpädagogik innerhalb der Bundeszentrale für politische Bildung.
Bernd Schorb: Spaß und Betroffenheit
„Spaß“ und „Gute Laune“ beherrschen neben Musik das Radioprogramm. Heranwachsende eignen sich die Inhalte an und gehen mit ihnen um, ihrem jeweiligen Alter entsprechend.
Besonders die Älteren sehen, dass Radiospaß nicht immer nur unterhaltsam ist, sondern auch verletzend und gewalttätig sein kann.
(merz 2005-04, S.21-28)
Bernd Schorb: Löwenzahn ist 25 Jahre alt und Peter Lustig hört auf
merz „Löwenzahn“ ist 25 Jahre alt. Was steckt da für eine Konzeption dahinter, die 25 Jahre hält?Lenssen Die Konzeption, womit man Kinder für so einen langen Zeitraum faszinieren kann, ist eine andere Art der Wissensvermittlung, nämlich dass wir bei „Löwenzahn“ Geschichten erzählen. In den Geschichten ist unmerklich das verpackt, was Kinder interessiert, was sie gerne wissen wollen, worauf sie immer schon neugierig sind. Der Protagonist Peter Lustig hat es immer geschafft, sich in die Perspektive von Kindern zu begeben, weil er selber neugierig ist. Er ist unkonventionelle Wege gegangen, die Kindern Spaß machen.merz Wissensmagazine gibt es inzwischen eine ganze Menge, es ist ja ein richtiger Boom. Was ist das Besondere an „Löwenzahn“?
Lenssen Es geht darum, wie man sich Wissen aneignet. Und das Wissen-Aneignen, das machen wir natürlich immer anhand einer Thematik. Aber das „Wie krieg ich selbst was raus?“ also nicht nur „Wie pauk ich mir was in den Kopf rein?“, sondern „Wie kann ich selber dahinter kommen, wenn mich etwas interessiert?“, das ist eigentlich der wichtigste Teil an „Löwenzahn“. Wir nehmen Themen auf, die aus Natur, Umwelt und Technik kommen, weil wir denken, dass das Gebiete sind, die Kinder sehr interessieren. Und wir unterstützen den Spaß etwas zu lernen, etwas rauszukriegen, neugierig zu sein, sich mal was zu konstruieren oder zu tüfteln, um etwas rauszukriegen.
merz Also Spaß am Lernen und Selbermachen stehen im Mittelpunkt?
Lenssen Es ist nicht das Nachmachen, sondern zu zeigen, wie man etwas rausfinden kann, wie man sich selbst etwas aneignen kann. Und natürlich ist bei dieser Thematik, Natur und Umwelt, schon etwas drin, das bedeutet, dass man mit den Dingen sorgsam umgeht. Der Ansatz, von Tieren, Insekten in der Sendung zu berichten, ist ja so einer, dass ich erst mal etwas verstehen kann, um es dann sozusagen lieben zu lernen, so dass ich das auch schützen möchte. Wir haben Sendungen gemacht über Mistkäfer, Kellerasseln, all das Viehzeug, was auf den ersten Blick nicht sympathisch ist und trotzdem bekommt man im Laufe der Sendung eine Sympathie für diese Tiere, weil man weiß, welche Rolle sie in der Natur spielen. Und genau das findet man während der Geschichte heraus. Verantwortung für die Umwelt und wenn wir Technikthemen haben, verantwortungsvoll mit der Technik umzugehen, das sind Anliegen von „Löwenzahn“.
merz Man redet ja immer davon, die Kindheit ändere sich heute so schnell, Kinder seien ganz anders als noch vor zehn Jahren. Dennoch bleibt das „Löwenzahn“-Konzept erhalten und ist erfolgreich, wie auch die Quoten zeigen. Woran liegt das?
Lenssen Ich glaube, das hat was mit dieser Leichtigkeit zu tun. Es steckt natürlich eine Didaktik und Pädagogik mit drin, aber es ist nicht so, dass die Kinder, die das sehen, sich zu was gedrängt fühlen. Sie gehen mit der Neugier des Protagonisten Peter Lustig mit. Das bleibt auch bei den Erwachsenen, damit ist ja inzwischen eine ganze Generation groß geworden. Die sagen: „Lieber Peter Lustig, ich habe von dir ganz viel gelernt und du hast mir so den Spaß dran vermittelt, dass ich mich selbst in die Wiese gelegt und Heuschrecken beobachtet habe“. Die ersten „Löwenzahn-Seher“ sind ja inzwischen selbst Eltern und haben Spaß, die Sendung mit ihren Kindern zu schauen. „Löwenzahn“ ist ein echtes Familienprogramm.
merz Diese Sendung ist sehr stark an Peter Lustig gebunden, ein älterer Herr, der ja jetzt geht. Ist der Erfolg dieser Sendung ohne diesen Protagonisten, den die Kinder ins Herz geschlossen haben, überhaupt erklärbar? Lenssen Es ist beides. Natürlich ist es die Per-son. Das weiß man ja von allen Sendungen, dass die Kinder sich an Figuren halten und an sie schreiben. Es ist ja schön, wenn du das, was dir gefällt, auch an jemanden adressieren kannst. „Löwenzahn“ ist momentan, so wie wir es kennen, geprägt von Peter Lustig, das ist ganz klar, und von seiner Art, Dinge zu vermitteln. Aber wir denken, dass man die Konzeption auch mit jemand anderem, der andere Eigenschaften hat, weiterführen kann. merz Wie lässt sich das denn mit einem Nachfolger, einer Nachfolgerin fortsetzen und was hat sich die Redaktion überlegt, wie sie das fortsetzen möchte?
Lenssen Wir möchten das Format erhalten, weil diese Konzeption eine erfolgreiche ist. Wir suchen eine Persönlichkeit, die auf andere Art gleich überzeugend ist – und sind schon mitten im Casting. Kindergenerationen, die auch eine neue Person ins Herz schließen werden, wachsen im-mer wieder nach, aber das, was an Formatkonzeption dahinter steckt, das wird sie immer noch genauso interessieren. Ich glaube, es ist eine Übergangszeit, weil es viele Zuschauer gibt, die „Löwenzahn“ so traditionell gewohnt sind, wie es war, aber wir werden auch dem Neuen eine Chance geben, mit einer großen Staffel rauszukommen. Peter Lustig war am Anfang so um die 40, noch kein Großvater, aber am Ende war er der Großvater, der sich auch Zeit genommen hat, seine „Enkel“ mitzunehmen. Das wird jetzt wieder eher ein jüngerer Mann sein, der sicher eine andere Art und Weise hat, aber auch Kinder mitnimmt, um die Welt zu entdecken. merz Warum ein Mann und keine Petra Lustig?Lenssen Wir haben uns lange überlegt, wie viele Veränderungen das Format verträgt und doch noch als „Löwenzahn“ erkennbar bleibt. Die Entscheidung für einen männlichen Protagonisten hing damit zusammen. Nichtsdestotrotz ist „Löwenzahn“ eine Sendung, in der zu vielen Fachgebieten der Rat von ExpertInnen gefragt ist. Und da uns die weibliche Besetzung ein An-liegen ist, lassen wir das eigentlich auch seit Jahren mit einfließen!
merz Wird der neue Moderator sich um die gleichen Themen kümmern? Umwelt ist ja heutzutage nicht mehr unbedingt das Thema, das uns angesichts der ökonomischen Krise besonders interessiert.Lenssen „Löwenzahn“ war in den 80er-Jahren eine der ersten Kindersendungen, die sich mit dem Thema Umwelt beschäftigt hat, und da kam ja die Umweltthematik erst auf. Natürlich hat sich heute der Umgang mit ökologischen Themen verändert, nichtsdestotrotz denken wir, dass Kinder sich immer noch dafür interessieren, und wir werden diese Themen sicher genauso beibehalten, weil es in unsere Konzeption passt, dass Kinder in ihrer Umgebung aufmerksam sind. Wir haben gerade die alten Sachen durchgeschaut für den Rückblick, da sitzt Peter Lustig z.B. als Baumbesetzer auf einer Linde. So werden wir die Themen sicher nicht mehr angehen, weil die Zeit der Baumbesetzung um ist. Aber das Ökologiesystem von einem Baum begreifbar für Kinder zu machen, ist sicherlich immer wieder Thema.merz Wird es denn heutzutage in der Fernsehlandschaft überhaupt noch geschätzt, 25 Jahre lang das gleiche zu machen? Auch Ihrem Sender geht es ja um Quoten und dafür fallen dann gerne mal Kindersendungen aus. Bekommen Sie die Anerkennung dafür, dass Sie so was wie ein Standbein des ZDF sind?
Lenssen Wir haben ja einen Bildungsauftrag als öffentlich-rechtlicher Sender. Das wird sehr geschätzt, weil man weiß, dass „Löwenzahn“ eine Marke ist, und dass es, gerade in Zeiten wie die-sen, wo es so viel Konkurrenz gibt und so viel nach Quoten geschaut wird, ein großer Schatz ist, wenn man eine Marke hat, die man so lange erhalten konnte und die so lange auch ihre Qualität halten konnte. Das wird schon als wert-voll angesehen, dass man etwas hat, was eine Art Kontinuität und Sicherheit in der Fernsehlandschaft gibt, die sich so schnell verändert. Von „Löwenzahn“ gibt es ja auch Produkte, die in Zusammenarbeit mit der Redaktion entwickelt worden sind, und diejenigen, die diese Produkte erwerben, tun das auch, weil „Löwenzahn“ darauf steht und sie genau wissen, da habe ich die Qualität, die ich für meine Kinder möchte.
merz Alles Gute für die nächsten 25 Jahre!
LöwenzahnZDF tivi, Redaktion Löwenzahn: Martina Arnold und Margrit Lenssen
Sendedaten
ZDF: Samstag und Sonntag, KI.KA: SamstagHighlights zum Jubiläumn fünf Wochen lang insgesamt 25 Folgen immer Montag bis Freitag um 16:25 Uhrn 15.10.05: Die lange „Löwenzahn“-Nacht mit dem Besten aus 25 Jahren „Löwenzahn“n 16.10.05: Der erste „Löwenzahn“-Spielfilm „Die Reise ins Abenteuer“n 17.10.05: Aktionen rund um „Löwenzahn“
Bernd Schorb: Jugend Konsum Kultur
Medien nehmen in unserer heutigen Lebenswelt nicht mehr nur einen Raum ein, sie prägen das gesamte Leben und gestalten mit, wie sich Leben und Welt entwickeln. Gab es in der Vergangenheit noch eine klare Trennung etwa zwischen der Welt der Kultur und der des Konsums, verschwimmen die Grenzen in digitalen Medienangeboten mehr und mehr. Nicht nur, dass Kultur technisch reproduzierbar und damit jedem verfügbar gemacht ist, auch wird Kultur zum Konsumobjekt und Konsum zum kulturellen Akt, in einem teils undurchschaubaren Konglomerat von Nutzenden- und Anbietenden-Interessen.
Literatur
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Krotz, Friedrich (2014). Die Institutionalisierung des Internet und warum wir uns dagegen wehren sollten. In: merz | medien + erziehung, 58 (1), S. 12–19.
Lange, Andreas/Xyländer, Margret (2007). Jugend. In: Willems, Herbert (Hrsg.), Lehr(er)buch Soziologie. Für die pädagogischen und soziologischen Studiengänge. Band 2. Wiesbaden: VS Verlag, S. 593–609.
Schorb, Bernd/Jünger, Nadine/Rakebrand, Thomas (2013) (Hrsg.). Die Aneignung konvergenter Medienwelten durch Jugendliche. Das Medienkonvergenz Monitoring. Schriftenreihe der Sächsischen Landesanstalt für privaten Rundfunk und neue Medien (SLM), Band 24, Berlin.
Thole, Werner (2002). Jugend, Freizeit, Medien und Kultur. In: Krüger, Heinz-Hermann/Grunert, Cathleen (Hrsg.). HandbuchbKindheits- und Jugendforschung. Opladen: Leske + Budrich.
Wagner, Ulrike (2011). Medienhandeln, Medienkonvergenz und Sozialisation. Empirie und gesellschaftswissenschaftliche Perspektiven. München: kopaed.
Bernd Schorb und Helga Theunert: 60 Jahre merz. Eine Konstante in der Medienpädagogik
Bescheiden, aber mit amtlichem Anstrich kam die heutige merz in ihren Anfängen daher: Mitteilungen des Arbeitskreises Jugend und Film war das Faltblatt betitelt. 1957 wurde daraus Jugend und Film. Vierteljahreszeitschrift des wissenschaftlichen Instituts für Jugendfilmfragen und über eine Reihe von Titelvariationen (siehe Zeitstrahl) 1976 im Haupttitel die heutige merz | medien + erziehung.
Über 60 Jahrgänge hinweg hat merz bereits die Medienpädagogik im deutschsprachigen Raum gespiegelt und sich mit ihren Schwerpunkten weiterentwickelt bzw. zum Teil diese Schwer¬punkte mit entwickelt. Unabhängig von kommerziellen Interessen, getragen primär vom En¬gagement des JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis und seit 1976 unterstützt von den beiden Verlagen Leske + Budrich und kopaed, behauptet sie sich auf dem medienpädagogischen Feld und bietet ein Forum für Theorie, Forschung und Praxis der Medienpädagogik. Problemlos verlief die Geschichte von merz nicht immer. Vor allem die ab Mitte der 1970er-Jahre stärker vertretene kritische Auseinandersetzung mit den Mediensystemen, dem Bildungswesen und den Sozialisationsinstanzen im Kontext aktueller gesellschaftlicher Gegebenheiten und das Insistieren auf den Subjektstatus aller Mediennutzender provozierte auch Gegenwind. Doch merz bot Raum für Streitkultur und initiierte ab 1976 regelmäßig Diskussionen über medienpädagogische Positionen.
Wie gelang es über so lange Zeit einen Leserstamm zu binden und stetig auszubauen? Auf einer ersten Ebene haben wir uns einer Antwort schon über die Entwicklung der Betitelung von merz genähert: Zunächst auf Film konzent-riert, dann auf Fernsehen ausgedehnt wurde ab 1976 der beständigen Erweiterung des Medienensembles Rechnung getragen und der Titel abstrakter und zugleich treffender gefasst: die Begriffe ‚Medien‘ und ‚Erziehung‘ sind offen für Entwicklungen auf Seiten der Medien ebenso wie auf Seiten der Subjekte sowie der Erziehungs- und Bildungssysteme. Der Haupttitel merz | medien + erziehung trägt seither. Printausgabe und Onlineauftritt sind seit 2003 mit dem Untertitel Zeitschrift für Medienpädagogik konsequent verortet. merz thematisiert das gesamte Medienspektrum, animiert zur Auseinandersetzung über medienpädagogische Praxismodelle, zur theoretischen Reflexion und seit 2003 als merzWissenschaft in einer eigenen Ausgabe einmal jährlich explizit zur wissenschaftlichen Fundierung medienpädagogischen Handelns.
Der Anspruch von merz, medienpädagogisches Handeln zu vermitteln und zu begleiten, realisiert sich darin, medienpädagogische Strömungen und Positionen aufzugreifen, sie kritisch zu befragen und zu bewerten sowie sie im gesellschaftlichen Kontext und vor dem Hintergrund lebensweltlicher Orientierungen der Zielgruppen medienpädagogischen Handelns sowie sozialwissenschaftlicher und pädagogischer Paradigma einzuordnen. Nun hat natürlich jede Redaktion ihre Vorlieben und setzt ihre Schwerpunkte. Damit die Breite medienpädagogischer Perspektiven gewährleistet bleibt, aber auch, damit sich nicht unreflektierter Zeitgeist Bahn bricht, gibt es seit 1999 einen Beirat aus dem deutschsprachigen Raum, der merz begleitet und ein breites Themenspektrum ebenso sichert wie eine Vielfalt von Autorinnen und Autoren, die nicht nur medienpädagogisch ausgewiesen sind, sondern interdisziplinäre Perspektiven einbringen.
Die Strömungen, die in den vergangenen 60 Jahren in der Medienpädagogik aufgegriffen wurden, wollen wir betrachten, nicht chronologisch (siehe dazu Hans-Dieter Kübler und Dagmar Hoffmann in dieser Ausgabe), sondern anhand aussagekräftiger Beispiele für die vergangenen 60 Jahre und anhand eigener Erinnerungen aus vier Jahrzehnten medienpädagogischer Arbeit, auch an und mit merz.
Vor dem Schlechten der Medien schützen
Für den Philosophen Anton Neuhäusler stand 1959 außer Frage,
"daß die spezielle Umwelt ‚Gewaltfilm‘ zur Gewaltliebe disponiert. Sie dient also nicht nur der ins Fiktive gebannten Abreaktion einer für allemal gegebene Roheit, sondern sie stiftet diese erst eigentlich. Sie formt den Zuschauer nach sich. Sie verroht ihn tat¬sächlich. Sie macht ihn schlecht oder schlechter, als er schon ist. Denn der Mensch ist nicht ein für allemal so oder so, er kann nun einmal verbessert oder verdorben werden. [...] Das ist gerade der Teufelskreis: Roheit im Gemüt verlangt nach Roheit im Spiel. Roheit im Spiel steigert Roheit im Gemüt. Deshalb muß es immer härter, immer ausgekochter werden. Und irgendwann, je nach der Labilität des Menschen – und sie ist am größten beim Jugendlichen, erst recht beim Jugendlichen über 16 – bricht diese gezüchtete Roheit aus, kann nicht mehr im sublimen Nacherleben bleiben. Das Nacherlebnis wird zum Vorerlebnis, zum Beispiel, zur akuten Anregung. Man kann die grobe Formel aufstellen: Gewaltfilme regen nicht nur von realen Gewalttaten ab, sie regen auch zu realen Gewalttaten an. [...] Die Gewalttätigkeiten vieler Jugendlicher von heute sind sicher zum Teil [...] auf die Selbstverständlichkeit zurückzuführen, mit der Gewalt, Tötung in sich überschlagendem Maß, in der Wucherung reinen Selbstzwecks, täglich auf der Lein¬wand praktiziert werden" (Neuhäusler 1959, S. 13 f.).
Bei der Lektüre früher merz-Ausgaben kann einem schon bang werden, vor allem im Hinblick auf die heranwachsende Generation, die sich für mediale Vergnügungen schon immer besonders begeisterte. Die Medienpädagogik der 1950er- und 1960er-Jahre rekurrierte wie Neuhäusler vorzugsweise auf Annahmen der monokausalen Wirkungsforschung, die Medienangebote primär als Stimulans für Abstumpfung und Verrohung und weitergehend als Vorbild für die Nachahmung von als problematisch bewertetem Verhalten postulierte. Gewalt und Sexualität standen dabei im Fokus und die Konsequenz lautete Verbot oder zumindest Schutz der Kinder und Jugendlichen vor diesem ‚Schmutz und Schund‘. Die Bewahrpädagogik beherrschte die Medienpädagogik lange Zeit: Im Kino gerieten insbesondere amerikanische Western in die Kritik. So wusste Werner Glogauer 1957 von männlichen Jugendlichen zu berichten,
"daß sie nach dem Film mitunter in größeren oder kleineren Gruppen meist planlos umherlaufen, zusammengehalten von der gleichen Gefühlsgestimmtheit, gleichen Vorstellungen, gleichem Ausdrucksbedürfnis usw. Von solchen spontanen Gruppenbildungen [...] vermag die Wirkung des Films zur Begründung strukturierter jugendlicher Bandengruppen führen" (Glogauer 1957, S. 5).
Glogauer hat solche Positionen unbeirrt bis zur Jahrtausendwende propagiert. Doch insgesamt setzten sich in der Medienpädagogik Differenzierungen durch. So stellen Helga Theunert und Fred Wimmer 1978 fest:
"Die Gewaltwirkungsforschung kann nur dann aus der Sackgasse herausfinden, wenn sie den gesellschaftlichen Bedingungsrahmen von Gewalt erkennt und an diesem ansetzt. Dies gilt auch für die Entwicklung pädagogischer Konsequenzen, die [...] vor allem an den alltäglichen Erfahrungen von Kindern und Jugendlichen mit Gewalt auszurichten sind" (Theunert/Wimmer 1978, S. 250).
Verschwunden sind die monokausalen Wirkungsapologetinnen und -apologeten jedoch bis heute nicht. Kaum machen neue Medienentwicklungen von sich reden, tauchen sie wieder auf und befürchten Schlimmes primär für Kinder und Jugendliche. So richtete sich die Besorgtheit nach dem Kino auf das sich schnell verbreitende Fernsehen und dort beispielsweise auf Zeichentrickserien wie Tom & Jerry. In den 1980er- Jahren sorgten die unsäglichen Metzeleien auf Videokassetten für Entsetzen, dann begannen gewalthaltige und kriegerische Computerspiele zu beunruhigen. Heute evozieren Internetangebote mit Hass und Rassismus, mit Sexismus und Pornografie oder mit der schamlosen Ausbeutung der Nutzenden eine neue Qualität von Sorgen. Doch heute kommen die simplen Wirkungsbehauptungen weniger aus der Medienpädagogik. Vor allem mit Rückgriff auf die Hirnforschung, die einige ihrer Apologetinnen und Apologeten gern als Welterklärungsinstanz sehen, werden sie – verbunden mit nachgerade schwarzer Pädagogik – beispielsweise von Manfred Spitzer in die Welt gesetzt. merz bietet für solchen Populismus bewusst keinen Raum, wohl aber initiiert sie den seriösen Diskurs über die Sorgen, die Medien in der Familie, in Erziehungs- und Bildungsinstitutionen und in der Gesellschaft bereiten.
Zweifellos bot und bietet die Medienwelt Zumutungen (siehe Roland Bader in dieser Ausgabe). Gerade mit Blick auf Kinder und Jugendliche ist Schutz entsprechend eine unverzichtbare pädagogische Handlungsstrategie. Allerdings kann diese Strategie nur greifen, wenn die Mediennutzenden als aktiver Part einbezogen werden. Jeder Mensch ist von klein auf Gestalterin bzw. Gestalter seines Lebens, auch seines Lebens mit Medien. Was er in den Medien wahrnimmt, wovon er sich anrühren und anregen lässt – das entscheidet sich zum geringeren Teil auf der Seite der Medien. Ausschlaggebend sind die Wechselprozesse zwischen der Aneignung der Medien und den eigenen Lebensvollzügen, die die Subjekte vor dem Hintergrund ihrer Alltagserfahrungen und ihrer Weltsicht mit Eigensinn gestalten.
Solche Positionen stellt merz verstärkt seit Ende der 1970er-Jahre in Theorie, Wissenschaft und Praxis zur Diskussion. Angesichts von Vernetzung und Globalisierung medialer Angebote und angesichts von individualisierter Nutzung und medialer Eigenproduktion muss Medienpädagogik heute dazu befähigen, die Zumutungen der Medienwelt zu meiden, und sie muss gegen sie öffentlich Partei ergreifen. Mit diesen Vorzeichen ist ‚Schutz vor dem Schlechten in den Medien‘ ein notwendiger Teil medienpädagogischen Handelns. Das beständig zu thematisieren ist gerade heute, wo die Selbstschutzfähigkeiten gern bemüht werden, um mediale Entwicklungen im ökonomischen Interesse ungebremst voranzutreiben, auch Auftrag der medienpädagogischen Zeitschrift merz.
Mit Medien belehren
Martin Keilhacker postulierte in den 1960er- Jahren, "daß die gegenwärtige und künftige Industriegesellschaft eine neue, eigene Schul- und Bildungskonzeption aus dem Wesen und den Bedürfnissen der Industriegesellschaft heraus braucht, eine Bildungskonzeption, die jeden Menschen, und zwar das ganze Leben hindurch, in die pädagogischen Überlegungen einbezieht. Wie die schon jetzt vorliegenden Beispiele zeigen, und erst recht für die weitere Entwicklung erwarten lassen, werden sich bei diesem künftigen Schul- und Bildungswesen die Grenzen zwischen Schule und freiem Bildungsraum, vor allem aufgrund der Entwicklung von Hörfunk und Fernsehen weitge-hend verwischen und Schul- und Bildungsfernsehen werden, im besonderen für die Bildung, Ausbildung und Weiterbildung im Erwachsenenalter, eine wichtige Rolle spielen, aber auch Schule und Schulunterricht im Kindes- und Jugendalter tiefgehend verändern" (Keilhacker 1967, S. 12).
Für die Pädagogik waren und sind die Medien ein Januskopf: Auf der einen Seite grinsen das Böse und das Schädliche und auf der anderen Seite schauen ernst das Gute und Belehrende. Gemeint sind die beiden historischen Pole der Medienpädagogik, die Medienerziehung und die Mediendidaktik. Während es das Ziel der Medienerziehung ist, Menschen vor den Gefahren der Massenmedien zu schützen und zu deren sinnvoller Nutzung zu erziehen, geht es der Mediendidaktik darum, Lernen mittels Medien zu optimieren und dafür eigens taugliche Medien zu produzieren. In diesem Sinne ist Mediendidaktik älter als die Medienpädagogik, denn Medien als Unterrichtsmittel wurden lange bevor es Massenmedien gab eingesetzt. Die Medienentwicklung wird von der Mediendidaktik insofern wahrgenommen, als die Adaption neuer technischer Medien eine verbesserte Nutzung zu Lehr- und Lernzwecken erlaubt. Die Medienerziehung ist hingegen auf die Medienentwicklung in der Weise eingegangen, als sie den weitgehend passiven Prozess der Erziehung zum Umgang mit Medien in einen aktiven des sozial gestaltenden Handelns mit Medien erweitert hat. Diese Erweiterung, Lehren, Lernen und Handeln mit den Medien als ein Ganzes zu verstehen und nicht künstlich in unterhaltende Massenmedien und belehrende Unterrichtsmedien zu trennen wurde der Mediendidaktik auch in merz immer wieder angetragen, bis heute allerdings ohne großen Erfolg.
Eine an der Effektivierung des Lernens orientierte Mediendidaktik verwendet, parallel zur Weiterentwicklung der Technik, zweckorientiert Medien als Vermittler, Strukturierer, Beschleuniger, Verbesserer und zunehmend auch als Organisator von Lehr- und Lernprozessen. Im Zentrum steht hier also nicht das Verhältnis der Subjekte zu den Medien, sondern die Funktion der Medien. In der Konsequenz rechnet sich die Mediendidaktik häufig auch nicht zur Medienpädagogik, hat eigene Berufsgesellschaften und Veröffentlichungsorgane. Auch die Exponentinnen und Exponenten, die sich der Medienpädagogik zuwenden, haben den schulischen Verwertungszusammenhang im Blick, wie etwa Gabi Reinmann (2008), wenn sie in ihrem Plädoyer für den Einbezug des Web 2.0 argumentiert:
"Nicht nur aus mediendidaktischen Gründen, sondern auch weil sich die Gesellschaft und das Informations-und Kommunikationsverhalten der nachwachsenden Generation ändern, wächst der Druck auf die Schu¬len, sich der Web 2.0-Herausforderungen zu stellen" (Reinmann 2008, S. 16).
Genau umgekehrt argumentiert die medien¬ädagogische Position: Die Mediatisierung des Lebens und die Tatsache, dass wir heute auch in medialen Räumen leben, erfordere es, dass sich die Mediendidaktik an der Wirklichkeit der Medienwelt ausrichtet, sich keine eigenen, meist auch noch unattraktiven funktionalen Lernwelten schafft, sondern didaktische Modelle des kritischen und reflektierten Lebens in der Medienwelt entwickelt, also das Postulat, dass wir für das Leben lernen, ernst nimmt. Die von Franz Dröge schon 1976 bemängelte "charakteristische und von der Sache her unsinnige Gegenstandstrennung in Mediendidaktik und Medienerziehung" (Dröge 1976, S. 90) aufzuheben bleibt eine vordringliche Aufgabe zukunftsorientierter Medienpädagogik. Für merz folgt daraus, dass sie nicht nur dem Bereich Lehren und Lernen mit Medien regelmäßig Raum geben muss, sondern dass sie auch Dis¬kussionen anzetteln sollte, die die Zersplitterung der Gegenstandsbereiche einer ganzheitlichen Medienpädagogik problematisieren.
Die Medienwelt durchdringen
"Die Medien lassen sich in explizit ökonomischen Kategorien als Produktivkräfte beschreiben [...], deren Wirkungsfeld primär das Bewußtsein der Rezipienten ist. Deshalb ist die Charakterisierung der Medien als ‚Bewußtseins-Industrie‘ oder ‚Ideologie-Fabriken‘ verständlich. Die Medien vermitteln nicht nur bestimmte Inhalte, sondern prägen auch die Wahrnehmungsstruktur der Konsumenten. [...] Andererseits bestimmen diese geprägten Wahrnehmungsstrukturen die Auswahlmechanismen, die die verschiedenen Inhalte überhaupt erst zum Bewußtsein vordringen lassen" (Kazda et al. 1971, S. 74 f.). "Ein [...] kritisches Bewußtsein weiß darum, dass Medien nicht das einzige Mittel, sondern nur ein Mittel unter anderen sind, diese Gesellschaft zu verändern. Voraussetzung [...] ist wiederum, daß die ‚Theorie die Massen ergreift‘, daß sie sensibel werden für die Widersprüche des Systems und sie begreifen. [...] Die Methode der Ideologie¬kritik könnte zu einer pädagogischen Produktivkraft werden; zu einer Produktivkraft, die den Menschen, die sie produzieren, auch gehört" (ebd., S. 88).
Mit dem Rekurs auf Kritische Theorie und Marxismus in der Studentenbewegung vollzog sich auch in der Medienpädagogik ein weitreichender Perspektivenwechsel: Massenmedien werden nun begriffen als in die gesellschaftlichen Strukturen eingebunden, die sie ihrerseits mit stabilisieren, aber – da sie im historisch-gesellschaftlichen Prozess geschaffen wurden – in Inhalt und Struktur auch wieder verändert werden können. Nach diesem ab den 1970er- Jahren verbreiteten kritisch-reflexiven Ansatz sind Medien und Subjekte gleichermaßen in die Gesellschaft eingebunden. Wirkung wird Massenmedien entsprechend nur im Verbund mit anderen gesellschaftlichen Gegebenheiten zugestanden, die auch die Lebensvollzüge der Subjekte gestalten.
Im Blick sind zunächst die Inhalte, die die herrschenden Ideologien transportieren. Die Manipulation durch Massenmedien gilt als Stabilisierungsfaktor der Gesellschaft. Ideologiekritik wird als pädagogische Strategie der Aufklärung postuliert und zugleich als Grundlage für die Gestaltung von Inhalten, die die Bedürfnisse und Interessen der Mediennutzenden integrieren. Bernward Wember hat diese Strategie am Beispiel des Dokumentarfilms Bergarbeiter im Hochland von Bolivien ausgearbeitet und 1971 in merz präsentiert (vgl. Wember 1971, S. 90 ff.) und später an der Fernsehberichterstattung über den Nordirlandkonflikt auch filmisch eindrücklich demonstriert.
Eine marxistische Variante des kritisch-reflexiven Ansatzes betrachtet Massenmedien als kapitalistische Produktionsstätten des geistigen Verkehrs einer Gesellschaft, die eine Doppelfunktion haben: Sie halten einen großen Werbe- und Absatzmarkt bereit und legitimieren die herrschenden Verhältnisse. Veränderungen erfordern neben alternativen Inhalten eine Demokratisierung des Mediensektors – eine Argumentation, die beispielsweise Horst Holzer 1976 in merz vertrat (vgl. Holzer 1976, S. 157 f.).
Eine dritte Variante teilt die ideologisch-manipulative wie die kapitalistische Funktionszuschreibung der Massenmedien und postuliert, dass die Massenmedien dazu beitragen, dass die Menschen von ihren authentischen Erfahrungen abgetrennt werden. In ihren Konsequenzen stellt diese Variante die Subjekte in den Mittelpunkt. Sie sollen nicht nur befähigt werden, die Medien zu durchschauen und Bewusstsein über ihre Funktionen zu erlangen, sondern sie für sich selbst als Mittel der Artikulation in Dienst nehmen und so Öffentlichkeit verändern.
Kritik der Medieninhalte und Aufklärung über die Verfasstheit unserer Mediensysteme sind etablierte und unverzichtbare pädagogische Strategien der Medienpädagogik. Auch wenn sie nicht mehr im Sprachduktus der Kritischen Theorie und des Marxismus präsentiert werden und hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Veränderungskraft Ernüchterung eingetreten ist, gilt weiterhin: Medienpädagogik, die Medieninhalte und Mediensysteme in ihrer gesellschaftlichen Relevanz und in ihrer Bedeutung für die Subjekte klären will, braucht Maßstäbe für ein wünschenswertes Leben mit Medien im gesellschaftlichen Kontext und sie muss diese Maßstäbe im politischen Raum vertreten.
Das Feld für diesen Zugang hat sich mit der Digitalisierung der Medien und mit der Mediatisierung der Gesellschaft erheblich geweitet: So erfordert zum Beispiel die Konvergenz medialer Angebote nicht nur die Analyse eines Mediums, sondern auch die Analyse der dazugehörigen Anschlussmedien und Medienverbünde, die die Nutzenden in ein dicht gewebtes Netz medialer Botschaften einweben. Die kommunikativen und präsentativen Möglichkeiten der heutigen Medienwelt erfordern darüber hinaus die Analyse subjektiv gestalteter Kommunikate, wie sie beispielsweise über YouTube oder Facebook verbreitet und insbesondere von der jungen Generation intensiv goutiert und bestückt werden. Gerade diese Kommunikate veräußern Privatheit und geben persönliche Daten für das Dabeisein in den sozialen Netzwerken preis. Schließlich ist die Organisations- und Funktionsanalyse der heutigen Medienwelt weiter zu fassen als dies zu Zeiten der Massenmedien der Fall war. Die heutigen Medienkonzerne agieren nicht nur über mehrere Medien hinweg, sondern über den Mediensektor und über nationale Grenzen hinaus. Die Verflechtungen der damit verbundenen ökonomischen Machtstrukturen und ideologischen Interessen sind kaum noch zu durchschauen. Bernd Schorb verdeutlicht das aktuell am Beispiel YouTube:
"YouTube ist im Besitz der Firma Google und wird täglich von Milliarden Menschen genutzt. [...] Man kann bei YouTube einen Kanal abonnieren und sich für das Programm eines sogenannten YouTubersentscheiden. [...] Um hier erfolgreich zu sein werden die YouTuber vermarktet und angeleitet durch spezielle Produktionsfirmen, die wie einer der Marktführer Divimove zu FreeMantle Media gehört, einer Tochter der RTL Group und damit des Bertels¬mann Konzerns" (Schorb 2016).
Gerade das Bewusstsein über die Interessensverflechtungen auf dem Medienmarkt ist notwendig, damit die Subjekte Souveräne ihres Medienhandelns bleiben. Für diesen Kontext Reflexion und Diskussion anzustoßen markiert eine weitere Aufgabe einer medienpädagogischen Fachzeitschrift wie merz.
Mit und in der Medienwelt handeln
"Die Verwendung von technischen Medien hat in dem Maße Emanzipationssinn, wie Gegen-Bewegungen und Gegen-Öffentlichkeit lebendig existieren, die Medien sinnvoll verwenden und damit Fragmentierungstendenzen aufheben. [...] Deswegen spreche ich auch vom ‚Werkzeugcharakter‘ dieser technischen Medien. [...] Eine sinnvolle Nutzung hat anderen gesellschaftlichen Charakter; hier kann kommunikative Kompetenz sinnvoll eingebracht werden auf der Grundlage gesellschaftlich-kommunikativer Prozesse, die auf Verständigung dringen" (Negt in Mohn 1990, S. 265 f.).
1972 brachten Oskar Negt und Alexander Kluge die Begriffe ‚Gegenöffentlichkeit‘ und ‚authentische Erfahrung‘ in die Diskussion. Massenmediengelten auch ihnen als Herrschaftsinstrumente bürgerlicher Öffentlichkeit, während Gegenöffentlichkeit auf den authentischen Erfahrungen und Interessen der Subjekte basiert. Die Medien, vor allem die nunmehr verfügbare tragbare Videotechnik, sehen sie als taugliche Instrumente zur Artikulation authentischer Erfahrungen. Insbesondere Oskar Negt verbindet damit auch ein pädagogisches Konzept: "‚Authentische Erfahrung‘ würde bedeuten, daß die Menschen nicht abgetrennt werden von dem, was sie wirklich erfahren. [...] Es gilt die gesamten Lebensinteressen der Menschen in den pädagogischen Alltag zu integrieren und bearbeitungsfähig zu machen" (ebd., S. 262 f.).
In alternativen politischen Bewegungen, wie der Anti-Atomkraftbewegung, fiel diese Vorstellung auf fruchtbaren Boden. Eine Szene mit Bürgerfernsehen, Piratensendern und – im Zuge der Einführung der kommerziellen Fernsehsender – Mitte der 1980er-Jahre den Offenen Kanälen entwickelte sich. Aber die Förderung dieser Offenen Kanäle beispielsweise durch die Landesmedienanstalten wurde mittlerweile so weit zurückgefahren, dass viele dieser Einrichtungen verschwunden sind oder marginalisiert wurden. Verbunden mit diesen Entwicklungen vollzog sich ein bis heute grundlegender Paradigmenwechsel in der Medienpädagogik. Dieter Baacke skizzierte ihn 1981 in merz so:
"Nur eine offensive Medienpädagogik kann deutlich machen, daß es sich hier [...] um eine pädagogische Spezialität (handelt), die die Allgemeinheit unseres öffentlichen Lebens mit zu bedenken hat. Die stagnierende Kommunikations- insbesondere Wirkungsforschung ist neu zu überdenken und zu verändern: Von Einschaltquoten, statistischen Übersichten hin zu Bewußtseins-Analysen, zum Aufweis des Zusammenhangs von Massenmedien und Biographie, zur Konkretheit von Rezeption und Wirkung. [...] Medienpädagogik muss sich als handlungsorientiert verstehen. Sie muß mit die Stimme erheben für übersehene Gruppen: Kinder, Jugendliche, Ausländer, alte Menschen und ihnen Beteiligungsmöglichkeiten erkämpfen" (Baacke 1981, S. 200).
Das mit Medien in seinem Lebenszusammenhang sozial handelnde Subjekt stand nun im Mittelpunkt. Subjekt- und Handlungsorientierung wurden zu Leitlinien von Forschungen, Praxismodellen und Materialien. Medienkompetenz als Teil Kommunikativer Kompetenz, ebenfalls von Dieter Baacke in die Diskussion gebracht, war und ist bis heute Leitziel der Medienpädagogik.
"Video wurde in der Jugendarbeit zunächst begeistert aufgenommen, da man glaubte, ein leicht handhabbares Medium zu besitzen. Die Realität hat jedoch gezeigt, daß die Annahme trog. Viele Videoprojekte mit Jugendgruppen kommen über das Anfangsstadium nicht hinaus, da sowohl technisches als auch inhaltliches Know-how fehlen" (Anfang 1984, S. 358). Um Abhilfe zu schaffen und Medienkompetenz realisieren zu können wurden Medieninitiativen und Medienzentren gegründet. Sie erprobten Modelle, die Heranwachsenden und ihren pädagogischen Bezugspersonen Medien als Artikula¬tionsmittel nahe brachten, sie beim Produzieren von Videofilmen oder Radiobeiträgen begleite-ten und ihnen Technik sowie Räume zur Veröffentlichung zur Verfügung stellten. Im Kontext solcher medienpädagogischer Anregungen und Unterstützungsleistungen, die vorrangig im Rahmen außerschulischer Jugendarbeit stattfanden, wurde die bis heute in der Medienpädagogik zentrale Methode der ‚aktiven Medienarbeit‘ entwickelt und für unterschiedliche Praxiszusammenhänge konturiert (siehe Fred Schell in dieser Ausgabe). merz bietet seither ausgiebig Raum für Praxisprojekte, die Menschen in unterschiedlichen Lebensphasen und Lebenslagen dazu ermutigen, die jeweils verfügbaren medialen Techniken aktiv in Gebrauch zu nehmen, um sich zu artikulieren und ihren Perspektiven auf alltägliche und gesellschaftliche Gegebenheiten Öffentlichkeit zu verschaffen.
"Medienpädagogik [muss sich] um die Intensivierung einer qualitativen Forschung des sozialen Bedingungsfeldes von Medienrezeption und Medienwirkung bemühen. Nicht Akzeptanzanalysen sind notwendig, sondern die Erforschung [...] der Lebensgestaltungsfunktion der Medien. [...] Pädagogische Strategien im Konnex von Medien und Alltagsbewußtsein zu entwickeln, scheint mir ein Aufgabengebiet zu sein, das für eine qualitative Schwerpunktsetzung der Medienpädagogik intensiv bearbeitet werden sollte!" (Schorb 1981, S. 228)
In der medienpädagogischen Forschung enttanden mit Beginn der 1980er-Jahre eine ganze Reihe qualitativer Untersuchungen zur Medienaneignung von Kindern und Jugendlichen. Kennzeichnend für das Gros war – über theoretische Differenzen hinweg – die Erforschung der Medienaneignung in den sozialen Lebenszusammenhängen und die Verwendung von Methoden, die alltagsübliche Artikulation ermöglichten und so die Perspektiven der Untersuchten auf die Medienangebote in authentischen Äußerungen zu Tage förderten. Themen wie der Umgang von Kindern und Jugendlichen mit Gewaltdarstellungen, die Rezeption von Zeichentrick- und Fernsehserien, die Bedeutung von Fernsehinformation oder der Fernsehalltag in Familien wurden unter diesen Vorzeichen bearbeitet. Neben Untersuchungen aus dem JFF fanden hier beispielsweise Studien von Ben Bachmair, Michael Charlton oder Stefan Aufen¬anger Eingang in merz.
Die damit verbundene Konturierung der Medienpädagogik als eigenständige wissenschaftliche Disziplin mündete schließlich in die Gründung von merzWissenschaft. Hier wurde und wird der medienpädagogischen Forschung und Theorie explizit Raum gegeben.
Handlungs- und subjektorientiertes Erforschen der Medienaneignung und aktives Arbeiten mit Medien sind bis heute grundlegend für die Medienpädagogik. Im Zuge der Medienentwicklung haben sich das Spektrum der Forschungsfragen, der zu untersuchenden Populationen und die Zielgruppen medienpädagogischen Handelns er-heblich erweitert. Kinder und Jugendliche sind nur noch eine Zielgruppe, weitere Alterssegmente wie ältere Menschen werden heute von der medienpädagogischen Forschung und Praxis ebenso in den Blick genommen wie unterschiedliche Herkunftsmilieus oder soziale Gruppen. Die Forschungsfragen umfassen das Spektrum des Medienensembles, wobei aktuell die digitale Medienwelt und ihre Auswirkungen auf die Subjekte und ihre Lebensvollzüge Vorrang haben, werfen sie doch viele und teilweise neuartige Fragen auf, deren wissenschaftliche und praktische Bearbeitung erhebliche Herausforderungen ethischer und methodologischer Natur beinhaltet. merz hat die Paradigmenwechsel nicht nur begleitet, indem sie qualitativen Studien und emanzipatorischen Praxismodellen Raum gegeben und damit für ihre Verbreitung gesorgt hat. Sie hat vor allem an wichtigen Einschnitten breit angelegte Diskussionen über grundlegende (medien-)pädagogische Fragen initiiert. Den Anfang machte 1976 die Diskussion unter dem Titel: ‚Medienpädagogik‘ – was ist das? Thesen zu einer umstrittenen Disziplin (merz 1/1976 bis 3/1976). Es folgten: Neue Medien und die Pädagogik (merz 2/1981 bis merz 4/1981), Hat die Medienpädagogik eine Chance, die neuen Medien in den Griff zu bekommen? (merz 6/1984, merz 1/1985) und Multimedia und Pädagogik (merz 4/1996). Mit solchen Diskussionen wird die Impulsfunktion einer Fachzeitschrift wie merz wirksam eingelöst, denn Positionen werden nicht nur dargestellt, sondern miteinander in Beziehung gesetzt.
merz in der Zukunft
"Zentrale Aufgabe von Erziehung und Bildung war und ist es, für das Leben unter zukünftigen Bedingungen zu befähigen und die Menschen zugleich in den Stand zu setzen, inhumanen, irrführenden, ausbeuterischen und verdummenden Zumutungen zu widerstehen" (Theunert 1996, S. 26).
Die Orientierung an diesem Kern der Humboldt‘schen Bildungsidee, der traditionelles Selbstverständnis der Pädagogik und Medienpädagogik ist, forderte Helga Theunert im Kontext der Debatte um die Vernetzung der Medienwelt und die damit verbundenen Herausforderungen für die Medienpädagogik.
"Es geht darum, herauszufinden, was die Menschen mit diesem Netz machen bzw. was sie damit machen könnten. Es geht darum zu eruieren, welche Kompetenzen sie brauchen, um mit diesem Netz Sinnvolles zu tun" (ebd.).
Das Medienspektrum hat sich mittlerweile er¬weitert und verändert (siehe Ulrike Wagner und Kathrin Demmler in dieser Ausgabe), einerseits durch die Vernetzungsstrategien, die über den Medienmarkt und über nationale Grenzen hinausreichen, und andererseits durch die Subjekte, die sich der Medien kommunikativ und produktiv bedienen und sich in vernetzten Räumen vergemeinschaften. Öffentlichkeit ist heute mehr denn je Medienöffentlichkeit, aber das ist nicht – wie historisch erhofft – unbedingt mit Emanzipation verbunden, sondern gerade mit der Gefahr, demokratische Errungenschaften wie informationelle Selbstbestimmung aufzugeben. Erweitert und verändert haben sich auch die Zielgruppen medienpädagogischen Handelns. Im Umgang mit dem undurchschaubaren Mediennetz, das sich längst über unsere privaten, sozialen und gesellschaftlichen Lebensbereiche gelegt hat, braucht nicht nur die heranwachsende Generation Begleitung. Eltern und Erziehende, aber auch Erwachsene in allen Lebensphasen benötigen sie genauso, um die Medienwelt im Griff zu behalten und in der mediatisierten Gesellschaft Teilhabe und Souveränität realisieren zu können. Schließlich hat sich das Themenfeld, mit dem Medienpädagogik sich befassen muss, ausgeweitet, mehr und mehr auch hin zu Themen von gesamtgesellschaftlicher Relevanz wie etwa Datenschutz. Diese Themen zu beforschen und zum Nutzen der Subjekte in pädagogischen Prozessen bearbeitungsfähig zu machen und ihnen in Öffentlichkeit und Politik Gehör zu verschaffen, markiert eine Aufgabe, die die Medienpädagogik nicht allein bewältigen kann und will. Sie muss sich dazu in eine Allianz kritischer Human- und Sozialwissenschaften einbinden, der es darum getan ist, die Entwicklung der Medienwelt nicht dem Kalkül ökonomischer und ideologischer Interessen zu überlassen, sondern auf der Mitgestaltung der Subjekte zu beharren und die Mediatisierung der Gesellschaft in den Dienst konsequenter Demokratisierung zu stellen. Eine Fachzeitschrift wie merz kann hierbei Impulsfunktion übernehmen, sie muss aber auch den Finger in die Wunden legen, auf Versäumnisse in Theorie, Forschung und Praxis der Medienpädagogik hinweisen oder zur Prüfung und Reflexion fragwürdiger Positionen auffordern. Abgesehen davon, dass merz weiterhin ein Forum für den Diskurs über medienpädagogische Theorie, Forschung und Praxis sein muss, hängen die künftigen Aufgaben mit den Herausforderungen der skizzierten Entwicklung zusammen und erstrecken sich in unserer Sicht auf folgende Punkte:- Im Zuge der Mediatisierung der Gesellschaft steht für die Medienpädagogik mehr denn je die Frage im Mittelpunkt, wie sich Menschen in den verschiedenen Lebensphasen und in unterschiedlichen sozialen Lebensverhältnissen die Medienwelt aneignen, welchen Gewinn sie daraus für ihr Denken und Handeln ziehen können und welche gesellschaftliche Bedeu¬tung diese Medienaneignungsprozesse haben, seien dies Problemlagen oder Potenziale. Will merz Forum medienpädagogischer Reflexion sein, ist sie gefordert, diesen Zusammenhang von Medien, Subjekt und Gesellschaft kontinuierlich im Themenhorizont zu halten, dazu zu ermutigen, medienpädagogisches Handeln daran auszurichten und das Leugnen dieses Zusammenhangs zurückzuweisen. Damit kann sie dazu beitragen, Medienpädagogik im öffentlichen Raum zu positionieren und ihr im Kanon der ideologischen und ökonomischen Interessen der Mediendebatte Gewicht und Stimme zu sichern.
- Da die Medienwelt immer stärker mit gesamtgesellschaftlichen Herausforderungen, Problemlagen und Potenzialen verquickt ist, muss Medienpädagogik zentraler Bestandteil einer ganzheitlichen Bildungsvorstellung sein, die darauf zielt, den Menschen im Gesamt seiner Lebensvollzüge, auch in denen, die mit Medien verwoben sind, Handlungskompetenz und Souveränität zu sichern. Weder eine nur problem-, noch eine nur funktionsorientierte oder eine nur euphorische Sicht taugen als Grundlage. Vielmehr ist die Medienwelt als ein Zusammenhang zu sehen, in dem die Menschen beeinflusst werden und selbst Einfluss nehmen. Die Abspaltung des didaktischen Einsatzes von Medien in den offiziellen Bildungsinstitutionen vom Umgang mit der Medienwelt in Alltagszusammenhängen ist vor diesem Hintergrund endgültig obsolet, ja kontraproduktiv. Die Medien sind heute mehr denn je Mittler und Mittel zugleich und sie sind das in ein- und demselben Kontext. Die mit der Separierung pädagogischer Verwendungszusammenhänge verbundenen Fehlentwicklungen müssen in merz thematisiert und im Licht der aktuellen Medienentwicklung reflektiert werden. Insbesondere ist merz gefordert, pädagogische Ansätze, Modelle und Materialien zu entdecken und solchen Unterfangen Öffentlichkeit zu verschaffen, die medienpädagogisches Handeln im Kontext ganzheitlicher Bildung umsetzen. Dadurch kann merz zur Breitenwirkung einer die Medienpädagogik einschließenden ganzheitlichen Bildung beitragen.
- Grundlage jeder medienpädagogischen Praxis ist Forschung, die auf einem humanitären Menschenbild gründet und davon ausgehend untersucht, in welcher Weise sich die Men¬schen Medien aneignen, welchen Einfluss dabei die Medien in ihrer gesellschaftlichen Verfasstheit, die Sozialisationsinstanzen und personale Bedingungen wie Herkunft, Alter, Geschlecht et cetera und nicht zuletzt Politik und Ökonomie im globalen Kontext haben. Kurz: Forschung, die mit qualitativen Verfahren das Gesamt der Lebenszusammenhänge der Subjekte durchdringt und die Bedeutung der Medien darin klärt. Angesichts der Ausuferung medienbasierter Einflüsse und Tätigkeiten in die Lebensverhältnisse und Lebensvollzüge der Menschen muss medienpädagogische Forschung besonderes Augenmerk auf die Möglichkeiten richten, die die Subjekte selbst suchen bzw. finden, um sich gegenüber der Macht der Medien zu behaupten bzw. diese in demokratischer Weise zu beeinflussen. Pädagogisch ausgerichtete Medienforschung ist nicht akzeptanz- und verwertungsorientiert: sie strebt eine kritische Begleitung des Ist- Zustands an, mit dem Ziel dessen stetiger Verbesserung für die Subjekte, sie ist in ihren Fragestellungen und ihren Methoden qualitativer Forschung verpflichtet und sie liefert relevante Ergebnisse für diejenigen, die in (medien-) pädagogischen Zusammenhängen agieren und diejenigen, die in und mit Medien verantwortlich handeln wollen. In einem Fachforum, wie merz es gerade auch in der jährlichen Wissenschaftsausgabe bietet, ist dieser Anspruch medienpädagogischer Forschung regelmäßig zu thematisieren und durch den Diskurs über theoretische Ansätze und empirische Studien weiter zu entwickeln.
- Die Medienwelt wird nicht stagnieren, die technische Entwicklung und Vernetzung wird fortschreiten und weitere Bereiche unseres Lebens werden von Medien, besser von digitalen Gestaltungs- und Kommunikationstech-niken tangiert, durchdrungen und gesteuert werden. Medien werden immer weniger singulär betrachtet und bearbeitet werden können und sie werden sich immer weniger aus dem Gesamt gesellschaftlicher Gegebenheiten und Lebensvollzüge isolieren lassen. Die Entwicklung der Medien, die Mediatisierung der Gesellschaft und das Medienhandeln der Subjekte wirken in enger Verzahnung auf die gesellschaftliche Kommunikation und auf gesellschaftliche Wandlungsprozesse. Die Medienpädagogik hat es schon seit gerau¬mer Zeit mit gesamtgesellschaftlichen Themen zu tun, die den pädagogischen Raum überschreiten. Sie tut gut daran, sich ihrer Grenzen hinsichtlich der Bearbeitung dieser Themen bewusst zu werden, sie öffentlich zu artikulieren und offensiv die Etablierung interdisziplinärer Verbünde einzufordern. Der Schulterschluss mit human- und sozialwis-senschaftlichen Disziplinen und zusätzlich die Vernetzung der Bildungsorte können sichern, dass die Mediatisierungsprozesse in der Gesellschaft die Subjekte nicht überrollen, sondern von ihnen als Souveräne mitgestaltet werden. merz kann den Sinn solch interdisziplinärer Zusammenschlüsse zur Bearbeitung ge-samtgesellschaftlicher Themen, Probleme und Potenziale, die mit Medien in Zusammenhang stehen, in den Horizont heben und sie kann unter Beteiligung einschlägiger Disziplinen initiieren, die Weiterentwicklung der Medien im gesellschaftlichen und sozialen Zusammenhang konstruktiv und vorausschauend zu bearbeiten.
Literatur
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Dröge, Franz (1976). Positionen und Perspektiven der Medienerziehung. In: merz | medien + erziehung, 20 (2), S. 90–93.
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Holzer, Horst (1976). Zum Thema ‚Medienpädagogik‘ – zum Beispiel ‚Fernsehen‘. In: merz | medien + erziehung, 20 (3), S. 157–158.
Kazda, Joschi/Müller, Ali/Wember, Bernward (1971). Medien und Gesellschaft. In: Jugend Film Fernsehen, 15 (2–3), S. 63–89.
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Neuhäusler, Anton (1959). Verrohung durch Filme. In: Jugend Film Fernsehen, 3 (4), S. 11–18.
Reinmann, Gabi (2008). Lernen und Lehren im Zeitalter des Web 2.0. In: merz | medien + erziehung, 52 (2), S. 13–20.
Schorb, Bernd (1981). Nicht nur kritisch Stellung neh¬men – handelnd verändern. In: merz | medien + erziehung, 25 (4), S. 225–228.
Schorb, Bernd (2016, in Vorbereitung). Medien Konsum Kultur. In: merz | medien + erziehung, 60 (4).
Theunert, Helga (1996). Multi-Medienpädagogik. Pers¬pektiven aus wissenschaftlicher Sicht. In: merz | medien + erziehung, 40 (1), S. 24–29.
Theunert, Helga/Wimmer, Fred (1978). Auseinanderset¬zung mit der ‚Gewalt im Fernsehen‘. In: merz | medien + erziehung, 22 (4), S. 245–255.
Wember, Bernward (1971). Filmische Fehlleistungen. In: Jugend Film Fernsehen, 15 (2–3), S. 90–116.Bernd Schorb: gratulation Wolfgang Brudny
Dr. Wolfgang Brudny, Mitgründer und Ehrenvorstand des JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis feierte am 25. August 2015 seinen 90. Geburtstag. Die Medienpädagogik hat Wolfgang Brudny während seines Lebens begleitet und er hat sie mit getragen. 1949 als Student bei Prof. Martin Keilhacker an der Universität München hat er den Arbeitskreis Jugend und Film e. V., die Keimzelle des heutigen JFF mit gegründet. Als ein Pionier medienpädagogischer Forschung war er in den folgenden Jahren an den Untersuchungen des Arbeitskreises zum ‚Filmerleben‘, wie Medienaneignung damals genannt wurde, beteiligt. Die Ergebnisse dieser Forschung schlugen sich 1953 nieder in seiner Dissertation mit dem Titel: „Das Kind zwischen Spielfilm und Schulfilm. Gestaltungsfragen des Unterrichtsfilms im Hinblick auf das außerschulische Filmerleben der Jugend“. Die fundierten Kenntnisse, die er sich hier erworben hatte, bestimmten seine weitere berufliche Laufbahn. Bis zu seiner Pensionierung im Jahre 1988 war Wolfgang Brudny am Institut für Film und Bild (FWU) in München bzw. Grünwald tätig.
Als Produktionsreferent für Jugend- und Erwachsenenbildung sind nicht zuletzt ihm die wegweisenden Unterrichtsfilme dieses Instituts zu verdanken. Seine Sach- und Fachkompetenz brachte er auch in seine Gutachtertätigkeit in den Gremien der Filmbewertungsstelle der Länder (FBW) und der Freiwilligen Selbstkontrolle (FSK) ein. Immer blieb Wolfgang Brudny dem JFF verbunden. Fast durchgängig seit der Gründung war er Mitglied des Vorstands, seit 1999 ist er dessen Ehrenmitglied. In dieser Zeit hat er aktiv die Entwicklung des JFF mit wertvollem Rat und zuverlässig in der Tat begleitet. Durch seine Beiträge in merz | medien + erziehung haben sein Wissen und seine Anregungen die Medienpädagogik in Deutschland bereichert. Das JFF und merz gratulieren Wolfgang Brudny herzlich. Wir wünschen uns, noch lange an seiner Expertise teilhaben zu dürfen.
Für den Vorstand des JFF e. V. und die Herausgeber von merz | medien + erziehung Prof. Dr. Bernd Schorb
Bernd Schorb: Geschafft: Medienkompetenz ist endlich messbar!
Wie oft werden Probleme an die Wissenschaft herangetragen und sie kann sie nicht lösen. Ein solches Problem ist die Medienkompetenz. Sie wird dringendst gebraucht, quasi als Panzer gegen ständig neue Gefahren, die durch die Medienindustrie erzeugt werden. Gewaltdarstellungen oder die Anteignung der persönlichen Daten sind nur zwei einer Unzahl von Problemen, die uns bedrängen. Zwar hätte der Staat eigentlich die Aufgabe, uns zu schützen, aber erstens halten sich Politiker für überfordert, zweitens halten sie es für opportun mit den Medienkonzernen zu kooperieren und drittens sind einige staatliche Organe selbst sehr an unseren persönlichen Daten interessiert. Aber, der Staat ist keineswegs untätig. Er fördert die Medienkompetenz, vor allem die der jungenMenschen, die ja am meisten gefährdet sind. Die Förderung besteht primär aus der Finanzierung von Kurzzeit-Praxisprojekten.
Irgendwann wird die Frage gestellt, ob die Modelle denn nach dem Kosten-Nutzen-Gesetz erfolgreich sind. Und dann gibt es neue Gelder, um den Erfolg zu messen und in Zahlen darzustellen. Allerdings waren und sind die medienpädagogischen Fachleute der Meinung, dass man das komplexe Fähigkeitsbündel Medienkompetenz nicht mit statistischen Methoden erfassen kann. Aber jetzt meint einer: er kann’s. Mit Geldern eines Wissenschaftsministeriums hat ein Professorenkollege das Problem gelöst (www.ganztagsschulen.org/de/7624.php; 1.8.2014): „Will man nun Studien auflegen, verfügt die Medienpädagogik… über kein Methodeninstrumentarium. An unserem Institut betreiben wir Kommunikationswissenschaft…, in der wir sehr wohl über Methoden verfügen, Medienkompetenz zu messen.“ Und er hat ganz neue Methoden gefunden: „Wir haben einen Online-Fragebogen entwickelt, der innerhalb einer Schulstunde im Computerraum der Schulen bearbeitet werden kann.“ Zugleich, so dachte ich als Kommunikationswissenschaftler, hat er, wie es ja in jedem Lehrbuch steht, Medienkompetenz definiert und operationalisiert.
Nicht ganz: Wir haben „uns auf einen kleinen Ausschnitt des weiten Feldes Medienkompetenz, auf die Medienkritikfähigkeit, fokussiert … Wie sensibilisiert man Jugendliche, dass sie nicht alles, was in der Zeitung steht, für bare Münze nehmen?“ Die Praxisprojekte, die er dazu anschaute, definierten aber Medienkritik nicht als Zeitungskritik, wie das der Kollege gern gehabt hätte, sondern hatten „einen hohen Lebensweltbezug… da geht es dann um das Handy als Kostenfalle, um Cyber-Mobbing.“ So half nur noch der Griff in die Mottenkiste der Zeitungswissenschaft, das Andocken an „Gremien, die sich mit Qualitätskontrolle beschäftigen, namentlich dem deutschen Presserat, der regelmäßig Rügen für schlechten Journalismus ausspricht. Dies war für uns die ergiebigste Quelle. Wir haben an dieser Stelle den Übersetzungsschritt getan zu sagen: Medienkritikfähig ist, wer das, was professionell kritisiert worden ist, nachvollziehen kann.“
Jetzt wissen wir, dass Medienkompetenz als echte schulische Leistung gemessen werden kann: Nachbeten, was der Presserat kritisiert. Wir wissen auch, dass man sich als Kommunikationswissenschaftler um die digitalen Medien nicht kümmern muss. Wie gut, dass wir schon vor fünfzig Jahren in Gemeinschaftskunde Zeitungsartikel auf ihren Wahrheitsgehalt untersucht haben und ich seitdem medienkompetent bin.
Bernd Schorb: Gebildet und kompetent.
Medienkompetenz beschreibt die Fähigkeit, sich Medien auf Basis strukturierten zusammenschauenden Wissens und einer ethisch fundierten Bewertung der medialen Erscheinungsformen und Inhalte anzueignen. In den letzten Jahren war auch unter Vertreterinnen und Vertretern der Erziehungswissenschaft die Tendenz zu verzeichnen, den Begriff „Medienkompetenz“ durch den der „Medienbildung“ zu ersetzen, da deren Ansicht nach beide Begriffe zueinander im Gegensatz stehen. Ob und inwieweit das gerechtfertigt erscheint, wird anhand einschlägiger Werke der Medienpädagogik untersucht.LiteraturAufenanger, Stefan. (2000). Mediale Visionen und die Zukunft der Medienpädagogik. Medien praktisch, 1, 4 - 8.Baacke, Dieter. (1973). Kommunikation und Kompetenz. Grundlegung einer Didaktik der Kommunikation und ihrer Medien. München: Juventa. Baacke, Dieter. (1996). Medienkompetenz - Begrifflichkeit und sozialer Wandel. In Antje von Rein (Hrsg.), Medienkompetenz als Schlüsselbegriff (S. 112 - 124). Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Groeben, Norbert. (2002). Dimensionen der Medienkompetenz: Deskriptive und normative Aspekte. In Norbert Groeben & Bettina Hurrelmann (Hrsg.), Medienkompetenz: Voraussetzungen, Dimensionen, Funktionen (S. 161 - 203). Weinheim - München: Juventa. Habermas, Jürgen. (1972). Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz. In Horst Holzer & Karl Steinbacher (Hrsg.), Sprache und Gesellschaft (S. 208 - 236). Hamburg: Hoffmann und Campe.Jörissen, Benjamin & Marotzki, Winfried. (2009). Medienbildung - Eine Einführung. Bad Heilbrunn: Julius KlinkhardtKlafki, Wolfgang & Braun, Karl-Heinz. (2007). Wege pädagogischen Denkens. Ein autobiografischer und erziehungswissenschaftlicher Dialog. München Basel: Ernst Reinhard. Kübler, Hans-Dieter. (1999). Medienkompetenz - Dimensionen eines Schlagwortes. In Fred Schell, Elke Stolzenburg & Helga Theunert (Hrsg.), Medienkompetenz. Grundlagen und pädagogisches Handeln (S. 25 - 47). München: kopaed. Lange, Andreas & Schorb, Bernd. (2006). Zwischen Entgrenzung und Restabilisierung - Medien als Generatoren von Jugend. merz (medien + erziehung) 4/06, 50, 8 - 14.Mandl, Heinz, & Reinmann-Rothmeier, Gabi. (1997). Medienpädagogik und -kompetenz: Was bedeutet das in einer Wissensgesellschaft und welche Lernkultur brauchen wir dafür? In Enquete Kommission: Zukunft der Medien (Hrsg.), Medienkompetenz im Informationszeitalter (S. 77 - 89). Bonn: ZV Zeitungs-Verlag-Service. Marotzki, Winfried. (2004). Von der Medienkompetenz zur Medienbildung. In R. Brödel & J. Kreimeyer (Hrsg.), Lebensbegleitendes Lernen als Kompetenzentwicklung. Analysen- Konzeptionen - Handlungsfelder (S. 63 - 74). Bielefeld: wbw Bertelsmann. Medienpädagogisches Manifest (2009) Keine Bildung ohne Medien. merz (medien + erziehung) 2/2009. 53 (S. 70 – 72).Pietraß, Manuela. (2005). Für alle alles Wissen jederzeit . Grundlagen von Bildung in der Mediengesellschaft. In Hubert Kleber (Hrsg.), Perspektiven der Medienpädagogik in Wissenschaft und Bildungspraxis (S. 39 - 50). München: kopaed.Pöttinger, Ida. (1997). Lernziel Medienkompetenz. Theoretische Grundlagen und praktische Evaluation anhand eines Hörspielprojekts. München: kopaed.Schorb, Bernd. (1995). Medienkompetenz in Europa. Die vielfältigen und unterschiedlichen Wege dahin zu gelangen. In Jürgen Lauffer & Ingrid Volkmer (Hrsg.), Kommunikative Kompetenz in einer sich verändernden Medienwelt (S. 166 - 178). Opladen: Leske + Budrich. Schorb, Bernd. (1997). Medienkompetenz. In Hüther, Jürgen, Schorb, Bernd, & Brehm-Klotz, Christiane (Hrsg.), Grundbegriffe Medienpädagogik (Bd. 3.Aufl., S. 234 - 240). München: kopaed. Schorb, Bernd. (2005). Medienkompetenz. In Jürgen Hüther & Bernd Schorb (Hrsg.), Grundbegriffe Medienpädagogik (Bd. 4.Aufl., S. 257 - 262). München: kopaed. Schorb, Bernd. (2006). Argumente für eine integrale Medienpädagogik. In Helga Theunert (Hrsg.), Bilderwelten im Kopf (S. 17 - 21). München: kopaed. Spanhel, Dieter. (2006). Medienerziehung. Handbuch Medienpädagogik Band 3. Stuttgart: Klett-Cotta. Theunert, Helga. (1999). Medienkompetenz: Eine pädagogische und altersspezifisch zu fassende Handlungsdimension. In Fred Schell, Elke Stolzenburg & Helga Theunert (Hrsg.), Medienkompetenz. Grundlagen und pädagogisches Handeln (S. 50 - 59). München: kopaed. Tulodziecki, Gerhard. (1997). Thesen zum Beitrag der Schule zur Medienpädagogik. In Enquete Kommission: Zukunft der Medien (Hrsg.), Medienkompetenz im Informationszeitalter (S. 53 - 58). Bonn: ZV Zeitungs-Verlag-Service. Wagner, Ulrike & Theunert, Helga (Hrsg.). (2006). Neue Wege durch die konvergente Medienwelt. München: Reinhard Fischer. Wagner, Wolf-Rüdiger. (2004). Medienkompetenz revisited. Medien als Werkzeuge der Weltaneignung: ein pädagogisches Programm. München: kopaed. Wijnen, Christine W. (2008). Medien und Pädagogik international. Positionen, Ansätze und Zukunftsperspektiven in Europa und den USA. München.kopaed
Bernd Schorb: Die Sprachlosigkeit bekämpfen
Für unsere Gefühle aber auch für eine Erklärung des Geschehens von Erfurt fehlen uns die Worte. Doch auch für die Reaktionen der Boulevardmedien ebenso wie vieler Politiker fehlen mir die Worte. Haben alle wirklich ein so kurzes Gedächtnis, dass sie Politikern und Boulevardmedien Glauben schenken, die nun Medienverbote fordern? Kann sich keiner erinnern, dass bei jedem Amoklauf, sei es in einem bayrischen Internat oder in Freising das Gleiche gefordert wurde und nichts geschehen ist? Warum werden Verbote gefordert und dann von den gleichen Leuten nicht umgesetzt?Dafür gibt es "gute" Gründe. Einer ist, dass man weiß, dass das Problem nicht allein und nicht einmal primär bei den Medien liegt. Es ist völlig richtig, dass man fragen muss, warum wir es zulassen, dass in Spielen und Filmen Gewalt geradezu abgefeiert wird. Es ist auch zu fragen, warum die Mitglieder unserer traditionsreichen Schützenvereine Pumpguns kaufen dürfen.
Gegen die exzessive Gewalt in allen Medien gehört etwas getan und dies hätte auch schon geschehen können. Erreicht wäre damit aber noch nicht sehr viel.Wider besseren WissensMedieninhalte sind nicht Verursacher von Gewalthandlungen, sondern Verstärker von Gewaltbereitschaft. Das wissen Wissenschaft, Politik und Medien seit einem Vierteljahrhundert. Medien können nur dort verheerend wirken, wo bereits Voraussetzungen gegeben sind. Bei Menschen, die so labil oder krank sind, dass sie Gewalt als Ausweg aus ihrer Misere sehen.Gewaltverherrlichende Medien entstehen und finden nur in einer Gesellschaft massenhafte Abnehmer, die es akzeptiert, dass Gewalt als Mittel des Handelns propagiert wird. Fehlen Zuschauer und Käufer durch gesellschaftliche Ächtung von Gewalt, dann gibt es auch keine Gewaltmedien mehr. Geld und Gewinn sind die obersten Maximen unserer Ökonomie – auch im Medienbereich.Die Realität: Deregulierung statt EinschränkungGewalt in den Medien hat immer zwei Seiten. Sie hält uns einerseits einen Zerrspiegel vor, in dem wir in übertriebener Weise sehen, welche Werte wir akzeptieren und was wir für "normal" halten. Andererseits kann sie das Gewalthandeln solcher Menschen mit anstoßen, die nur darin einen Weg aus einer persönlichen Katastrophe sehen.Gegen die Propagierung von Gewalt in allen Medien muss natürlich etwas getan werden, aber man darf sich davon nicht erwarten, dass solche Fälle wie Erfurt verhindert werden. Zumal es unwahrscheinlich ist, dass tatsächlich etwas unternommen wird. Schon gar nicht von denen, die jetzt laut nach Sofortmaßnahmen rufen. Denn eine Behinderung der Medien stünde gegen die erklärte Politik der Bundes- und Landesregierungen ebenso wie gegen die der großen Parteien.
In der realen Medienpolitik in Deutschland geht es nicht um Verbote oder Einschränkungen, sondern um Deregulierung. Und das heißt: Beseitigen, was das Wachstum der Medienindustrie behindern könnte. Wie sonst ist es zu erklären, dass einerseits Verbote gefordert werden und andererseits ein Jugendmedienschutzgesetz vorbereitet wird, das die Kontrolle der Medieninhalte dem Einfluss der Medienindustrie überlässt?Dann bestimmen so genannte Selbstkontrollen über die Inhalte und deren Gefährlichkeit – beim Fernsehen ebenso wie bei Computerspielen, bei deutschen Internetanbietern ebenso wie bei den Videoverleihern. Über den Inhalt dieses Gesetz sind sich Bund und Länder schon letztes Jahr einig gewesen, nur wegen der Zuständigkeiten gab es wie üblich Streit. Es wird wohl im November verabschiedet werden – nach den Wahlen, wenn Ruhe auch über das Grauen von Erfurt eingekehrt ist.Und die Boulevardmedien? Sie haben schon gar keine Interesse, Verbote zu fordern. Sie tun dies so lange die Katastrophe brandaktuell ist, aber dann schweigen sie, wie sie das bei jedem der vorherigen Amokläufe getan haben. Wären sie doch selbst von einem solchen Verbot betroffen.Woher kommt die Sprachlosigkeit?
Wie Erfurt gezeigt hat, ist das grundlegende Problem die Sprachlosigkeit: Ein junger Mann, der mit seinen Eltern in einer für ihn existenziellen Situation nicht reden kann, ihnen nicht einmal sagt, dass er von der Schule geflogen ist. Er redet über sich und seine Probleme auch mit niemand anderem, weil er wohl in seinen Mitschülern, Lehrern und Schützenbrüdern keine Freunde hat. Er flüchtet sich in mediale Scheinwelten und auf den sehr realen Schießstand.Diskutiert werden müsste darüber, wie es dazu kommen kann, dass wir so unfähig sind miteinander zu kommunizieren, zu erkennen, wenn der Mensch gegenüber verzweifelt, krank oder gar gefährlich wird. Natürlich würden wir in einer solchen Diskussion auch Einigkeit darüber erzielen, was die Medien sollen und was nicht und wir würden das auch umsetzen. Aber in erster Linie würden wir uns bei uns selbst und in unserer Gesellschaft umsehen, wo die Ursachen für solche Katastrophen liegen.Richtige KonsequenzenSo sehr mich das Verhalten der Boulevardmedien und führender Politiker erzürnt und zugleich deprimiert hat, so sehr habe ich mich über die Nachricht gefreut, dass die Gutenberg Schule in Erfurt vor hat, sich als Reaktion nicht abzukapseln, sondern das Miteinander zu verbessern. Sie wollen zur Modellschule werden, in der alle lernen, sich wahrzunehmen, gemeinsam zu sprechen und zu handeln. Das ist eine kluge und weitsichtige Antwort aus Erfurt, von der alle lernen können.
Bernd Schorb: Auch geistige Waren brauchen Qualitätsschutz
Information ist ein Bürgerrecht mit einem so hohen Rang, dass es sowohl in der Verfassung der USA verankert ist, als auch in der zukünftigen europäischen. Die Informationsfreiheit gilt als Basis einer demokratischen Gesellschaft.Die publizistischen Medien sind die vierte Macht im Staat, ihre Aufgabe ist es, unabhängig von der Staatsgewalt diese zu kontrollieren, unabhängig und überparteilich. Diesen oder einen ähnlichen Satz lernen unsere Kinder schon in der Schule.
Aber: Deregulierung ist eine der wichtigsten Voraussetzungen, um dem Markt der neuen Medien eine Entwicklungschance zu geben. So verkünden es Bundes- und Landesregierungen.Information ist eine Ware, die sich auf den neuen Medienmärkten realisiert. Wer über die meisten Informationen und die entsprechenden Distributionsmöglichkeiten verfügt, der hat auf den neuen Märkten die besten Chancen. Diesen oder einen ähnlichen Lehrsatz kennt heute jeder Kleinaktionär aus den Börsennachrichten.Wie geht das zusammen? Wenn Deregulierung bedeutet, dass jeder, der über Information verfügt, frei ist, mit dieser zu tun, was immer er will, sie zu horten, zu verkaufen, zu verändern, zu vernichten ... Wenn Information eine Ware ist, die wie jede andere Ware, wie Schlagringe, Rindfleisch oder Bordeaux-Wein gehandelt wird... Wer sichert dann die Qualität der Information? Wer sichert das Recht, tatsächlich über alle öffentlichen Informationen verfügen zu können. Wer macht öffentlich bedeutsame Informationen öffentlich und wer verhindert, dass Informationen über das Privatleben der Menschen öffentlich werden?
Das hehre Gut Information ist dabei, zu einer beliebigen und austauschbaren Handelsware zu werden. Als geistige Nahrung für ein gesundes Leben der Menschen ebenso wichtig wie die ess- und trinkbaren Lebensmittel erleidet sie das gleiche Schicksal wie diese. Sie kann nutzen oder schaden, ist echt oder künstlich, keiner kann es wirklich unterscheiden. Die Nahrung kann gut schmecken und doch schädigen. Aus dem Bereich der Lebensmittel lernen wir täglich neue Beispiele kennen, die darauf verweisen, dass die Selbstverantwortung der Produzenten schwindet, wenn es um den Profit geht. Ist es beim Fernsehen anders, kann man sich hier auf den Geschmack der Konsumenten oder die Verantwortung der Produzenten verlassen?
Wer sichert uns die Qualität der Information?Sind es die attraktiven Informationssendungen? Vielleicht ein Sender, der nur einmal am Tag Nachrichten ausstrahlt, deren Inhalt von den neuesten Entwicklungen im Big Brother-Container bis zu den Beziehungsproblemen eines Filmstars reicht? Oder belehren uns gar die Informationsmagazine, die schon mit ihren Namen verdeutlichen, dass es ihnen um Brisantes, Blitze und Explosionen geht und uns eine Welt voller großer Menschen in Glamour und kleiner Menschen im Schrecken darbieten?
Sind es die Journalisten? Vielleicht gerade jene, die aus der privaten frisch gegründeten Ausbildungsstätte eines Senders stammen, dem das Lehrangebot der renommierten Journalistenschulen nicht mehr zugesagt hatte. Unzeitgemäß fand er deren Ausbildung, stellte seine Unterstützung ein und gründete eine hauseigene. Eine Landesmedienanstalt stieg mit ihren Einkünften aus unserem Kabelgroschen bei dieser Senderschule mit ein - um die Qualität der Ausbildung zu sichern? Oder sind es die neuen Real-Life-Shows? Wird uns nicht live in Laborexperimenten präsentiert, wie sich junge Menschen in geschlossenen Räumen verhalten? Erfahren wir nicht in unzähligen Talkshows, welche Probleme sich hinter der Fassade des Alltags verbergen? Oder können nicht junge Frauen lernen, wie sie sich prostituieren müssen, um einen Millionär zu ergattern?
Die Beispiele ließen sich beliebig fortsetzen und täglich kommen neue hinzu. Mit jedem Beispiel stellt sich die Frage wieder, ob die Deregulierung des Medienmarktes der allein selig machende Weg in die gelobte Medienzukunft ist, oder ob es nicht doch so etwas wie der Regeln eines medialen Anstandes bedarf?Wenn der Vergleich stimmt, dass Information für unseren Geist die gleiche Bedeutung hat wie Speis und Trank für unseren Körper, dann haben wir auch ein Recht darauf, die Qualität von Information gesichert zu bekommen, durch Sendungen, die die Welt nicht als Lügengebäude darstellen, durch Informationen, die wirklich von Nutzen sind, um unser privates wie das gesellschaftliche Leben zu gestalten, durch Wahrung der Würde auch der Menschen, die nicht fähig sind, sich selbst vor Exhibitionismus und Voyeurismus zu bewahren, und durch unabhängige kritische und selbstkritische Informations-Macher.
Bernd Schorb, Susanne Eggert: Editorial
E-Learning ist heute aus keinem pädagogischen Lehrraum mehr wegzudenken. In allen Bereichen von Schule über die berufliche bis zur universitären Ausbildung und besonders im Bereich der beruflichen Weiterbildung und Schulung hat es sich etabliert. Allerdings, unter E-Learning wird sehr häufig die bloße Multiplikation von PowerPoint-Präsentationen erfasst. Eine oft schon erprobte Lehreinheit wird visualisiert, statt mit Plastikfolien mit PowerPoint als dem roten Faden eines Vortrages. Die elektronischen Folien werden anschließend für die Nachbereitung im Netz belassen. Auch die Information – manches Mal auch Auflockerung – mittels auditiver Materialien wie Interviews und Vorträgen sowie visueller Grafiken, Fotografien und Videos in Curricula und Seminaren wird als E-Learning bezeichnet. Ebenso häufig ist E-Learning nichts anderes als der Ersatz von schriftlichen Materialien durch digitale. An den Universitäten beispielsweise nutzen die Lehrenden die vorhandenen Lernplattformen, um ihren prüfungsrelevanten Lehrstoff zu lagern und abrufbar zu machen: ihr Vorlesungsskript und die Pflichtliteratur. Gemeinsam ist den meisten Vorhaben, dass sie das Etikett elektronisches Lernen nutzen, aber keine Konzeption oder gar ein ausgearbeitetes Modell zugrundegelegt ist. Eher selten finden sich bis heute durchgestaltete, technisch und didaktisch fundierte Projekte, die sich bereits bewährt haben, sich einer ständigen Evaluation unterziehen und sich als Vorbilder für andere eignen.
Die Gründe dafür, dass es heute viele – zumindest nominelle – E-Learning Projekte gibt, sind vielfältig. Zum einen sind in den letzten zwanzig Jahren gezielt öffentliche Mittel, aber auch Zuwendungen von Stiftungen wie beispielsweise der VW-Stiftung in die Entwicklung von Modellen des E-Learning geflossen und sie fließen noch immer. Die vielen Modelle, die in Aus- und Weiterbildung finanziert wurden, haben sich in der Weise niedergeschlagen, dass heute fast flächendeckend Lernplattformen genutzt werden. Zugleich hat die Etablierung von E-Learning Plattformen bei den Bildungseinrichtungen zu einem Ausbau der Infrastrukturen und neuen Arbeitsbereichen geführt. Die Anbieter kommerzieller Plattformen verdienen gut am E-Learning Boom und die Anpassung, Betreuung und Weiterentwicklung der zum Einsatz kommenden Software braucht sachkundiges Personal.So hat jede Universität heute einen eigenen Bereich, der mit unterschiedlichen Benennungen, die diversen E-Learning Aktivitäten berät und mehr oder minder auch betreut. Die notwendige Betreuung ist nur für den technischen Betrieb von Plattformen gewährleistet, sie sorgt dafür, dass sie ‚funktionieren‘. Aber auch hier gibt es, je nach Finanzausstattung noch viele offene Wünsche. Die kommerziellen E-Learning Plattformen sind häufig nicht auf eine kooperative, offene und flexible Gestaltung des Lehr-Lernprozesses ausgerichtet und haben mangelhafte Mitgestaltungsmöglichkeiten für die Lernenden, außerdem sind sie teuer. Die frei zugänglichen, nichtkommerziellen Plattformen werden oft nicht ausreichend gewartet und/oder überfordern die technisch-organisatorischen Kapazitäten der Einrichtungen, die die E-Learning Anwendungen betreuen. Drei besondere Problembereiche sind hier zu nennen: Bedienung, Interaktivität und Einbindung anderer Medien. Die Bedienung der Lernplattformen folgt oft einer eigenen Logik, in die sich die Nutzenden erst einarbeiten müssen.
Das hat zur Folge, dass die betreuenden Bereiche damit ausgelastet sind, Lehrende und Lernende in die Nutzung der Plattformen einzuweisen und ihnen die Zeit zur Wartung und Weiterentwicklung der Plattformen fehlt. Damit direkt in Verbindung steht die mangelnde Interaktivität vieler Plattformen. Die interaktiven Möglichkeiten werden nicht genutzt, weil die Schwierigkeiten in der Bedienung und vor allem die komplizierte Struktur der Wege und Möglichkeiten die Nutzenden überfordern. Auch technische Mängel mancher Plattformen wie die Unmöglichkeit, Dateiordner, Filme oder Sprache einzubinden, verhindern eine interaktiv gestaltende Nutzung der Angebote. Das Hauptproblem aber ist die Didaktik. Bei der Einführung neuer Medien in Bildungseinrichtungen hat sich schon immer eine Diskrepanz aufgetan zwischen dem technischen Aufwand und der pädagogischen Qualität der Nutzung der Technik. Die Geschichte des programmierten Lernens, das schon in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts die Unterrichtung der Lernenden mittels Medien effektivieren und optimieren sollte, zeigt, dass zwar Staat und Wirtschaft Mittel für die Hardware zur Verfügung gestellt haben, dass aber pädagogische Konzepte für deren Einsatz ebenso fehlten, wie die Motivation der Lehrenden die Medientechniken zu nutzen.
Programmiertes Lernen beispielsweise wurde in aufwändigen Modellprojekten finanziell gefördert, fand aber nie Eingang in die Wirklichkeit des institutionalisierten Lehrens und Lernens. Video-und Sprachlabore, von den späten 60-er bis in die 80-er Jahre des letzten Jahrhunderts en vogue, sind heute weitestgehend verschwunden. Selbst E-Learning war über mindestens ein Jahrzehnt an den Universitäten ein aufwändiger Experimentalbereich einzelner Projekte, der zwar keinerlei Breitenwirkung hatte, aber gut finanziert war und nützlich für den Ruf der Hochschule als modern und aufgeschlossen. Der pädagogisch nicht ausreichend fundierte Einsatz von E-Learning liegt, neben den bereits benannten technisch-organisatorischen Problemen, darin begründet, dass es an mediendidaktischen Konzepten mangelt. E-Learning unterscheidet sich von anderen medialen Optimierungstechniken dadurch, dass nahezu alle Funktionen, die die Lernplattformen anbieten, den Lernenden prinzipiell bekannt sind: Lesen und Schreiben von Texten, Abrufen von audiovisuellen Medien, Kommunikation mit anderen, Interaktives Handeln bei gemeinsamen Interessen, Präsentation von eigenen Werken. Alle diese Spezifika der Plattformen finden sich auch auf den Netzplattformen, die dem sozialen Austausch oder der Unterhaltung dienen. Allerdings orientieren sich die Bedienungsvorgaben hier im Gegensatz zu den Lernplattformen an den Interessen der Nutzenden an Kommunikation, Information und Unterhaltung. Die gewünschten Funktionen sind für die Nutzenden einfach und schnell zu entdecken und zu bedienen. Die Lernplattformen richteten sich bislang weniger an den Interessen ihrer Nutzenden aus als an den technischen Möglichkeiten, vorgestaltet portioniertes Wissen zu verbreiten. Zu heutigen E-Learning Angeboten werden Instruktionstechniken, theoretisch orientiert an Modellen der Kognitionspsychologie angeboten. E-Learning Modelle zeichneten (und zeichnen sich häufig noch immer) durch die Aufbereitung und Umsetzung von Lehrstoffen aus, wobei der Inhalt des Gelehrten ebenso wie die Voraussetzungen der Lernenden von sekundärer Bedeutung sind. In den letzten Jahren jedoch gerieten neben der Technik und bildungstechnologischen Lerntheorien auch andere Theorien der Mediendidaktik ins Blickfeld. Eine der heute (wieder) diskutierten Theorien ist die des ‚Instructional Design‘, die zwar schon in den 70-er Jahren des letzten Jahrhunderts von Gagné aufgestellt wurde, sich zwar am Lernstoff orientiert, aber sich zumindest in ihrer Methodik an Empirie orientiert, also statt bloß Vorgaben zu machen, deren Effektivität überprüft. Weiter entwickelt wird dieser Ansatz in ‚Design based‘ Modellen, die die didaktischen Innovationen im Prozess des Lehrens und Lernens entwickeln und evaluieren. Überraschend ist, dass die nahezu vergessene Handlungs- und Aktionsforschung im Kontext elektronischen Lernens wieder diskutiert wird. Sie ist auf dem Umweg über die USA und die Diskussion um den Ansatz des ‚Design based research‘ in die Debatte um die Didaktik des E-Learnings einbezogen worden. Insbesondere die Beteiligung der Lernenden an der Gestaltung der vermittelten Informationen und der Prozesscharakter, der Lehren und Lernen als Ermöglichung, nicht als geschlossene Vorgabe sieht, werden hier herausgestellt.
In diesen Ansätzen einer Mediendidaktik als Strukturierungsangebot für einen offenen Lernprozess werden auch die Erfahrungen von Pädagoginnen und Pädagogen einbezogen, die gehofft hatten, mittels der Techniken des E-Learnings von der einseitigen Vermittlung reinen Lehrstoffs entlastet zu werden und sich mehr den Möglichkeiten des handelnden, exemplarischen und sozialen Lernens widmen zu können. Gerade die Frage der sozialen Einbettung des Lernens ist ein nicht gelöstes Desiderat des E-Learnings. Wissensaneignung ist ein sozialer Prozess ist, der vor allem dort, wo Wissen vertieft und in Zusammenhängen erfasst werden soll, der unmittelbaren Kommunikation bedarf und nicht nur auf elektronischem Wege vermittelt werden kann, weil die Kommunikation grundsätzlich einseitig durch die technischen Bedingungen der Lehrplattformen bestimmt werden und die Möglichkeiten sozialen Lernens marginal sind. Zwar sind die meisten E-Learning Angebote heute zugleich solche des ‚Blended Learning‘, das heißt, dass eher anonymes elektronisches Lernen abwechselt mit Lernen in realen Seminargruppen, die es erlauben, alle positiven Möglichkeiten der personalen Kommunikation in den Lehr-Lernprozess einzubeziehen. Aber solange im Rahmen instruktionstechnischer Modelle des E-Learnings unter Gruppenarbeit die kollektive Ausrichtung einer Gruppe Lernender auf den identischen Lehrstoff und dessen kollektiver Messung in Klausuren verstanden wurde, konnte soziales Lernen nicht als Problem oder gar Notwendigkeit entdeckt werden. Mit der Einsicht, dass mittels Instruktionstechnologie nur Wissensbestände distribuiert und die subjektive Speicherung gemessen, aber keine komplexen Denkvorgänge gefördert werden, wurden Tore für die Überwindung dieses Mangels geöffnet. Wenngleich die meisten aktuellen Modelle des E-Learnings noch dem instruktionalen Einweglernen verpflichtet sind, so geht die Entwicklung doch dahin, die vorhandenen technischen Möglichkeiten den Notwendigkeiten eines sozial orientierten Lernens anzupassen, das heißt, handelndes und gestaltendes Lernen zu ermöglichen. Eine erfolgversprechende Entwicklung geht dahin, Lernplattformen mit den technischen und didaktischen Mitteln auszurüsten, die es erlauben, den Lehr-Lernprozess zu einem gemeinsamen von Lehrenden und Lernenden zu machen. Sollen Lernplattformen akzeptiert werden, so sollten sie sich der Fähigkeiten bedienen, die sich die Menschen im Umgang mit dem Netz angeeignet haben. Hierzu gehört zum Beispiel die Möglichkeit, Themen und Probleme zu vertiefen, medial zu gestalten und sie über die Plattformen den Mitlernenden anzubieten und einen kritischen Diskurs über das Gelernte zu führen.
Vor 14 Jahren zu Beginn der Debatte um elektronisches Lernen habe ich am Beispiel virtueller Seminare in merz Postulate für E-Learning formuliert, die sich gegen die Verabsolutierung elektronischer Lernangebote wenden, aber sie sehr wohl als Ergänzung und Weiterentwicklung des Lehrens und Lernens sehen: „Sieht man sie nicht als Ersatz, sondern als Ergänzung der konventionellen Ausbildung und legt man vor allem Wert auf eine entsprechende lerntheoretische Fundierung, didaktische Gestaltung und hochschuldidaktische Einbettung […], so könnten sie geeignet sein, […] Sachverhalte […] differenziert aufbereitet und veranschaulicht […] orts- und zeitunabhängig weiterzugeben.“ Die vorliegenden Artikel zeigen, welche vielfältigen Wege E-Learning heute geht und wie weit es gekommen ist. Karla Spendrin setzt sich in ihrem Beitrag mit dem allgemeindidaktischen Berliner Modell und dessen Bedeutung für das E-Learning auseinander. Das Berliner Modell, das in den 60-er Jahren im Hinblick auf schulische Unterrichtssituationen entwickelt wurde, erläutert, welche Faktoren auf Lehr- und Lernprozesse einwirken und wie diese jeweils zusammenhängen. Da E-Learning nicht nur im schulischen Kontext angesiedelt ist, muss das Berliner Modell im Hinblick auf alle gestalteten Lehr- und Lernprozesse erweitert werden. Julia Glade und Anett Hübner greifen sich hier das Beispiel Hochschule heraus. Die zunehmende Bedeutung des E-Learnings ist hier nicht zu übersehen. Der richtige Weg, Online- und Präsenzlernen zu verbinden, bedeutet aber oftmals (noch) eine Herausforderung. Glade und Hübner zeigen, dass es hier vor allem auf didaktische Überlegungen ankommt. Anhand ihrer Erfahrungen aus dem E-Learning Projekt an der Universität Leipzig haben sie Handlungsanleitungen für die Konzeption und Durchführung von Blended Learning-Szenarien entwickelt.
Dass E-Learning auch schon in der voruniversitären Bildung ‚in der Schule‘ seinen Platz hat, zeigt Jochen Hettinger. Er macht allerdings auch deutlich, dass „E-Learning im Sinne des Lehrens und Lernens mit Hilfe von Lernmanagementsystemen“ für die Schule zu eng gefasst ist. Um „das Potenzial der digitalen Medien für Schule zu entfalten und zu nutzen“ stellt er das Konzept des ‚mediengestützten Lernraums Schule‘ vor, dessen Ziel es ist, pädagogisch strukturierte Handlungs- und Erfahrungsräume zu schaffen. Weniger bestimmte Strukturen als vielmehr besondere Zielgruppen hat Christian Pfeffer-Hoffmann im Blick. Pfeffer-Hoffmann ist seit vielen Jahren in Forschungs- und Bildungsprojekten für bildungsbenachteiligte Zielgruppen engagiert. Menschen, die in ihrem Lernen durch Behinderung, Lernschwächen, Sprachschwierigkeiten oder den beschränkten Zugang zu Lernangeboten (zum Beispiel Menschen im Strafvollzug) eingeschränkt sind, werden auch im Hinblick auf die Entwicklung von Online-Lernangeboten bisher am wenigsten berücksichtigt. Dabei stecken im online-basierten Lernen gerade für diese Menschen immense Potenziale. Pfeffer-Hoffmann stellt einige herausragende Angebote vor und erläutert außerdem, warum die Verbreitung von Social Media einen „Quantensprung im Zugang zu digitalen Lernangeboten“ für bildungsbenachteiligte Zielgruppen bedeuten kann. Abschließend stellt Martin Ebner die ganz grundsätzliche Frage, ob die Technologie des E-Learnings überhaupt sinnvoll und notwendig ist, wenn es um eine Weiterentwicklung des Bildungsbereiches geht.
Die Antwort ist eine positive. Allerdings nur dann, wenn Lehrende und Lernende hinreichend medienkompetent sind, um sich die Möglichkeiten der Medien von heute zunutze zu machen und zukünftigen Entwicklungen gegenüber aufgeschlossen sind. Ergänzt werden die inhaltichen Überlegungen durch die Erläuterungen von drei Stichworten, die in der Diskussion um E-Learning immer wieder fallen: Julia Glade stellt Open Educational Resources(OER) vor, Karla Spendrin Massive Open Online Courses (MOOCs) und Anett Hübner stellt dar, warum Lernplattformen trotz Web 2.o und Social Net nach wie vor sinnvoll sind. E-Learning ist zwar schon seit einiger Zeit in aller Munde. Was genau diese Form des Lehrens und Lernens aber bedeutet, welche Herausforderungen damit verbunden sind und welcher Voraussetzungen es bedarf, dass E-Learning einen Mehrwert hat, ist meistens nicht so ganz klar. Wir möchten mit dieser merz einige Antworten liefern, vor allem aber dazu anregen, die Entwicklung des E-Learnings kritisch zu verfolgen.
Bernd Schorb, Anna Zoellner, Jan Keilhauer: Editorial
Der Begriff der Partizipation war in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts ein zentralerBegriff der sozialpolitischen wie sozialwissenschaftlichen Auseinandersetzung. Neben dem Begriff der Emanzipation, der die Notwendigkeit der politischen Subjekte kennzeichnen sollte, sich von gesellschaftlichen Zwängen zu befreien, stellte Partizipation das Recht und die Notwendigkeit der Subjekte heraus, gleichberechtigt und ohne Zugangsbeschränkungen an gesellschaftlichen Entscheidungen beteiligt zu werden. Partizipation beinhaltete die Einforderung der basalen demokratischen Norm nach Einbezug aller Gesellschaftsmitglieder in alle gesellschaftlichenHandlungsbereiche. In Bezug auf Medien wurden unter Partizipation zwei Forderungen erhoben. Zum einen sollten alle veröffentlichten Medien einer öffentlichen Kontrolle unterzogen werden, die es ermöglichen sollte, dass nicht die Ideologie der Medieneigentümerinnen und -eigentümer, sondern die authentischen Erfahrungen aller Menschen die Grundlage inhaltlicher medialer Produktion bildet. Zum anderen sollte der freie und öffentliche Zugang aller Menschen zu allen Medien gewährleisten, dass diese selbst sich mittels Medien artikulieren und konstitutiv am öffentlichen Diskurs beteiligen können, was sich in der Konstruktion alternativer Medien bishin zu offenen Kanälen niederschlug.
Vierzig Jahre später ist der Begriff der Partizipation wieder in die öffentliche wie die sozialpolitische Debatte zurückgekehrt. Nunmehr stellt er sich dar als Forderung bzw. Aufforderung insbesondere an die jungen Mitglieder der Gesellschaft, die Institutionen der verfassten Gesellschaft anzunehmen, sich an ihnen zu beteiligen und so ihre Aufgabe als‚ demokratische Bürgerinnen und Bürger‘ wahrzunehmen. Den gesellschaftlichen Institutionen ist aufgetragen, Partizipationsmöglichkeiten bereitzustellen und die Menschen zu bewegen, diese zu nutzen. Zugleich ist Partizipation im Sinne selbständiger und selbsttätiger Einbindung in die vorgegebenen gesellschaftlichen Strukturen im Zeichen des Beschäftigungsmangels Voraussetzung, um eine berufliche Position zu erreichen. Partizipation scheint vom einzufordernden Recht zur eingeforderten Pflicht geworden zu sein. Im Bereich der Medien ist Partizipation als Akklamation konstitutiver Bestandteil der kommerzialisierten Medienlandschaft. Die Massenmedien richten weite Teile ihres Programmes so ein, dass jede und jeder (so die Lüge, die von Agenturen davor geschützt wird, Wahrheit zu werden) am Programm aktiv teilnehmen und zugleich eine gesellschaftlich extraordinäre Position erlangen kann, als Superstar welcher Couleur auch immer. In den Netzmedien bieten die dort herrschenden Oligopole Plattformen zur Teilnahme am globalen Diskurs an, dies führt häufig zu einer Vereinheitlichungder Persönlichkeit wie ihrer Daten.
Daneben wird in der Praxis der Jugendarbeit Partizipation zum überall auffindbaren Schlagwort.Kaum eines der im Netz vorfindlichen, öffentlich geförderten Projekte, schreibt sich nicht als Zielauf die Fahne, die Partizipation Jugendlicher zu fördern. Damit ist in der Regel die Absicht verbunden, die Medien als Forum zu nutzen, innerhalb dessen Jugendliche aktiv an der gesellschaftlichen Entwicklung teilhaben. Allerdings ist bei vielen dieser Projekte nicht erkennbar, inwieweit die Absicht auch angegangen oder gar erfüllt wird. Es besteht vielmehr der Verdacht, dass sich unter dem Schlagwort die gängige Praxis verbirgt. Diese Praxis aber ist dadurch gekennzeichnet, dass die technischen und gestalterischen Möglichkeiten der Medien – und diese sind ja im Netz von einer bislang unbekannten Vielfalt – den inhaltlichen Zielen und Überlegungen übergeordnet werden. Partizipation heißt da oft nicht mehr als Mitmachen bei dem, was schon immer gemacht wurde. Der Begriff bleibt Hülse.
Zugleich werden, ebenfalls öffentlich ‚gefördert‘, gewachsene Projekte der Partizipation, die unterdem Begriff der Bürgermedien zusammengefasst sind, ins Abseits gedrängt (in das sie sich zugegeben oft auch selbst bewegt haben). Die offenen Kanäle beispielsweise werden zugeschüttet oder zu sogenannten Medienkompetenzzentren umgestaltet, in denen das Erlernen der technischen Fertigkeiten, der Berufsqualifizierung et cetera in den Vordergrund gestellt werden und bürgerliches Engagement darüber aus dem Fokus gerät. Aber es existieren im Netz die Nischen, in denen jenseits der verfassten politischen Gegebenheiten und fast geschützt von den kommerziellen Strukturen, Gleichgesinnte in einen gleichberechtigten Austausch treten können. Dieser Austausch unterliegt zwar keinen ideologisch-ethischen Prinzipien mehr und kann sich jeden Inhalts bedienen, aber er wird vom Diskurs und der gemeinsamen Zielsetzung seiner Teilnehmerinnen und Teilnehmer getragen. In diesem Heft soll anhand theoretischer Überlegungen, empirischer Erkundungen und praktischer Beispiele nachvollzogen werden, wie undals was sich Partizipation heute darstellt und wie sie den Subjekten begegnet, als Möglichkeitoder als Notwendigkeit oder als beides. Insbesondere soll der mediale Raum befragt werden,inwieweit hier Partizipation und besonders welche Art derselben möglich ist. Eine Besonderheitist in dem Blick über die deutschen Grenzen zu sehen. Der Anspruch, Jugendliche anzuregen,am politischen Leben ihrer Gesellschaft zu partizipieren, ist nicht auf Deutschland beschränkt,sondern findet sich als Postulat in den meisten kapitalistisch-demokratischen Staaten. Nebeneiner Auseinandersetzung mit medialer Partizipation in Australien verweisen die ausgewähltenBeispiele aus Großbritannien darauf, dass es hier eine lange Tradition staatlich geförderter undselbstorganisierter Projekte gibt. Im Gegensatz zu Deutschland, wo öffentliche Partizipationsförderung eine neue Erscheinung ist, wird in Großbritannien unter dem Begriff der „Citizenship Education“ vor allem an den Schulen, aber auch in Projekten der außerschulischen Jugendarbeit die Beteiligung an der Demokratie als verpflichtende Aufgabe gesehen. Ziel ist der Erwerb von Einstellungen, Fähigkeiten und Wissen, welche die Schülerinnen und Schüler befähigen, sich aktiv in Staat und Zivilgesellschaft zu engagieren. Citizenship soll für Jugendliche durch Partizipation und reale Erfahrung erlebbar werden. Dabei wird sogar die Beteiligung von Schülerinnen und Schülern an Partizipationsprojekten im öffentlichen Bereich von den Schulen zertifiziert.Da in der gegenwärtigen pluralistischen Gesellschaft eine klare Begriffsbestimmung nicht möglichist, was in besonderem Maße für den Begriff Partizipation gilt, soll das Heft Partizipation und Medien Diskussionshilfen geben bzw. eine Annäherung an den Begriff der medialen Partizipationversuchen. Dabei eröffnen kürzere Beschreibungen und Verweise auf konkrete Partizipationsprojekte die Möglichkeit, selbst die Vielfalt und Unterschiedlichkeit von Partizipationsprojekten einzuschätzen und im Vergleich von britischen und deutschen Projekten Anregungen für die Praxis zu gewinnen. Grundgelegt werden die vorgestellten Modelle aus drei Blickrichtungen, der Auseinandersetzung mit dem Begriff Partizipation, der Darstellung, wie Partizipation in der themenzentrierten Medienarbeit verwirklicht werden kann und wie die Auseinandersetzung über politische Partizipation in einem anderen Kulturkreis geführt wird.
Ulrike Wagner entwickelt Kriterien für Partizipation, die es einerseits erlauben, den heutigenbeliebigen Gebrauch dieses Begriffes zu präzisieren und die andererseits die Möglichkeitschaffen, konkrete Vorhaben und Modelle der Partizipationsförderung zu bewerten. Sie selbstkonkretisiert an Beispielen medialen Handelns Jugendlicher fruchtbares partizipatives Medienhandeln, aber auch ‚Fehlformen von Partizipation‘ in denen vermeintliche partizipativeAngebote in das Gegenteil, nämlich eine unreflektierte Bindung an das Medium, verkehrt werden. Partizipatives Medienhandeln braucht darüber hinaus Angebote und Räume, in denen es den Jugendlichen möglich wird, ihre entsprechenden Fähigkeiten zu entwickeln. Die Räume, in denen gewinnbringendes mediales Handeln erlernt wird, welches gesellschaftliche Teilnahme ermöglicht, benötigen eine pädagogisch sorgfältige Gestaltung basierend auf das Wissen um das Medienhandeln Jugendlicher.Themenzentrierte Medienarbeit kennzeichnet einen medienpädagogischen Ansatz, der aufbauendauf den Erfahrungen und dem Handeln Jugendlicher in ihrer Medienwelt versucht, die Möglichkeiten praktischer handlungsorientierter Medienpädagogik für die selbständige undkritische Erarbeitung gesellschaftlich relevanter Inhalte nutzbar zu machen. Partizipation steht imMittelpunkt dieser Arbeit, aber nicht als verfügtes Handlungsrepertoire sondern als Ziel, das dieJugendlichen eigenständig erreichen. Am Beispiel des Themas Gentechnik, das nicht in die alltäglichen Erfahrungen Jugendlicher eingebettet ist, stellt Jan Keilhauer dar, wie es gelingen kann, Jugendliche zu motivieren und ihnen Räume zu eröffnen, damit sie sich selbstbestimmt das Thema aneignen und via Medien diesen Prozess und seine Ergebnisse öffentlich machen.Australien, das sich nicht erst seit den jüngsten Wahlen in einem politischen und ökonomischenWandlungsprozess bef indet, hat in Bezug auf Partizipation durch die Bürgerinnen und Bürgereine lange Tradition des freiwilligen sozialen Engagements einerseits und der wohlfahrtlichenFürsorge des Staates auf der anderen Seite. Mary Griffiths gibt in ihrem Artikel einen Einblick, wiesich die Wandlungsprozesse entlang der Medien und speziell des Internets vollziehen. In diesenWandlungsprozessen zeigen sich Parallelen zur Entwicklung in Deutschland. Der Staat entlässtdie Medien einerseits aus seiner Kontrolle und überträgt diese seinen Bürgerinnen und Bürgern,andererseits stärkt er die Kontrollen dort, wo er seine eigene Machtbasis gefährdet sieht. Die Nutzung der Medien zur politischen Partizipation durch unabhängige Gruppen ebenso wie durch die politische Elite selbst schafft eine Situation voller Widersprüche. Das Internet ist, so zeigt dieser Einblick in die Gesellschafteines anderen Kontinentes, überall auf der Welt janusköpfig, eröffnet Horizonte und schließt solche zugleich und der Umgang mit dem Netz bereitet jeder Gesellschaft noch immer Schwierigkeiten.
Bernd Schorb und Swenja Wütscher: Der Diskurs um Medien und Werte ist weiter zu fassen
Die Debatte um Werte und Medien begleitet die Gesellschaft und speziell die Pädagogik seit dem Aufkommen der sogenannten Massenmedien. Im Mittelpunkt stand und steht noch immer die Annahme, dass problematische, insbesondere gewalthaltige Medieninhalte von Heranwachsenden angeeignet und als Orientierungen in das eigene Wertesystem übernommen werden. Da in demokratischen Industriegesellschaften Konsens herrscht, personale Gewalt zu ächten und diese – neben der Pornografie – als Unwert anzusehen, wurden Mittel und Wege gesucht, solche negativen Orientierungen, so sie durch Medien vermittelt werden, unschädlich zu machen bzw. ihre möglichen Wirkungen zu minimieren. Eine umfassende Zensur der Medien steht allerdings im Widerspruch zu demokratischen Grundprinzipien, daher wurde ein eigenes Instrument entwickelt: der Jugendmedienschutz, mit dem verhindert werden soll(te), negativ bewertete Medieninhalte Jugendlichen zugänglich zu machen. Dieses Instrument wurde im Prinzip bis heute erhalten.
Auch die öffentliche Auseinandersetzung über Medien und ihre Inhalte beschäftigt sich bis heute mit negativen über die Medien vermittelten Orientierungen. Bis in die achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts ließ sich das Instrument des Jugendmedienschutzes mit mehr oder minder großem Erfolg auch anwenden, denn die Produktion wie die Produzentinnen und Produzenten audiovisueller und gedruckter Medien waren überschaubar. Den Medienproduzierenden wurden inhaltliche Vorgaben gemacht, sie wurden kontrolliert, Verstöße wurden sanktioniert. Heute stehen wir vor einer neuen Situation. Die Medien sind nunmehr parziell Mittler vorproduzierter Information und Unterhaltung. Sie sind integrierter Bestandteil aller Lebensbereiche. So hat sich das Internet innerhalb von wenigen Dekaden zu einem alle Bereiche des Alltags bestimmenden Bestandteil des Lebens entwickelt und hat zugleich die klassischen Medien aufgesogen. Medien sind nicht mehr nur Massenkommunikation mit Inhalten, die von der bewusstseinsproduzierenden Industrie (vgl. Adorno 1996) für ein Massenpublikum hergestellt und distribuiert werden, sondern Bestandteil jedweder Kommunikation zwischen Menschen und Menschen, zwischen Menschen und Medien sowie zwischen Medien und Maschinen. Medien sind also nicht mehr einseitig ausgerichtet als Mittler an Menschen, sondern zentrale Vermittlungsinstanz zwischen Menschen. Als interaktives Medium vermittelt das Internet seine Daten an sie und erlaubt es ihnen zugleich, in vorgegebenen Rahmen selbst Daten zu generieren, Informationen zu schaffen und an andere weiterzuvermitteln, die zugleich selbst agieren und auf die gesendeten Informationen reagieren können. Medien vermitteln nicht mehr nur Werte, sondern erlauben es den Menschen selbst auch, Werte zu kommunizieren.
Wir sind nahe am einst geforderten Ideal, aus Medienkonsumentinnen und -konsumenten Medienproduzentinnen und -produzenten (vgl. Brecht 1976; Enzensberger 1976) zu machen und zugleich auf dem Weg zum globalen Dorf (vgl. McLuhan 1962) in dem jede bzw. jeder mit jedem in Kontakt treten kann. Mit der Globalität des Internets sind zugleich die nationalen Medienproduzentinnen und -produzentenin den Hintergrund gerückt worden. Das Internet wird beherrscht von einer internationalen Industrie, die inzwischen zur größten dieser Welt geworden ist. Da diese Industrie sich hauptsächlich durch Werbeeinnahmen finanziert, benötigt sie möglichst viele Informationen über ihre Nutzerinnen und Nutzer. Da sie zugleich potenziell Zugriff auf alle Daten des Netzes hat, kann sie die Kommunikation der Menschen im Netz erfassen und daraus virtuelle Abbilder derselben generieren. Zugleich kann sie die Inhalte, die im Netz verbreitet werden, nicht nur schaffen, sondern auch kontrollieren. Mit den Internetnutzerinnen und -nutzern tritt sie in ein Tauschverhältnis. Die Industrie offeriert den kostenfreien Gebrauch ihrer Dienste gegen die Erfassung und Verarbeitung der erwünschten persönlichen Daten. Dieser Tauschakt tangiert in besonderer Weise einen Wert, den sich die Menschheit beim Verlassen des Mittelalters erkämpft hatte, die Unverletzlichkeit der Persönlichkeit bzw. das vom Bundesverfassungsgericht so benannte Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Die Privatsphäre verschwindet, der Mensch wird gläsern. Da der offerierte Tauschhandel von einer großen Mehrheit der Mediennutzerinnen und -nutzer gegenüber dem Verlust der Privatsphäre als ‚wertvoller‘ empfunden wird, verschwindet der Wert der informationellen Selbstbestimmung, verliert seine gesellschaftliche Verbindlichkeit. Hier ist die Umwidmung eines Wertemusters eine unmittelbare Folge der Medienentwicklung.
Auch an einem zweiten Beispiel lässt sich das Verschwinden bzw. die Verschiebung von Wertemustern beobachten: Der Jugendmedienschutz, der über Jahrzehnte die Medienentwicklung begleitet und in einem gewissem Umfang auch reguliert hat, wird obsolet. Das liegt zum einen daran, dass mit der Zunahme von medialen Angeboten diese kaum noch überschaubar und damit kontrollierbar sind. Zum anderen ist die Medienindustrie zu einer solch ökonomischpolitischen Macht geworden, dass sie an der Realisierung jugendschützerischer Maßnahmen beteiligt wird. So werden die entsprechenden Gesetze und Vorschriften so komplex und zugleich umfänglich und dem juristischen Laien unverständlich formuliert, dass sie möglichst der technischen Vielfalt medialer Verbreitung und der Vielzahl der Verbreitenden gerecht werden. Das führt beispielsweise dazu, dass sich die zuständigen Bundesländer seit Jahren nicht auf eine Neufassung des Jugendmedienschutzstaatsvertrages einigen können. Und die Kontrolle über die medialen Inhalte – laut Grundgesetz eine Aufgabe des Staates – wird an die Medienanbieterinnen und -anbieter abgegeben. Mit dem Konstrukt der ‚regulierten Selbstregulierung‘ wird den Produzentinnen und Produzenten von Medieninhalten die Kontrolle über diese Inhalte übergeben – unter Aufsicht einer halbstaatlichen Kommission, die aber nicht in die Inhaltskontrolle eingreift. Die zu beaufsichtigenden Werte wie Unwerte können damit in ihrer inhaltlichen Valenz und Ausgestaltung von der Medienindustrie (mit-) bestimmt und gewandelt werden.
Schließlich erhalten die Medien einen entscheidenden Einfluss auf die Wertevermittlung. Sie sind zu einer bedeutenden Instanz der Sozialisation nicht nur der Heranwachsenden geworden. Die dominanten Sozialisatoren Elternhaus, Schule, Kirchen, Gewerkschaften et cetera haben bis in die zweite Hälfte des letzten Jahrhunderts Normen und Werte bestimmt, an denen sich die Heranwachsenden direkt und die gesellschaftlichen Institutionen inklusive der Medien indirekt ausgerichtet haben. Die klare Normierung durch die klassischen Sozialisationsinstanzen ist verlorengegangen, an ihre Stelle ist ein Wertepluralismus getreten. Für die Menschen bedeutet dies, dass sie sich im Positiven wie Negativen nicht mehr an gesetzten Normen orientieren können, sondern sich ihre Orientierungen selbst suchen müssen. Hier bietet das Internet einen Raum, in dem alle Wertemuster auffindbar sind, nicht mehr hierarchisiert und allgemein verbindlich, sondern gleichwertig nebeneinander gestellt und in vielfarbigen Schattierungen. Es wird zur besonderen Leistung der Menschen, sich nicht mehr am Vorgegebenen durch Zustimmung oder Abgrenzung auszurichten, sondern die dargebotenen Wertemuster mit eigenem Handeln und Vorstellungen abzugleichen und mit den Normen, die in der sozialen Umwelt herrschen, zu vereinbaren. Welche Werte aus der Vielfalt des Angebotes gewählt, welche befolgt werden und welche sich gesellschaftlich durchsetzen, lässt sich von außen kaum absehen. Das in der Sozialpsychologie gebräuchliche Bild einer personalen Identität als Bricolage aus diversen Vorgaben der sozialen Umwelt fasst die Unbestimmbarkeit der Wertsetzungen. Insbesondere die Medien sind heute Träger der Vorgaben, aus denen sich die Menschen ihr eigenes für sie bestimmendes Wertemuster zusammentragen müssen.
Die beschriebenen Einflüsse der Medien auf die Wertedebatte in unserer Gesellschaft sind bislang eher unverbundene Beobachtungen. Die Frage nach den Verschiebungen der Wertemuster in der Gesellschaft lässt sich damit keineswegs beantworten. Lediglich Phänomene können gesehen und ihre Folgen herausgearbeitet werden. Dieser Diskurs über Werte, Medien, Subjekt bzw. Gesellschaft wird in der vorliegenden Ausgabe von merz angerissen. „Aus der Tatsache, dass Menschen einen bestimmten Wert akzeptieren, folgt nicht, dass er für alle Menschen gelten muss.“ Matthias Rath beschreibt die historische Genese von Werten und ihre Veränderung unter den Bedingungen einer mediatisierten Gesellschaft, indem er dem klassischen Konzept der Vermittlung eines festen Wertekanons die Vermittlung kritischerWerturteilskompetenz gegenüberstellt. Der Medienpädagogik wird damit die Aufgabe zuteil, mediale Handlungsorientierung zu beurteilen und die unterschiedlichen Wertangebotekompetent abzuwägen. Thomas Merz führt aus, dass sich diese ethische Reflexion keinesfalls auf einzelne Medienprodukte oder -inhalte beschränken darf. Vielmehr gehört ethische Kompetenz untrennbar zur Medienbildung. Er zeigt auf, wo ethische Reflexion in Bezug auf Medien in der Primarstufe und Sekundarstufe I notwendig ist und wie sie umgesetzt werden kann. Was beispielsweise müssen Jugendliche wissen, was können sie wissen und was sollten sie auf Social Media weiterverbreiten? Anja Hartung zeichnet nach, wie sich der Freundschaftsbegriff kulturhistorisch herausgebildet hat. Heute ist Freundschaft in den Social Networks zu sozialem Kapital geworden, mit dem im Identitätsprozess der Erwerb von Anerkennung verbunden ist.
Dass Freundschaft weiterhin einen von Jugendlichen angestrebten Wert hat, eröffnet einerseits Möglichkeiten der Förderung medienethisch kritischer Fähigkeiten und andererseits die Selbstbestimmung des Wertes von Freundschaft in einer vernetzten Welt. Bernd Schorb versucht im Gespräch mit Thomas Krüger die Bedeutung der Medien für eine Bestimmung politischer Werte und die Verortung der Menschen in diesem Prozess zu eruieren. Krüger macht deutlich, dass die Vermittlung von Werten eine zentrale Aufgabe politischer Bildung ist. Er kritisiert die Vernachlässigung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung und die Wertevermittlung von globalen Medienunternehmen. An Beispielen veranschaulicht er die Bedeutung medienpädagogischer Arbeit zur Vermittlung und Verankerung demokratischer Werte. Wie wichtig eigene moralische Orientierung für Jugendliche ist, zeigen Rudolf Kammerl, Michaela Hauenschild und Anja Schwedler mit ihrer Untersuchung von jugendlichen Onlinespielerinnen und -spielern. Mit Dilemma-Interviews haben sie erforscht, wie sich Entgrenzungsphänomene im Kontext der Nutzung von Online-Spielen darstellen, auf welche Weise Jugendliche sich diesen gegenüber verhalten und wie sie ihre Entscheidung begründen: von „Wenn’s ne langweilige Aufgabeist, spiel ich lieber was“ bis „Weil Real Life ist halt wichtiger“.
Abschließend stellen Kathrin Demmler, Christa Gebel, Mareike Schemmerling und Swenja Wütscher die enge Verbindung von Werte- und Medienkompetenz heraus. Anhand von Projektbeispielen wie ICH WIR IHR im Netz erläutern sie die Prinzipien und Potenziale medienpädagogischer Arbeit mit dem Ziel, das Wertebewusstsein von Heranwachsenden zu fördern. „Werte sind [...] nicht ein beliebiges Thema für die Medienpädagogik, sondern zentrale Aufgabe und Herausforderung für alle Fachkräfte.“ Die Trias Jugend – Werte – Medien hat Konjunktur. Angesichts der gesellschaftlichen und medienpädagogischen Diskussion um Wertevermittlung, -verschiebung und -verlust sowie der Verunsicherung über die Omnipräsenz und -potenz von Medien ist sie so aktuell wie nie. Gleichzeitig wird der Diskurs aber noch lange weiterzuführen sein, da die noch keineswegs abgeschlossene Entwicklung der Medien weitere zusätzlich zu beachtende Aspekte einbringen wird.
Literatur:
Adorno, Theodor W. (1996). Eingriffe. Neun kritische Modelle (1963). Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Brecht, Bertolt (1976). Der Rundfunk als Kommunikationsapparat. In: Prokop, Dieter (Hrsg.), Massenkommunikationsforschung. Band 1: Produktion. Frankfurt/M.:Fischer.
Enzensberger, Hans Magnus (1976) Baukasten zu einer Theorie der Medien. In: Prokop, Dieter (Hrsg.), Massenkommunikationsforschung. Band 2: Konsumtion. Frankfurt/M.:Fischer.
McLuhan, Marshall (1962). The Gutenberg Galaxy: The Making of Typographic Man. Toronto: University of TorontoPress.
Bernd Schorb und Günther Anfang: Editorial
Jugend und Musik ist ein Thema, dem sich die Medienpädagogik immer wieder von Neuem zuwenden muss. Die zentrale Position, die Musik im Fühlen, aber auch im Denken und Handeln der Menschen einnimmt und ihre Einbindung in die Medienwelt als Präsentation von Wünschen und Ängsten, wie als Quelle des Kommerzes und der mentalen Ausbeutung, machen es notwendig, immer wieder zu fragen, welche Bedeutung Musik aktuell im Leben der Menschen einnimmt und wie die Pädagogik produktiv und mit dem Ziel der Selbstverwirklichung der Subjekte damit umgehen kann. Gern wird dies unter zwei Aspekten getan, die hier ausgespart bleiben sollen.
Einmal wird Musik funktionalistisch als Managerin betrachtet, die das Gemüt von Menschen beeinf lusst und es werden entsprechend die Quantitäten und Spezialitäten des Mood Management zu beschreiben gesucht. Auf einer ganz anderen Ebene wird praktizistisch beschrieben, was man alles mit Musik machen kann und wie sie die Ausdrucksfähigkeit junger Menschen erweitern kann, es wird aber nicht gefragt, welche musikalischen Inhalte in welchem pädagogischen und sozialen Kontext angeeignet werden. Entkleidet die Forschung des Mood Management die Musik aller ihrer sinnlichen und sozialen Qualitäten, so wird das bloße Musikmachen zur Geräuschproduktion.
Musik hat einen zentralen Stellenwert für Menschen, insbesondere für junge Menschen. Sie rahmen mit – in der Regel kommerzieller – Musik ihr Leben situativ und sozial. Sie nehmen Musik mit in ihr Leben und überall wird ihnen Musik offeriert, als Angebot, das sie suchen und dem sie sich nicht entziehen können. Musik tritt in verschiedenen Formen auf und ist meist nicht allein, sondern eingebettet in ein Medienensemble und in unterschiedlichste soziale Situationen. Die Vielfalt der Aneignung und Präsentation von Musik soll in diesem Schwerpunkt von merz dargelegt werden. Dabei zeigen die Autorinnen und Autoren, dass es sowohl höchst differenzierte Herangehensweisen an die Erfassung der Musikaneignung, als auch realisierbare und realisierte medienpädagogische Modelle gibt, die den unterschiedlichen Lebenszusammenhängen und Modi der Medienaneignung Jugendlicher in produktiver Weise Rechnung tragen.
Zu den Beiträgen
Claudia Bullerjahn veranschaulicht, wie sich Bilder, Geschehen und Musik in der Rezeption aufeinander beziehen. Sie beschreibt einerseits, unter welchen psychischen aber auch physiologischen Bedingungen Musik oder das Bild auf Seiten der Subjekte interpretative Priorität gewinnen. Sie macht andererseits deutlich, wie Musik als Mitgestalterin und Verstärkerin medialer Produkte Bedeutung durch die Produzenten zugewiesen wird und illustriert, wie die Symbiose von Musik und medialer Präsentation in Computerspielen zum konstitutiven Gestaltungselement wird. David Hesmondhalgh stellt führende Modelle vor, die sich mit dem Stellenwert auseinandersetzen, den Musik im Prozess des Heranwachsens übernimmt und weist unter Bezug auf Autorinnen und Autoren aus dem theoretischen Umkreis der interaktionistischen Theorien und der Cultural Studies auf die Bedeutung der Musik für die Ausbildung von Selbstkonzepten hin. Er macht deutlich, dass die positiven Konnotationen, die in der Regel mit der Beschreibung der Konstitution solcher Selbstkonzepte verbunden sind und dem Subjekt Autonomie und Unabhängigkeit zuweisen, kritisch zu befragen sind. Auch Musik kann sich nicht dem Primat von Politik und Kommerz entziehen und trägt damit auch die Widersprüche der Gesellschaft in den Identitätsprozess Jugendlicher hinein.Anja Hartung verdeutlicht auf der Basis empirischer Untersuchungen, dass, wo und wie Musik eine kommunikations- und interaktionsanregende Funktion zukommt. Gerade in der Familie wird sie als sozialer Faktor genutzt, zur Distinktion, zur Abgrenzung des eignen Ich vom anderen, sowie zur Attraktion, zur Annäherung an den anderen über seine Musikvorlieben, die sowohl das Selbst als auch die Biograf ie erschließen können. Diese soziale Funktion des Musikhörens und des Austausches über Musik und deren generationenübergreifende Bedeutung wird in der wissenschaftlichen wie praktischen Auseinandersetzung höchst selten wahrgenommen, wodurch sich die Musikpädagogik Handlungspotenziale verschließt.
Für die medien- bzw. musikpädagogische Praxis ist der Beitrag über Creative Commons von Marco Medkour von großer Bedeutung. Die Klage über den Zwang, den die GEMA auf die freie (und arme) Medienarbeit ausübt, die auch mal als Vorwand für mangelndes Engagement dient, kann nicht aufrechterhalten werden, wenn man sich die Möglichkeiten der kommerzfreien Musikszene erschließt.
Mit der Vielfalt der jugendlichen Musikszene beschäftigt sich Wolfgang Reißmann. Er stellt die sozialen Plattformen des Internets als Ebenen dar, auf denen sich, auch angeleitet, kreativ mit Musik umgehen lässt. Musik wird hier dem sozialen Handeln unterworfen. Sie wird eingesetzt als Gruß, Geschenk, Selbstdarstellung ... Musik ist Folie des sozialen Austausches, in bestätigender aber auch ironisch abweisender Form.
Dirk Wagner öffnet das Kaleidoskop heutiger Musikszenen. Neben der Würdigung sozialer Netzwerke und ihrer Möglichkeiten zur Veröffentlichung eigenproduzierter Musik veranschaulicht er, dass nicht Stilreinheit die Entwicklung der Popmusik kennzeichnet, sondern die vielfältige Vermischung von Stilen, Quellen und Formen. Laut Wagner kann und macht populäre Musik heute fast alles bis zur Kopulation mit Volksmusik.
Die Praxismodelle zeigen, wenngleich sie nur Ausschnitte medienpraktischer Musikarbeit wiedergeben können, dass heutige Musikarbeit an der jugendlichen Zuwendung zu Musik ansetzt, aber über die Performanz hinaus die Erweiterung der sozialen Fähigkeit der Zielgruppe im Auge hat.
Daniel Diegmann zeigt am Projekt Manege wie es Jugendlichen gelingt, Musik zur eigenen Positionierung im sozialen Raum einzusetzen. Im Modell der Cranfords ermöglicht der Einsatz von Rechner und Software Jugendlichen unterschiedlichen Hintergrundes nicht nur das Erfolgserlebnis der Musikproduktion, sondern auch das Erlernen praktischer und sozialer Kompetenzen.
Bei Iwan Pasuchin werden Schülerinnen und Schüler unter Rückgriff auf ein Musikvideo von YouTube zu Komponistinnen und Komponisten, die digitale Techniken und ‚natürliche‘ Geräusche nutzen, um ein Musikstück zu kompilieren, komponieren und produzieren um es dann wieder dem medialen Raum zuzuführen.
Dirk Wagner gibt einen Einblick in die konkrete Praxis der Musikredaktion des Störfunks, eines über den Äther verbreiteten Jugendprogramms in München.
Sascha Düx stellt die Roots&Routes International Association vor, ein europaweites Projekt in dem Jugendliche Musik erleben und machen, mit konkreter Unterstützung bereits erfolgreicher musikalischer Protagonisten.
Andreas Lange und Bernd Schorb: Zwischen Entgrenzung und Restabilisierung
Ausgehend von den Entgrenzungs- und Verflüssigungsphänomenen von Jugend als Generationsgestalt durch den früheren Zugriff der Logik der Qualifizierung und der Arbeitsmarktkonkurrenz stellt sich die Frage nach dem Stellenwert der Medien für die Definition von Jugendlichkeit.
Einerseits sind sie wesentliche Transporteure der neuen Zumutungen und Unsicherheiten, andererseits tragen Medien und Medienpraktiken dazu bei, dass Jugend als eigenständige Lebensphase sichtbar bleibt
. In diesem Rahmen bieten sie auch vielfältige Identitätsangebote. Nicht vergessen werden darf dabei aber, dass die Chancen zur Nutzung dieser Angebote sozial strukturiert, das heißt, sozial ungleich verteilt sind.
(merz 2006-04, S. 8-14)
Helga Theunert, Bernd Schrob: Praxis und Akzeptanz des Jugendmedienschutzes
Fragestellungund Konzeption der Untersuchung basieren auf der Überlegung, dass jede Jugendschutzmaßnahme im Fernsehen in die Autonomie der erwachsenen Zuschauer eingreift - egal, ob diese Kinder zu erziehen haben oder nicht. Wenn neue Maßnahmen erprobt werden, genügt es deshalb nicht, ihre Funktionalität zu prüfen. Es muss v.a. in Erfahrung gebracht werden, ob sich die maßnahmen in das Denken und Handeln aller betroffenen REzipienten einpassen und so die Chance auf breite Akzeptanz besteht.
Neben der Frage, ob doe Vorsperre einer Sendung ein funktionales Jugendschutzinstrument ist, befasste sich die Untersuchung deshalb mit drei Fragekomplexen:
1. Mit dem Jugendmedienschutz, konkret damit, wie Maßnahmen im digitalen Pay-TV und im Free-TV eingeschätzt und gehandhabt werden. Speziell interessierte die Vorsperre und der Umgang mit ihr in Abonnentenhaushalten.
2. Mit der Fernseherziehung, mit der dem Jugendmedienschutz in Familien praktisch Geltung verschafft werden kann.
3. mit dem Fernsehumgang, der ein wichtiger moderierender Faktor in Bezug auf Fernseherziehung und Jugendmedienschutz ist.Um die Haltung der Abonnenten des digitalen Pay-TV, die ja erst ein sher kleines Segment der Bevölkerung sind, einordnen zu können, wurden Abonnentenhaushalte und Bevölkerungshaushalte, jeweils mit und ohne Kinder befragt.Die Untersuchung basiert auf einer Methodenkombination aus repräsentativen und qualitativen Befragungsverfhren, ergänzt um eine standardisierten Funktionalitätstest der Vorsperre...
(merz 2001/05, S. 293 - 301)
Helga Theunert und Bernd Schorb: Veränderungen bei merz
Seit neun Jahren prägt Dr. Susanne Eggert als Chefredakteurin das Gesicht von merz entscheidend mit. Als Herausgeberin und Herausgeber sind wir froh darüber, hat sie doch zu allen Zeiten kompetent und in angenehmer Form den Beirat, die ehrenamtliche Redaktion, und Autorinnen und Autoren dazu motiviert, merz als ihr Anliegen zu sehen. Nun aber zieht es Susanne Eggert dorthin zurück, wo sie damals hergekommen ist, in die Forschung des JFF. Erstmal für ein Jahr – vielleicht aber auch länger – wird sie dort unterstützen und mit ihren Erfahrungen vorrangig den Bereich Kinder und Familie mitgestalten. Für die JFF-Forschung ist das ein Glücksfall, was merz angeht, so sind wir natürlich gespalten.
Aber: Susanne Eggert war auch in diesem Zusammenhang konstruktiv und hat uns eine sehr erfolgversprechende Vertreterin empfohlen. Swenja Wütscher, seit 2013 Volontärin bei merz, hat in dieser Zeit auf sich aufmerksam gemacht, als zuverlässige und ideenreiche Mitdenkerin und Mitarbeiterin. Mit ihrem Studium der Medienpädagogik und Erfahrungen mit medienpädagogischen Praxisprojekten und Publikationen bringt Swenja Wütscher gute Voraussetzungen mit, um merz stabil und kreativ weiterzuführen. Susanne Eggert wird Swenja Wütscher inhaltlich unterstützen. Sie betreut darüber hinaus weiterhin merzWissenschaft und wird Mitglied der merz-Redaktion. Wir sind sicher, mit diesen Veränderungen gewährleisten zu können, dass merz seinen hohen Standard hält. Wir wünschen Susanne Eggert viel Erfolg in der Forschung und Swenja Wütscher viel Erfolg bei merz.
Helga Theunert und Bernd Schorb: Nicht desinteressiert, aber eigene Interessen
Die Mehrzahl der Jugendlichen hat Interesse an alltagsnaher Information und an gesellschaftlich relevanten Themen.
Dieses Bedürfnis sollte in seriöser Weise befriedigt und nicht dem Infotainment überlassen werden.
(merz 2000-04, S. 219-228)
Helga Theunert und Bernd Schorb: 50 Jahre merz - 50 Jahre Medienpädagogik
Eine Fachzeitschrift wird 50 Jahre alt. Das ist des Nachdenkens wert, vor allem wenn es sich um ein Publikationsorgan handelt, dessen Gegenstand eine Disziplin ist, die seit ihren Anfängen um ein klares Profil ringt, die Medienpädagogik. Seit den 50er Jahren müht sich die Medienpädagogik mit einem immer dynamischer werdenden Medienmarkt Schritt zu halten und dessen Offerten pädagogisch und mit wissenschaftlicher Fundierung zu reflektieren, und zwar nicht nur reaktiv, sondern vorausschauend und vor allem unter Zugrundelegung der Sichtweisen, die Heranwachsende auf die Medienwelt haben. Ihre Möglichkeiten dazu hängen in starkem Maße von ökonomischen Bedingungen und gesellschaftspolitischen Strömungen ab, die nur zu oft Standort- und Profiterwägungen über pädagogische Notwendigkeiten setzen. Die Reparatur unliebsamer Folgeerscheinungen der Medienentwicklung wurde und wird der Medienpädagogik gern zugewiesen, die kritische Reflexion und Vorausschau weniger.
Der Name ist Programm
merz hat die Medienpädagogik seit ihren Anfängen begleitet. Hervorgegangen aus den Mitteilungen, die der Arbeitskreis Jugend und Film e. V. schon Anfang der 50er Jahren herausgab, erschien 1957 erstmals die Zeitschrift „Jugend und Film“ mit dem Untertitel „Vierteljahres-schrift des Wissenschaftlichen Instituts für Jugendfilmfragen“, einem Vorgänger des heutigen „JFF“. Bereits ein Jahr später wurde die Zeitschrift umbenannt in „Jugend Film Fernsehen“, womit dem neuen Medium Fernsehen Tribut gezollt wurde. Seit 1976 trägt sie den Titel „medien + erziehung | merz“ und erscheint sechsmal im Jahr. Seit 1999 gibt es merz zusätzlich online.Mit dem Titel „medien + erziehung“ wurde gleichfalls der Entwicklung der Medienwelt Rechnung getragen, zugleich aber der veränderten Bedeutung der Medien im individuellen und gesellschaftlichen Leben. Denn Medien sind längst nicht mehr nur wie das Kino als gelegentliche Freizeitvergnügungen zu betrachten.
Sie sind bestimmende Faktoren des Alltags, haben Funktionen als Informanten, Meinungsbildner, Werte- und Orientierungsquellen und sind Instrumente der Wissensvermittlung. Die wissenschaftliche und pädagogische Fixierung auf die negativen Wirkungen der Botschaften der Vergnügungsmedien wird aufgeweicht. Schulfernsehen, programmierte Unterweisung, kompensatorische Vorschulsendungen und Ähnliche rücken bereits in den 60er Jahren die Frage ins Blickfeld, inwiefern der gezielte Einsatz von Medien zur Erziehung und Bildung von Kindern und Jugendlichen beitragen kann. In den 70er Jahren eröffnen sich zudem ganz neue Möglichkeiten: Der bereits 1932 in Brechts Radiotheorie gesetzte Gedanke, dass das Radio geeignet sei, um aus Konsumenten Produzenten zu machen, ist mit der medientechnischen Entwicklung für auditive und audiovisuelle Medien realisierbar geworden. Videogruppen, Medienzentren, Schülerradios, Piratensender, Bürgerkanäle – die alternative Medienszene bekommt Ende der 70er Jahre Konturen. merz gab dieser Szene Raum, erstmals 1977 mit einer Dokumentation über die „medienoperative berlin e. V.“. Die Medienpädagogik weitet in der Folge ihr Gesichtsfeld von der rezeptiven zur aktiven Medienarbeit. Diese bildet bis heute einen zentralen Schwerpunkt medienpädago-gischer Praxis, mittlerweile erweitert um die Potenziale der digitalen Medientechnik und um multimediale Produktions- und Präsentationsmöglichkeiten. Mit dem produktiven Medien-gebrauch wird die Frage wichtig, inwiefern die Menschen die Medien beeinflussen bzw. sie in Dienst nehmen und so Selbstbestimmung und gesellschaftliche Partizipation gefördert werden können.Wissenschaft und Praxis als Impulsgeber
Neben die klassische Wirkungsfrage, was die Medien mit den Menschen machen, ist seit den 70er Jahren die Frage getreten: Was machen die Menschen mit den Medien? Diese Frage stellt sich im Zuge gesellschaftlicher Veränderungen sowie der technischen und inhaltlichen Weiterentwicklung der Medien jeweils neu. Sie richtet den Blick auf das aktive Subjekt, das sein Medienhandeln eingebunden in seinen Lebenskontext gestaltet. Diese Frage markiert bis heute einen zentralen Fokus medienpädagogischer Forschung und Praxis. Ihre Beantwortung ist Voraussetzung für Medienerziehung, verstanden als Förderung der Möglichkeiten, gewinnbringend mit den Angeboten und Ressourcen der Medienwelt umzugehen und die Medien kompetent in die eigenen Lebensvollzüge zu integrieren. Das Konzept der Medienkompetenz als ein Bestandteil von Kommunikativer Kompetenz, wie Dieter Baacke es 1973 in die Diskussion eingebracht hat, markiert bis heute die Zielsetzung medienpädagogischer Praxis.
Die Reflexion, Konkretisierung und praktische Umsetzung dieses Ziels hat in merz einen festen Platz. Die theoretische Auseinandersetzung angesichts neuer Entwicklungen auf Seiten der Medien oder veränderter Lebensbedingungen auf Seiten der Adressatengruppen gehört dazu, ebenso wie die Darstellung und Reflexion medienpädagogischer Praxismodelle, deren Spektrum das verfügbare Medienensemble und alle Zielgruppen pädagogischen Handelns umfasst und schließlich die Information über die Entwicklungen und Angebote in den verschiedenen Sektoren der Medienwelt. Zu Film, Fernsehen und Hörfunk haben sich Computer und Internet, Computerspiele und Edutainmentangebote gesellt und vorausschauend werden neue Entwicklungen aufgegriffen, wie etwa aktuell die Bestrebungen mediale Kommunikation und Vergnügungen mobil zu machen.Auf der wissenschaftlichen Seite erfordert die Beantwortung der Frage, was machen die Menschen mit den Medien, neben der Analyse von Medienangeboten, der Aufklärung der subjektiven Medienaneignungsprozesse zentrales Gewicht zu geben, von der Wahl der Medien, über die Nutzung, Wahrnehmung und Bewertung ihrer Angebote, bis hin zur Integration in die eigenen Lebensvollzüge. Die Klärung dieser Prozesse ist ein Schwerpunkt medienpädagogischer Forschung.
In besonderer Weise wird er durch Ansätze realisiert und vorangetrieben, die die subjektiven Wahrnehmungs- und Handlungsstrukturen von Kindern und Jugendlichen in ihren Lebenskontexten aufdecken und so fundierte Grundlagen für medienpädagogisches Handeln schaffen. merz hat über die Jahre theoretischen, analytischen und empirischen Beiträgen aus der Medienforschung ausführlich Raum gegeben. Seit 2003 ist eine Nummer pro Jahr ausschließlich einem wissenschaftlichen Thema vorbehalten und die hier veröffentlichten Beiträge müssen ein Gutachterverfahren durchlaufen. Mit merzWissenschaft hat nunmehr auch der wissenschaftliche Zweig der Medienpädagogik ein eigenes Forum.Die Aufgabe ist die Förderung des medienpädagogischen Diskurses
„medien + erziehung“ – dieser Titel greift immer noch für die pädagogisch motivierte Ausei-nandersetzung mit theoretischen und praktischen Phänomenen der Medienwelt und deren Aneignung durch heranwachsende und erwachsene Menschen, die für merz im Zentrum stand und steht. 50 Jahre merz, das sind 50 Jahre Medienpädagogik. Den mit Medienpädagogik verbundenen Arbeiten Aufmerksamkeit zu verschaffen, war das erklärte Ziel bei der Gründung der Zeitschrift, als Medienpädagogik noch Filmpädagogik war. Im Vorwort zur ersten Ausgabe wird darauf verwiesen: „Die Herausgabe der Vierteljahreszeitschrift soll die fruchtbare Verbindung von Theorie und Praxis, besonders auch den Gedankenaustausch zwischen allen daran (an der Jugendfilmarbeit) Interessierten weiter fördern und vertiefen.“ Der Medienpädagogik, relevanten Themen, wissenschaftlichen Befunden, praktischen Ansätzen und theoretischen Positionen Raum zu geben und eine breit gefächerte fachliche und öffentliche Debatte darüber anzuregen, ist bis heute das erklärte Ziel von merz. An den Inhalten, die merz in den letzten 50 Jahren, in 261 Ausgaben thematisiert hat, lässt sich ein guter Teil der Geschichte der Medienpädagogik ablesen. Unverkennbar ist natürlich der Einfluss derjenigen, die die Zeitschrift über die Jahre verantwortet haben. Ihre Sichtweisen auf die Medienpädagogik, ihre Haltungen gegenüber theoretischen Positionen, wissenschaftlichen und pädagogischen Ansätzen, ihre Vorlieben für einzelne Medien und Medienereignisse u. Ä. finden ihren Niederschlag in den Schwerpunktsetzungen der vergangenen 50 Jahre. Trotz der individuellen Handschriften, die einer Zeitschrift erst ihr Gesicht geben, sind durchgängige Leitlinien erkennbar. Sie machen den Charakter von merz aus: merz bietet ein Forum für Theorie, Forschung und Praxis der Medienpädagogik. Damit wird die Ganzheitlichkeit medienpädagogischen Handelns unterstrichen. merz integriert wissenschaftliche Erkenntnisse und praktische Erfahrungen aus einschlägigen Nachbardisziplinen. So wird der interdisziplinäre Charakter der Medienpädagogik betont.merz veröffentlicht internationale Erfahrungen, wissenschaftliche Befunde und praktische Ansätze. Angesichts des globalisierten Medienmarktes wird so auf die Notwendigkeit grenz-überschreitenden Austausches verwiesen. merz initiiert Diskussionen zu aktuellen medienpädagogischen und medienpolitischen Fragen. Dadurch wird der Austausch zwischen der Fachwelt und gesellschaftlichen Verantwortungsträgern angeregt.merz schätzt die Entwicklungen auf dem Medienmarkt unter medienpädagogischen Vorzeichen ein.
Das schafft Orientierung für unterschiedliche pädagogische Handlungsfelder. merz sortiert den medienpädagogisch relevanten Publikationsmarkt über alle Medienträger hinweg. Dadurch wird medienpädagogisch Interessierten die zielgruppen- und gegenstandsadäquate Auswahl erleichtert.In den letzten 50 Jahren hat merz die Medienpädagogik begleitet, hat ihre Strömungen und die relevanter Nachbardisziplinen, die Entwicklungen des Medienmarktes und einschlägige gesellschaftspolitische Veränderungen aufgegriffen und der Reflexion und Diskussion zugänglich gemacht. Auseinandersetzungen zwischen unterschiedlichen Positionen in der Medienpä-dagogik blieben dabei ebenso wenig aus, wie Versuche politischer Einflussnahme. Zu allen Zeiten gehörte der Umgang mit knappen Ressourcen zum Tagesgeschäft. Denn merz entsteht an einem Institut, das selbst von öffentlichen Zuschüssen lebt. Die Konjunkturen der Medien-pädagogik, ob sie gesellschaftlich hoch angesehen ist oder ein Randdasein führt, haben immer bestimmt, welche Ressourcen das JFF für merz erübrigen konnte. Dass es merz bis heute gibt, ist der Wertschätzung zu danken, die der Zeitschrift vom gesamten Institut entgegengebracht wird und dem Engagement, dieses Publikationsorgan der Medienpädagogik finanziell zu sichern und ideell zu unterstützen.
Als diejenigen, die merz aktuell verantworten und auch die Geschicke des JFF leiten, hoffen und wünschen wir, dass diese Haltung auch in Zukunft trägt. Die entscheidende Antriebskraft ist die Leserschaft von merz, deren Rückmeldungen uns immer wieder bestätigen, dass sich die Anstrengungen lohnen. Mit diesem Rückhalt und mit der tatkräftigen Unterstützung einer breit gefächerten und ausgewiesenen Autorenschaft sowie dem engagierten Redaktionsteam sollte es gelingen, dass merz auch künftig die Medienpädagogik in all ihren Handlungsfeldern begleitet, umfassend, kritisch reflektierend, mit Weit-blick, mit dem Anspruch, Orientierung zu geben und mit dem Bestreben, in die Gesellschaft hineinreichende Debatten anzuzetteln.