Dr. Hans-Dieter Kübler
- Ehm. Professor für Medien-, Kultur- und Sozialwissenschaften an der Hochschule für angewandte Wissenschaften Hamburg und Privatdozent an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster
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- Hans-Dieter Kübler: Me First
Hans-Dieter Kübler: Me First
Man begegnet ihnen inzwischen ständig und überall – ob an bedeutenden Monumenten, in schönen Landschaften, geselligen Situationen oder auch in trauter Zweisamkeit: den Selfie-Produzierenden. Stets müssen sie sich visuell fixieren, für sich, für die Um- und Nachwelt; keine Realität darf mehr für sich stehen und selbst wirken; sie bekommt nur Sinn und Relevanz im fotografischen Bezug auf das Selbst. Die Welt wird gewissermaßen zur Kulisse für das eigene Ego. Längst bleibt es nicht beim schlichten Abfotografieren, nein, das Ego – und die, die fotografisch dazugehören dürfen – werden in Szene gesetzt; viele Male probiert und verändert, meist abgekupfert von den zuhauf durchs Netz vagabundierenden Porträts und Posen der Stars und Sternchen: Sein so wie die, mindestens im fotografischen Konterfei, und damit zu hoffen, in solch glamouröse Höhen wie die Idole zu gelangen.
Das Selfie gewissermaßen als symbolischer Lift für die höheren Etagen. Und damit es auch alle Freundinnen und Freunde sowie Netz-Fans wissen, werden die Selfies ununterbrochen über die sozialen Netzwerke gepostet: Seht her, da war ich. Am Eiffelturm, am Tower, an den Stränden von Malle – und wie auf Facebook firmieren sie alle nur noch als willfährige Settings für mein inszeniertes Ego. Auch die Partys mutieren zu famosen Showbühnen, wodurch alles cool oder geil wird, während sie realiter meist öd sind, im besten Fall wie üblich verlaufen. Doch die Selfies künden hinterher vom Gegenteil, und alle Likes in den Netzen bestätigen es. Eine riesige Bewegung medialer Egozentrismen hat sich mit den Selfies formiert; gewissermaßen die digitalen Narzisstinnen und Narzissten, die ihr Spiegelbild nicht mühsam im Fluss und alleine betrachten, sondern es stets in der Tasche haben und weltweit verbreiten können, gleichsam eine weitere Eskalation der Extrovertiertheit.
Nicht erst, seit die Welt von durchgeknallten Egomanen wie Putin, Erdogan, Orban und nun – vollends absurd – von Trump regiert wird, fragt man sich, was sich in ihren tiefenpsychologischen Strukturen verändert und welche Erklärungen es dafür geben kann. Natürlich sind einigermaßen versierte Medienforschende vorsichtig mit pauschalen, eindeutigen Ursachenzuweisungen: Smartphones, soziale Netzwerke und Selfies bewirken nicht jene Egostrukturen, aber sie spiegeln sie womöglich und geben ihnen mediale Formen. Keineswegs soll die Rückkehr zur Erziehung der Unterdrückung des Ichs propagiert werden, wie sie bis weit in die 1960er-Jahre vorherrschte und nicht zuletzt autoritäre Charaktere hervorbrachte. Aber das Einstehen für kollektive Werte und selbstlose Ziele, für Solidarität, Loyalität, Mitleid und Empathie rückt zunehmend in den Hintergrund, selbst wenn es bei spektakulären Ereignissen nicht weniger medial wirksam hervorgekehrt wird. Neoliberalistisches Ellbogentum, die fast gänzliche Kommerzialisierung vieler Lebensbereiche und die Vergötzung konsumistischer Attitüden wirken schon lange zusammen und haben das Idol der Ich-AG tief verankert. Sie verbinden sich nun populistisch mit chauvinistischen wie xenophobischen Strömungen. Das Selfie ist womöglich der private, symptomatische, wenn auch harmlose Reflex, der oft genug das jeweils erwünschte, geschönte Echo liefert.
- Hans Dieter Kübler: Digital Divide - ein ethisches oder Rechercheproblem?
Hans Dieter Kübler: Digital Divide - ein ethisches oder Rechercheproblem?
Als politisches Schlagwort wird der (?) „Digital Divide“ unentwegt beschworen, auch in Programmen für Entwicklung und gesellschaftlichen Wandel etwa von UNO, UNESCO, G 8 sowie vielen NGOs und regionalen Initiativen. Doch was sich dahinter tatsächlich verbirgt und mit welchen Indikatoren fassen lässt, ist schon reichlich umstritten: Handelt es sich ‚nur’ um den bekannten time lag bei der Verbreitung der neuen Informations- und Kommunikationstechnologie, wie er auch für andere Medien noch gilt oder in absehbarer Zeit aufgeholt ist, also um eine Benachteiligung im Zugang? Oder exemplifizieren sich an ihm wieder einmal strukturelle Benachteiligungen der unterentwickelten Weltregionen, insbesondere des Südens, wie sie bei den elementaren Ressourcen wie Wasser, Nahrung, medizinische Versorgung, Wohlstand, Bildung, soziale Sicherheit etc. viel gravierender, ja lebensbedrohend auftreten? Und wie lassen sich solche Zusammenhänge oder gar Kausalitäten bewerten? Sind die IT-Defizite in solchen Kontexten ‚nur’ ein weiterer Indikator für Rückstand, oder ließen sich mit ihrer Verbreitung und Hilfe mindestens einige der Benachteiligungen eindämmen oder gar beheben, wie Forschrittsoptimisten offen?
Und wie verhält es sich mit den Verbreitungsdifferenzen zwischen den und innerhalb der Industrienationen? So sind die Südeuropäer längst nicht so web-begeistert wie die Skandinavier; Ältere, Bildungsferne, Frauen und MigrantInnen nicht so wie Junge, Bildungsaffine, Männer. Sind dies alles nur zeitliche Abweichungen, oder kommen darin kulturelle und soziale Unterschiede zum Ausdruck? Außerdem müssen neben den unterschiedlichen Zugänglichkeitsbarrieren ungleiche Verteilungs- und Nutzungsoptionen registriert werden, da Hosts, Server, Inhalte und sprachliche Vorgaben die wirtschaftlichen, politischen, sozialen, kulturellen und kommunikativen Hegemonien, die Mainstreams der globalen Medienherrschaft, widerspiegeln. Längst noch nicht hinreichend substanziell und empirisch geklärt sei also, versichern die wenigen, dahin ausgerichteten Beiträge in dem vorliegenden Sammelband, was insgesamt und jeweils konkret unter Digital Divide zu verstehen ist, welche Ursachen dafür verantwortlich zu machen sind und schließlich, ob man ihn überhaupt und – falls ja – wie man ihn bekämpfen soll oder will:[Der Digital Divide] stellt keine unmittelbare Verletzung kultureller Autonomie dar, und seine Überwindung ist nicht die einzige, vielleicht nicht einmal die erfolgversprechendste Strategie zur Verminderung der bestehenden globalen Verteilungsungerechtigkeit. Somit scheint es nicht gerechtfertigt, von einem (Menschen)Recht auf Zugang zum Internet zu sprechen.
Die Überwindung des Digital Divide lässt sich allenfalls als eine Strategie zur Überwindung der bestehenden globalen Verteilungsungerechtigkeit auffassen.“, schreibt der Pädagoge E. Bohlken (S.80). Ebenso fragt sich der Stuttgarter Medienethiker K. Wiegerling skeptisch, ob Digitalisierung hierzulande oder weltweit überhaupt etwas zur generellen qualitativen Verbesserung der Lebensverhältnisse, etwa im Sinne einer „digitalen Zivilisierung“, beitragen kann und wird. Schließlich erhebt der Theologe M. Wörther die Fähigkeit zur „Informationsaskese“ zu einer heute nötigen Schlüsselkompetenz, da das Alltagsleben immer stärker von den digitalen Techniken durchdrungen werde und dadurch die menschliche Autonomie verloren zu gehen drohe.Das sehen andere Beiträger dieses Sammelbands, der als 3. Band in einer Reihe des so genannten „International Center for Information Ethics“ erscheint und von den schon vielfach einschlägig hervorgetretenen Herausgebern eingeleitet wie entsprechend gegliedert worden ist, erwartungsgemäß ganz anders. Etliche greifen daher weit in philosophische Argumentationen aus, um Informations- und Vernetzungsgerechtigkeit zu postulieren, Exklusion und Inklusion zu explizieren, Information als ein unentbehrliches soziales Grundgut zu erklären, die Schließung der digitalen Kluft aus ethischen Gründen zu fordern, die Netzkommunikation als sehr nützlich einzuschätzen oder sich generell um das Verhältnis von Virtualität und Realität analytisch zu kümmern.
Schon in ihrem gewichtigen, für Laien nicht leicht verständlichen Einleitungstrialog ordnen die Herausgeber die verschiedenen Spielarten des Digital Divide in ihre philosophisch-ethische Terminologie ein, trennen zwischen digitaler Differenz und digitaler Spaltung, benennen „einschließenden Ausschluss“, da Kulturen betroffen seien, ohne sich selbst entscheiden zu können, und bringen Divide mit Gewalt in Verbindung.Ein wenig konkreter wird es in den beiden letzten Abschnitten, in denen „Wege zur Überwindung des Digital Divide“ sowie „Manifeste und Agenden“ vorgestellt werden.So lässt auch dieser gründliche, aber in seinen Positionen heterogene Sammelband am Ende den Leser / die Leserin ein wenig ratlos, was er / sie vom Digital Divide halten soll, ob es sich tatsächlich um ein vordringliches oder nur nachgeordnetes Problem einer vielfach ungerechten, benachteiligenden und diskriminierenden Welt handelt und ob bzw. wie bei seiner analytischen Behandlung ethische Sichtweisen helfen können. Solange die empirischen Befunde noch so lückenhaft und widersprüchlich sind, bedürfte es wohl erst einer gründlichen und sorgfältigen Aufarbeitung, bevor ethische Einordnungen und programmatische Handlungskonzepte anstehen oder gar umgesetzt werden können.
- Hans-Dieter Kübler: Begrenzt wahrhaftig: die Erweiterung der Medientheorie
Hans-Dieter Kübler: Begrenzt wahrhaftig: die Erweiterung der Medientheorie
Grenzbe- wie auch -überschreitungen gehören zum Geschäft des Journalismus: Interessen und Vorteilsnahmen müssen entlarvt, öffentliche Geheimnistuereien aufgedeckt werden, die Privatsphäre bleibt selten tabu, Anstand und Geschmack gehen vor vermarktbarer Sensation und voyeuristischer Präsentation in die Knie. Hin und wieder müssen Gesetze strapaziert werden, zumal wenn sie recht parteiisch sind oder so ausgelegt werden. Auch die vermeintlich sakrosankte Barriere zwischen Wahrheit und Täuschung, zwischen Fakten und Fiction wird nicht selten überschritten. Ganze Litaneien solch journalistischer Verfehlungen und Skandale lassen sich deklamieren.Nun also ein neuer Fall, der des Klatschjournalisten Tom Kummer, der Interviews mit Hollywood-Stars wie Brad Pitt, Kim Basinger oder Sharon Stone sich ausgedacht oder von Büchern abgeschrieben hat. Ausgerechnet der „Focus“, dem selbst schon etliche Inkorrektheiten und Nachlässigkeiten angekreidet wurden, ‘deckte’ Mitte Mai Kummers Machenschaften auf. Postwendend grämen sich wieder die bestellten Tugendwächter im Journalismus um Glaubwürdigkeit und Wahrheit in der Journaille, aber in etlichen Kommentaren mischt sich auch die übliche Häme drunter. Dabei hat Kummer nicht nur das angeprangerte „SZ-Magazin“, beliefert. Doch unisono fiel die Branche über die „Süddeutsche“ her – womöglich weil sie in den jüngsten politischen Skandalen hartnäckige und findige Spürnase war und damit Meinungsmacht gewann? Jedenfalls gaben sich „SZ“ und „SZ-Magazin“ sogleich schuldbewußt, schassten die beiden Chef-Redakteure und entschuldigten sich bei den Lesern, die angeblich betrogen worden seien.Freilich, noch kurz zuvor hatte einer der Chefredakteure des „SZ-Magazins“, Christian Kämmerling, - wie eine von der SZ-Medien-Redaktion eilends, über zwei Seiten der Wochenendausgabe publizierte Dokumentation über den “Casus Kummer” (27. Mai 2000) anführt - just das „Ausloten der Grenzen“ zum publizistischen Motto des Magazins erklärt.
Und alle, die Kummers Wirken in den 80er Jahren beim Lifestyle-Magazin „Tempo“ oder seit Anfang der 90er sein undurchsichtiges Treiben in L.A. kannten, wussten, dass bei ihm nicht alles koscher war. Selbst sein 1997 bei dtv erschienenes Buch „Good Morning, L.A.“, das der Verlag unumwunden als „Panoptikum des medialen Selbst- und Publikumsbetrugs, der Informationssucht in pathologischer Form und Abgründen“ anpreist, enthält sogar Regeln zur „Steigerung journalistischer Effektivität“.Unbeirrt steht daher Tom Kummer zu seinen Usancen: „Mir ging es immer darum“, räsoniert er im „Spiegel“ (21/2000), „die Definition, was Realität ist und was Fiktion, in Frage zu stellen. Wenn ich schreibe, beginnt eine Implosion des Realen. Das ‘SZ-Magazin’ hat mir die Möglichkeiten gegeben, diesen Borderline-Journalismus zu betreiben. Ich wollte die Medientheorie erweitern und dem Magazin Schillerndes abliefern.“ Soviel Selbstbewusstsein und Theoriemächtigkeit sind neu (sofern die Zitate stimmen, was man ja auch nicht genau weiß), wo sonst das mea culpa ansteht. Eine gewisse Klasse kann man Kummers Argumenten jedenfalls nicht absprechen, halten sie doch kongenial mit kuranten poststrukturalistischen Medien- und Realitätstheorien mit. Wahrheit und Wirklichkeit, so tönt es allenthalben: wer kann sie angesichts des medialen Dauerbombardements noch unterscheiden? Intern mokiert sich die Branche schon lange darüber und spielt damit, Marketing und Quoten fest im Blick.
Nur zugeben darf es keiner. Stattdessen wird die Fahne der journalistischen Glaubwürdigkeit hochgehalten.Und am nächsten Tag? Vergessen sind die Tugenden! Ständig werden vielmehr einschlägige Formate entwickelt: Reality-TV, Doku-Soaps, VIP-Porträts, Live-Reportagen und Katastrophen-Hunting bis hin zum Voyeur-Fernsehen à la Big Brother – sie alle manipulieren Wahrheit und Wirklichkeit.Und auch die Interviewten oder Prominenten mimen mit im dubiosen Spiel, nutzen es als wohlfeiles Vehikel für ihre Selbstinszenierung. Selbst vermeintlich seriöse Interviews wie die hoch geschätzten im „Spiegel“ werden nach langen, formlosen Gesprächen kollagiert und nachträglich mit den berühmt provokatorischen Fragen versehen, wie kürzlich ein renommierter Jurist aus eigener Erfahrung verriet. Dagegen angehen? Was helfen Gegenmaßnahmen, wenn die Sache längst publiziert ist?Sind wir Leser also von Kummer betrogen worden? Kaum mehr als sonst! Was wäre anders gewesen, wenn er die Stars hätte unmittelbar befragen dürfen: nach vorheriger Abklärung und anwaltlicher Überprüfung der Fragen, mit vorgestanzten Sätzen aus den VIP-Agenturen oder nachträglicher Redaktion durch die persönlichen Agenten?Nein, betrogen worden sind die Redaktionen, die glaubten absatzsteigernde Promi-Ware zu bekommen, und nun von Kummer reingelegt wurden. Deshalb die Aufschreie und die Entrüstung! Für 6000 Mark – und die über Jahre konstant – kriegt man nun mal nicht mehr, kontert Kummer lässig: „Üblicherweise wird für Interviews solchen Zuschnitts ein Vielfaches gezahlt.“ Wer Schnäppchen einkaufen will, muss mitunter mit unsauberer Ware vorliebnehmen.
- Hans-Dieter Kübler: Mediale Universalität
Hans-Dieter Kübler: Mediale Universalität
Ausgehend von Walter Benjamins „Flaneur“ als personalem Paradigma der modernen Epoche werden Medientheorien beleuchtet, die das Produkt oder dessen Rezeption zu alleinigen Bezugspunkten der Reflexion über die Medien machen.
(merz 2000-05, S. 279-289)
Beitrag aus Heft »2000/05: Aktuelle Medientheoretische Reflexionen«
Autor: Hans-Dieter Kübler
Beitrag als PDF - Hans-Dieter Kübler: Medienbildung: Erlösung vom Erziehungsauftrag?
Hans-Dieter Kübler: Medienbildung: Erlösung vom Erziehungsauftrag?
Im Deutschen sind sie zwei nicht ganz gleiche Komponenten eines Prozesses, nämlich der kognitiven, emotionalen, sozialen und psychischen Entwicklung des Menschen unter Beteiligung von Subjekten, anderer wie des eigenen: Erziehung und Bildung. In Sprachen, die auf das lateinische „educare“ rekurrieren, gibt es nur einen Terminus dafür, wodurch sich viele diffizile wie subtile Unterscheidungen erübrigen. Zahlreiche akribische Definitionen und Abgrenzungen sind hingegen im Deutschen ersonnen und verordnet worden. Immer waren und sind mit ihnen grundsätzliche, mitunter auch aporetische Sichtweisen auf das Individuum, seine (eschatologische) Bestimmung und seine Rolle in der Gesellschaft wie auf die Wirklichkeit als ganze verbunden. Am einprägsamsten ist vielleicht die pragmatische Unterscheidung, dass man erzogen wird, aber sich selbst bildet, obwohl auch diese in diversen theoretischen Modellen in Frage gestellt und konterkariert wird. Im Terminus der Sozialisation ist eher die gesellschaftsbezogene Perspektive angesprochen, im neuerdings favorisierten Konzept der Selbstsozialisation überwiegen hingegen wieder Autonomie und Eigensinn des Subjekts. Deren Erstarken wird überraschenderweise auch dem Wirken der Medien zugeschrieben, obwohl diese ja gesellschaftliche Institutionen sind und als mächtig steuernde, wenn nicht manipulierende Agenturen beargwöhnt werden. Dennoch sollen gerade die sich ständig weiter ausdifferenzierenden Netze Chancen für Individualisierung und selbständige Gestaltung persönlicher Lebensstile bergen.Medien sind von der theoretischen wie praktischen Pädagogik seit jeher kritisch beäugt worden, als Konkurrenten wie als Störenfriede des Erziehungsprozesse (nur wenige haben zumindest die guten oder pädagogisch wertvollen Medien in didaktische Bemühungen einbezogen seit J. A. Comenius selig).
Daher bot sich Medienerziehung als passender Begriff an, zumal sie sich zunächst eher als Erziehung gegen die Medien, mindestens als eine - meist normativ ausgerichtete - Erziehung verstand, die gegen die Reize und Verlockungen der Medien standfest machte. Als „heimliche Erzieher“ wurden die Medien aber lange Zeit immer verdächtigt.Mit der realistischen Wendung der Pädagogik zur (empirischen) Erziehungswissenschaft verlangte es auch der Medienerziehung als sich mittlerweile etablierende Teildisziplin nach einem neutralen Terminus, womit zugleich der Anschluss an die sozialwissenschaftlichen Denkweisen der Kommunikations- und Publizistikwissenschaft geschafft werden sollte: Funktionalismus, Systemtheorie, symbolischer Interaktionismus, Habermas´ Universalpragmatik wurden nun bemüht. Dieter Baackes Habilschrift von 1973 gibt davon illustres Zeugnis: Medienpädagogik wurde kreiert (wiewohl eigentlich im unbemerkten terminologischen Gegensatz zum erziehungswissenschaftlichen Mainstream). Mit ihr wurde auch der theoretische Grundstein für die dann vielbemühte Medienkompetenz gelegt, die seither als Allerweltsformel dient. Die Verfechter einer normativen Medienerziehung blieben gegen diese Versozialwissenschaftlichung skeptisch; sie erkannten sie - nicht zu unrecht - als normative Neutralisierung, ja als unentschlossene bis schicke Beliebigkeit des damals en vogue werdenden „anything goes“. Als wohl letzter stritt dagegen noch 1992 der katholische Pädagoge Rainald Merkert, der in der Medienpädagogik Baackescher Prägung den essentiellen Bezug zum menschlichen Humanum, eine anthropologische Grundbesinnung, vermisste.Aber im Umgangssprachlichen haben sich solche Trennschärfen nicht durchgesetzt. Noch im Februar diesen Jahres wurde beispielweise in Bremen ein aufwendiger Modellversuch zur „Medienerziehung in der gymnasialen Oberstufe“ samt hochmögender wissenschaftlicher Begleitung abgeschlossen.
Die Frage, ob dieser Terminus mit (normativer) Absicht gewählt worden sei, wie er sich vertrage für (fast) erwachsene Menschen von 16 bis 19 Jahren und angesichts der im Laufe der dreijährigen Projektphase immer stärkeren Ausrichtung auf Computer und Onlinekommunikation, blieb unbeantwortet; sie war offenbar nicht hinreichend bedacht worden.In den Diskursen der 80er Jahre blieben Medienpädagogik und pädagogischer Umgang mit dem Computer weitgehend getrennt, wie sich nicht zuletzt an den beiden Rahmenkonzepten der Bund-Länder-Kommission zur „informationstechnischen Bildung“ (1987) und, erst acht Jahre später, zur „Medienerziehung“ (1995), übrigens ohne Bezug auf ersteres, manifestiert. Allein in Nordrhein-Westfalen konnte 1985 auf den ständig argumentativen Druck von Bernd Schorb und mir erreicht werden, dass die informationstechnische Bildung zur „informations- und kommunikationstechnologische Bildung“ erweitert wurde, unter Einbeziehung medienpädagogischer Ziele. Doch auch diese Integration blieb auf dem Papier.Anders lässt sich wohl kaum erklären, dass mit der inzwischen zwischen heftig forcierten Ausstattung der Schulen mit Online-Computern, mit den Anforderungen von Wirtschaft und Bildungspolitik, eine breite, aber ebenso diffuse Medienkompetenz in der Schule zu vermitteln und das Internet gewissermaßen zum Allroundmedium des Unterrichts zu machen, sich erneut eine terminologische Wende bemerkbar macht: Medienbildung heißt nun das Motto für die anbrechende Ära des vernetzten und digitalen Lernens. Wer immer es inauguriert hat - Stefan Aufenanger beansprucht für sich eine gewisse Urheberschaft -, hinreichend ausgelotet und expliziert, gerade auch mit Blick auf die skizzierte historische Hypothek, ist seine Semantik nicht.Bildung firmiert offiziell immer noch als eine der drei publizistischen Grundaufgaben des öffentlich-rechtlichen Rundfunks.
Besonders in der Nachkriegszeit zum Aufholen der kulturellen und als politische Bildung, aber bis in die 60er Jahre hinein, etwa bei der Gründung der Dritten Fernsehprogramme und dem Ausbau der Tele- und Funkkollegs, wurde dieser Programmauftrag ambitioniert wahrgenommen. Heute erinnert sich infolge des Kahlschlags der Bildungsprogramme kaum mehr jemand daran, und den Rundfunk für Bildung in Anspruch nehmen, tun nur noch wenige, höchstens die notorischen Hörer der Dritten Programme etwa oder die Zuschauer von arte und 3sat. Medienbildung, so lassen die wenigen Ausführungen bislang erkennen, umfasst zumindest programmatisch alle Lernprozesse, die mit und für Medien, zumal die digitalen und vernetzten, stattfinden, oder - noch pauschaler - sie steht für Kommunizieren, Lernen, Arbeiten und jedwedes symbolische Handeln in der sogenannten Informations- und/oder Wissensgesellschaft. Offenbar wollen ihre Anwälte sie an die Stelle der inzwischen verbraucht erscheinenden Medienkompetenz rücken, ohne sich darum kümmern zu müssen oder zu wollen, warum die eine (Leer)Formel nun durch eine andere ersetzt werden soll.Denn so imposant und visionär die Entwürfe daherkommen, hinreichend deutlich und präzise ist es nicht, was mit Medienbildung gemeint sein soll. Nicht einmal die Kausalitäten und Zusammenhänge sind geklärt: Bilden Medien per se (wie noch im Rundfunkkonzept angenommen)? Bildet man sich mit den Medien (wie in allen didaktischen Konzepten mit Medien angestrebt wird)? Bildet man sich für die Medien, also qualifiziert man sich für den Umgang mit ihnen (wie es Konzepte des Computerführerscheins, heute des „Internet-Führerscheins“, vorsehen)? Oder bildet man sich gar gegen die Medien (wie es früher Ideologiekritik und Gegenaufklärung propagierten)? Die Apologeten werden großzügig alles (und noch etliches mehr) vereinnahmen, Hauptsache: man nutzt Rechner und Netze. Doch ganz und stiekum lässt sich die pädagogische Tradition nicht beiseite fegen - zumal es in Nordrhein-Westfalen (womöglich auch anderswo) bereits wieder ein Rahmenkonzept „Medienbildung“ gibt. Aber seine Ziele und methodischen Verfahren unterscheiden sich kaum von den vielfach vorgebrachten Dimensionen der Medienkompetenz und ebenso wenig von denen der informations- und kommunikationstechnologischen Bildung - nur die (medien)technischen Optionen verändern sich. Also: nur ein neues Label auf bewährte Ziele, die freilich bis heute materiell und personell uneingelöst blieben?
Der Bildung eignen fraglos positive semantische Konnotationen, soviel traditionelle Wertschätzung inhäriert ihr noch immer; in jedem Fall rekurriert sie auf Kognition (Erkenntnis) und sachliche Logik. Erziehung rekurriert hingegen eher auf Normen und Werte; sie ist sozialen Beziehungen wie Hierarchien unterworfen und nicht selten subjektiver Willkür ausgesetzt. Vermutlich ist dieser semantische Bonus anvisiert, wenn nun der „Medienbildung“ der Vorrang gegeben wird. Aber wenn Namen nicht nur (strategischer und öffentlichkeitswirksamer) Schall und Rauch sind, was wissenschaftliche Seriosität noch immer unterstellen muss, dann impliziert „Medienbildung“ eben auch mindestens dreierlei (heimliche) Intentionen:p Wenn Medien bilden bzw. wenn man sich mit Medien bildet, dann braucht man sie selbst, ihre Strukturen und ihre gesellschaftlichen Funktionen wie ihre unzähligen Inhalte und Programme nicht mehr unbedingt einer kritischen Überprüfung und Kontrolle, was früher auch Ideologiekritik hieß, zu unterziehen. Vielmehr haben sie a priori einen (positiv besetzten) Bildungswert und pädagogischen Bonus. Das vermeintlich für alle gleichberechtigte und zugängliche Internet wird quasi zum Mythos der vorgeblich generellen Medienfreiheit und -pluralität hochgejubelt, in dem sich alle weltanschaulichen und individuellen Inhalte optimal wiederfinden, sich quasi verobjektivieren und damit nur noch nach persönlichen Vorlieben und Interessen ausgewählt werden.p Eine wertorientierte und kritische Erziehung hinsichtlich der und auch gegen die Medien braucht unter den Vorzeichen der Bildung nicht mehr stattzufinden. Pädagogik erlöst sich gewissermaßen selbst vom ebenso prekären wie mühsamen Erziehungsauftrag (den sie gegen die mächtigen Medien nicht mehr gewinnen kann); sie kann sich daher nur noch den unverfänglichen, neutralen, sachbezogenen und kognitiven Bildungs- und Lernprozessen mittels Medien widmen.p
Allein verantwortlich für seinen Medienumgang und für die Inhalte, denen es sich aussetzt, für seine „Medienbildung“ ist letztlich das (sich durch Medien selbstsozialisierenden) Individuum, der selbst kompetent gewordene User. Ihm allein bzw. der ihm irgendwie vermittelten Medienkompetenz obliegt die Verantwortung für den persönlichen Medienkonsum, aber am Ende auch - in der Kollektivität - für die kommunikative Verfassung einer Gesellschaft, getreu der Marktlogik von Nachfrage und Angebot. So wird das Individuum zum Subjekt des Medienmarktes stilisiert, obwohl der sich ständig neu strukturiert und weiter oligopolisiert, ohne Einfluss der Rezipienten. Dennoch wird ihre Spezies zum auch sonst gehätschelten Phantom des autonomen homo oeconomicus und communicator mystifiziert.Wenn diese Tendenzen nur annähernd zutreffen, dann passen sie zweifelsohne in den Mainstream von Deregulierung und Globalisierung, von Flexibilität und Eigenverantwortung, wie die Modewörter derzeit lauten. Ob dies die Verfechter der „Medienbildung“ gemeint haben?
Beitrag aus Heft »2000/05: Aktuelle Medientheoretische Reflexionen«
Autor: Hans-Dieter Kübler
Beitrag als PDF - Hans-Dieter Kübler: Über die kulturelle Aufwertung der Medien
Hans-Dieter Kübler: Über die kulturelle Aufwertung der Medien
Neu aber ist, dass die unversöhnlichen Elemente der Kultur, Kunst und Zerstreuung, durch ihre Unterstellung unter den Zweck auf eine einzige falsche Formel gebracht werden: die Totalität der Kulturindustrie. Sie besteht in Wiederholung“, schrieben 1944 Theodor W. Adorno und Max Horkheimer in „Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbetrug“ unter dem Eindruck der Medien- und Werbeumwelt in den USA. „In unseren Entwürfen war von Massenkultur die Rede“ begründete Adorno 1963 in einem Rundfunkvortrag: „Wir ersetzten den Ausdruck durch ‘Kulturindustrie’, um von vornherein die Deutung auszuschalten, die den Anwälten der Sache genehm ist: dass es sich um etwa wie spontan aus den Massen selbst aufsteigende Kultur handele, um die gegenwärtige Gestalt von Volkskunst.“Kulturindustrie war ein ebenso analytischer wie polemischer Begriff, eine Kategorie der Ideologiekritik, der gegen die Suggestion und Raffinesse des einvernehmenden Mainstream resistent bleiben und damit Anstöße für kritische Kultur- und Medienforschung eröffnen sollte.
Heute ist der Begriff Kulturindustrie fast vergessen oder wird nur noch als historische Reminiszenz gebraucht – trotz der ungleich mächtigeren, fast über alle Branchen agierenden Medien- und Informationsindustrie. Stattdessen macht der der Medienkultur Karriere, ohne dass bislang hinlänglich geklärt ist, was letzteren präziser und valider macht als ersteren. Denn „Kultur“ insgesamt durchlief und durchläuft bemerkenswerte semantische Metamorphosen oder auch Inflationen: Vom romantischen Ideal des „Schönen, Guten, Wahren“, also einem elitär normativen Begriff, wird er in Anlehnung an den angelsächsischen Usus ‘plebejisiert’: als Alltagskultur(en) kennzeichnet er empirische Lebensweisen. Als Sub- und Gegenkultur im 68er und 80er Kontext ist er wieder wertend gemeint, nunmehr aber mit gegensätzlicher politischer Stoßrichtung, nämlich gegen die etablierte Kultur. Die britischen ethnographischen Studien zur Jugendkultur verknüpfen gewissermaßen die beiden Stränge, indem sie die Lebensweisen und Ausdrucksformen vornehmlich unterprivilegierter Gruppen sowohl als Protest wie auch authentische Identitätsstiftung interpretieren, die gleichwohl ständig unter der Drohung der kommerziellen Einvernahme steht. Heute firmiert Kultur als elegante Metapher für alle sogenannten weichen Faktoren des Kommerzes, vom Prädikat des Wirtschaftsstandorts bis hin zur Unternehmenskultur. Mit der „deutschen Leitkultur“ hat die politische Rechte einen vorderhand inhaltsleeren, aber insgeheim chauvinistischen und militant einsetzbaren Kulturbegriff in Umlauf gebracht. Zu solch instrumenteller und vernebelnder Semantik passt sicher Medienkultur. Sollte der Terminus allerdings spezieller und präziser gemeint sein, bedürfte es exakterer Explikationen: Zwar begründet etwa K. Hickethier die Verwendung von „Medienkultur“ damit, dass „alle kulturellen Diskurse durch die Medien, vor allem durch das dominante Medium Fernsehen, präfiguriert“ seien. Für W. Faulstich gehören alle Medien zur Kultur und bilden sogar ihren Kern, weshalb der Begriff als „Schlüssel zum Verständnis von Gesellschaft, als Zugang zu tieferen Einsichten in Veränderungen und kulturellen Wandel“ tauge.
Aber für die Fakultät Medien der Weimarer Bauhaus-Universität ist Kultur seit jeher ohne Medien nicht denkbar. Mithin sind Medien schon immer Kultur gewesen, oder sie konstruieren erst jetzt eine spezielle.Neben dem gänzlich wertfreien Kulturbegriff kursiert also nach wie vor ein normativer Kulturbegriff. Aus dieser Spannung, wenn nicht gar Dichotomie ist auch die Medienkultur nicht zu entlassen. Vielmehr müsste ihre analytische Schärfung dreierlei erreichen:
1. Wenn Medienkultur unsere Gesellschaft, Lebensweise und Symbolik kennzeichnet, dann müsste präzise dargelegt werden, wodurch sich kulturelle Formationen heute von früheren und simultanen qualitativ und quantitativ unterscheiden, wie weit etwa die medialen Formierungen reichen, ob sie totalitär, umfassend sind oder nur segmentär, welche Sektoren von ihnen dominiert sind. Solange bleibt der Terminus eine zwar eingängige, aber unbewiesene Metapher, die unweigerlich alle Medien und ihre Inhalte aufwertet.
2. Wenn alle kulturelle Produktion als symbolische Äußerung medialer Materialisierung und/oder Speicherung bedarf, dann war Kultur immer schon Medienkultur, zumindest im phänomenologischen Sinne. Heutige Medienkultur wäre demnach durch die enorme Expansion von Speicher- und Übertragungstechnologien, den Einsatz enormer Kapitalien eher technologisch und ökonomisch geprägt, was Adorno und Horkheimer in ihrem treffenden Begriff der Kulturindustrie fassen wollten.
3. Da trotz der Universalisierungstendenzen nach wie vor Segmente und Ressorts existieren, die einen wertenden, substantiellen Kulturbegriff mindestens institutionell verkörpern, ihm authentischen Ausdruck zu verleihen bestrebt sind, mithin Kulturbegriffe jeweils neu kreieren, kritisch prüfen und auch transzendieren, sind Medienkultur und Kulturmedien längst noch nicht identisch, sondern repräsentieren Spannungen und Widersprüche, die es exakter zu analysieren gilt.
- Hans-Dieter Kübler: Von der politischen Gegenaufklärung zur marktkonformen Qualifizierung
Hans-Dieter Kübler: Von der politischen Gegenaufklärung zur marktkonformen Qualifizierung
Der Rückblick auf eine merz-Diskussion von 1981 über neue Medien und Pädagogik zeigt, dass Medienpädagogik ihr praktisches Tun aus empirischen Analysen gewinnen muss.(merz 2001-04, S. 229-234)
Beitrag aus Heft »2001/04: Medienutopien gestern und heute«
Autor: Hans-Dieter Kübler
Beitrag als PDF - Hans-Dieter Kübler und Uwe Debacher: Lernsoftware im User-Test
Hans-Dieter Kübler und Uwe Debacher: Lernsoftware im User-Test
Computerspiele und Lernsoftware sind in den letzten Jahren in einer solchen Geschwindigkeit auf den Markt gekommen, dass es kaum möglich ist, sich einen Überblick zu verschaffen.
Von einem besonderen Modell der Beurteilung solcher Medien berichtet dieser Beitrag.
(merz 2004-04, S. 62-66)
- Hans-Dieter Kübler: (Virtuelles) Lernen im Museum?
Hans-Dieter Kübler: (Virtuelles) Lernen im Museum?
Obwohl sich fast jedes Museum mittlerweile auf einer eigenen Homepage präsentiert, fallen doch die virtuellen, musealen Welten, die Rundgänge durch Säle oder auch museumsdidaktische Konzepte anschaulich vermitteln könnten, noch sehr bescheiden aus.
Um sie als künftige Lernräume nutzen zu können, sind noch einige Anstrengungen zu unternehmen. Welche Schwierigkeiten allerdings der Realisation von virtuellen Museen im Wege stehen, wird deutlich am Beispiel des virtuellen Film- und Fernsehmuseums Hamburg.
(merz 2004-01, S. 9-16)
- Hans-Dieter Kübler: Wohlfeile Sündenböcke
Hans-Dieter Kübler: Wohlfeile Sündenböcke
Vom Termin her nicht ganz einsichtig, meinten die Mainstream-Medien zum Jahreswechsel 2007/2008 die sogenannte 68er-Bewegung aufleben lassen zu müssen. Denn ein markantes Datum lag nicht an. Und so jubiläumsträchtig sind 40 Jahre eigentlich nicht, als dass man sie demonstrativ feiern müsste. Aber womöglich wollte sich der eine oder andere Redakteur – der sich insgeheim selbst zu dieser Generation zählt und nun auch der Verrentung entgegenblickt – noch ein publizistisches Denkmal setzen. Erneut kursierten unisono die längst bekannten Fotos von Demos, freier Liebe und der Kommune 1, den Bürger schreckenden Protagonisten mit ihren Plakaten und Sprüchen durch Blätter und über Bildschirme, Dutschke, Cohn-Bendit und Krahl untergehakt mit allen den anderen, in Berlin und Frankfurt, Ho Chi Minh-Losungen skandierend, von Wasserwerfern zurückgepeitscht oder gleich in polizeilichen Gewahrsam genommen.
Und folgerichtig mussten solche Radikalisierungen in Brandanschlägen, Attentaten und Terrorismus enden, die RAF sozusagen als unausweichliche Konsequenz von Schüler-Revolte und Studenten-Rebellion. Nein, eine Aufarbeitung von Strukturen und grundlegende Veränderungen war es nicht und sollte es auch nicht sein, eher schon die effiziente Form der Etikettierung, des Branding, wie es im Branchen-Jargon wohl heißt. Dass es ‚die’ 68er gar nicht gab, vielmehr es sich um eine unüberschaubare Vielfalt von Aufbrüchen, Anfragen, Gruppierungen, Initiativen et cetera handelt, die sich massenmedial in jenen Fotos nur unzureichend visualisieren lassen, das kümmert die selbsternannten Interpreten nicht.
Wie Konservative schon seit jeher pauschale Schuldzuweisungen und Geschichtsklitterungen regelmäßig verteilen, wenn sie angebliche Leistungsverweigerung in der Schule, Werteverfall in Gesellschaft und Familie, soziale Zerrüttungen, Drogenkonsum und Kriminalität anprangern und umstandslos der antiautoritären Erziehung zuschieben, scheint nun auch dem ehedem ‚linken Milieu’ wohlfeil, sogar zur stilisierten Eigendiffamierung zu taugen: Die präzeptive Tonlage gab der selbstherrliche ‚Zwischenrufer’ des STERN, Hans-Ulrich Jörges, in seiner sogenannten ‚Brandrede’ vor (stern.de 16.01.2008): Politisiert habe ihn noch als Pennäler ein Schulstreik in Frankfurt 1969 (!) – „eine rauschhafte Erfahrung, Wochen glückstaumelnder Freiheit … Rock ‚n’ Roll bis morgens um vier“ –, bis es ihm schnell dämmerte: „totalitär“ sei die Bewegung gewesen, auf fatale Weise deutsch und unerbittlich auf blutigen Wegen: Repression statt Freiheit.“ Da ist die probate Metapher, die schon so oft zur Geschichtsbiegung herhalten musste: Totalitarismus gilt als Pauschalverdikt, wenn man etwas grobschlächtig denunzieren will, ob Hitlers oder Stalins Regime, im sogenannten Historikerstreikt sowieso.
Den Gipfel der perfiden Absurdität erklomm masochistisch der selbstgewisse Historiker Götz Aly, einst selbst vehementer 68er und zeit seines Lebens Faschismusforscher: Formal, in den totalitären Ritualen gleiche „unser Kampf“ dem der flugs herbeifantasierten 33er, der faschistischen Vätergeneration. Schlimmer kann man sich wohl kaum verirren, das lässt sich psychoanalytisch nur noch als rabiate Selbstaggression erklären, aber umso wirksamer wurde es medial ausgeschlachtet. Und da sich zugleich noch Hitlers „Kampf“ um die „Machtergreifung“ zum 75. Male jährt, fand sich wie von selbst jene verheerende Koinzidenz. Willkommen im historischen Tohuwabohu!
- Hans-Dieter Kübler: Die Bundesfamilienministerin rät
Hans-Dieter Kübler: Die Bundesfamilienministerin rät
Haben Sie schon den „richtigen Web-Dreh“ heraus und „bewegen“ Sie sich „sicher“ im Internet, als Familie, Eltern und Erziehende? Wenn nicht, jetzt gibt es amtliche Hilfe auf einem bunten Leporello, herausgegeben vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Verantwortet wird die Internet-„Aufklärung“ noch von der vorangegangenen Ministerin Bergmann. „Multimediale Angebote“ – so werden die Leser eingangs instruiert – sind „in der Schule, im Hort, ja sogar schon im Kindergarten [...] heute Realität“, wie schon lange bereits im Wohnzimmer. Gegenteilige repräsentative Daten wie die der jüngsten KIM-Studie für 2002 könnten da nur stören: Gerade mal 15 Prozent der 6 bis 7-Jährigen sind PC-User (ein- oder mehrmals die Woche), 39 Prozent behaupten Computererfahrung zu haben und unter den 12 bis 13-Jährigen ist es auch nur gut ein Drittel, die regelmäßig am PC sitzen; die unter 6-Jährigen wurden überhaupt nicht registriert. Ebenso dürften Kindergärten und Horte, die multimedial ausgestattet sind, (noch) selten sein. Doch solche Daten fechten den Verfasser nicht an; er formt sich die Wirklichkeit nach marktkonformem Gusto und dekretiert positive Vorgaben entlang fragwürdiger Altersnormen: Schon das Kleinkind erfasst den „richtigen“ Dreh, spätestens ab 3 Jahren. E-Nursing – so könnte das probate Motto lauten – gewissermaßen von Geburt an: „Lassen Sie Ihr Kind praktische Erfahrungen sammeln.
Das Tippen auf der Tastatur macht den Kindern Spaß“, lautet der „Tipp“ für die Eltern, aber bitte nicht länger als „gelegentlich“ „5 oder 10 Minuten gemeinsam den Computer entdecken.“ Also: Wecker daneben, um alles richtig zu machen! Denn so früh wie möglich zu üben, kann nicht schaden, ist allemal besser als eine potenzielle PC-Karriere zu verschlafen. Bei den 4 bis 6-Jährigen dürfen es schon mal 30 Minuten täglich sein, der Computer kann zum Spielplatz werden, Lern- und Spielprogramme – oder besser „Edutainment“ – „wecken zunehmend das kindliche Interesse“. Das freut die einschlägige Industrie, die Verlage können nun getrost ihre Lern- und Spielsoftware mit amtlichem Wohlwollen bewerben. Die 7 bis 11-Jährigen sind schon voll im Web-Fieber, sie kennen ihre Favoriten und Portale, daher können „gemeinsame Computernachmittage [...] über die Maßen lange dauern“. Dürfen sie auch? Cool bleiben, heißt die Devise, denn „zu strikte Regelungen schaffen nur Frustrationen“. Deshalb „ruhig mal länger“ spielen lassen, wenigstens „an besonderen Tagen“. Die Eltern sollten allerdings „das Gesamtbudget der wöchentlichen Medienzeit im Verhältnis zu anderen Aktivitäten im Blick haben“. Dabei helfen könnte wohl ein perfekter E-Timer!Fragt sich, wem solch recht banalen Ratschläge vom Regierungskatheder nützen. Wohl kaum denjenigen Eltern, die mit Medien und PC umgehen können und sich ihrer Erziehung sonst sicher sind. Und den anderen?
Die werden solche Flyer kaum lesen oder nicht die Zeit und Kraft haben, ihren pseudoakkuraten Vorgaben zu folgen. Aber eine dritte Konsequenz ist auch nicht auszuschließen und von den unerschrockenen Medienpädagogen wohl kaum bedacht: Was ist, wenn Verängstigte oder Beflissene daraus Direktiven zum Handeln ziehen und jüngst das nachahmen, was vorgegeben wird? Dann treffen sich Regierung und ihre Medienpädagogen mit jenen Protagonisten, die den Kindermarkt nach neuester KidsVerbraucherAnalyse 2003 noch weiter puschen wollen. Denn er allein, so heißt es, habe noch „große Dynamik“, über 20 Milliarden Euro, wenn da nicht noch mehr zu holen ist!Bleibt zu hoffen, dass die gegenwärtige Familienministerin, bodenständig wie sie ist, ihr chronisch schmales Budget für wichtigere Dinge ausgibt: für mehr Kindergarten- und Hortplätze, für besser ausgebildete Erzieherinnen, generell für ein kinderfreundlicheres Klima und – zusammen mit ihrer grünen Kollegin – für eine gesündere Ernäherung und mehr Bewegung. Denn jedes dritte Kind – so verkündet diese derzeit landauf landab – ist zu dick. Apropos: Essen. Wenn Kinder lang am Computer sitzen, sinkt ihr Kalorienverbrauch. Das sollte im nächsten Flyer berücksichtigt werden: Die webaffine Kost – von „Müller-Milch“ und anderen großzügig gesponsert!
- Hans-Dieter Kübler: Was ist und was soll digitale Bildung?
Hans-Dieter Kübler: Was ist und was soll digitale Bildung?
Die Bundesregierung strebt mit dem DigitalPakt#D eine „Digitale Bildungsoffensive“ an. Dennoch liegen die Ausgaben für Bildungsmittel weit unter den Richtwerten der OECD und viele Bildungseinrichtungen sind marode. Dazu birgt die Digitalisierung neben enormen Automatisierungs- und Rationalisierungspotenzialen auch die Frage nach adäquater politischer Bildung und beeinflusst das Lernen und Spielen Heranwachsender. Wie sieht es also wirklich mit der digitalen Bildung in Deutschland aus? Oder handelt es sich vielmehr um einen Deckmantel für unerreichte Ziele?
Literatur
Alter, Adam (2018). Unwiderstehlich: Der Aufstieg suchterzeugender Technologien und das Geschäft mit unserer Abhängigkeit. Berlin: Berlin Verlag.
Bockhahn, Steffen/Büttner, Christian/Hebborn, Klaus/Klein, Agnes/Laumer, Bernhard/Petrowski, Norbert/Rossmeissl, Dieter/Schenkelberg, Martin/Schmidt, Rainer/Voigt, Jana/Weiße, Berndt (2017). Lehren und Lernen im digitalen Zeitalter. Positionspapier des Deutschen Städtetages. Köln und Berlin: Deutscher Städtetag.
Birkner, Thomas (2018). Medialisierung und Mediatisierung. Baden-Baden: Nomos.
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Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung (2016). Computerspiele- und Internetsucht. www.drogenbeauftragte.de/themen/suchtstoffe-und-abhaengigkeiten/computerspielesucht-und-internetsucht [Zugriff: 20.05.2018]
Dräger, Jörg/Müller-Eiselt, Ralph (2015). Die digitale Bildungsrevolution. Der radikale Wandel des Lernens und wie wir ihn gestalten können. München: Deutsche Verlags-Anstalt.
#excitingEDU (2018). Digitale Bildung. www.excitingedu.de/digitale-bildung [Zugriff: 20.05.2018]
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Fritz, Jürgen (Hrsg.) (1988). Programmiert zum Kriegspielen. Weltbilder und Bilderwelten im Videospiel. Frankfurt/Main und New York: Campus.
Hartung, Anja/Lauber, Achim/Reissmann, Wolfgang (Hrsg.) (2013). Das handelnde Subjekt und die Medienpädagogik. Festschrift für Bernd Schorb. München: kopaed.
Hartung, Manuel J./Schmitt, Stefan (2018). Mehr Kabel? Mehr Bildung! Ein „Chancenland“ soll die Republik werden, heißt es im Koalitionsvertrag. In: DIE ZEIT, Nr. 8, 15. Februar 2018, S. 67.
Hartung, Manuel J./Sentker, Andreas/Spiewak,Martin (2018). „Wir sollten die Schule umbauen“. In: DIE ZEIT, Nr. 14, 28. März 2018, S. 73.
Kalbitzer, Jan (2016). Digitale Paranoia: Online bleiben, ohne den Verstand zu verlieren. München: Beck.
Kalblitzer, Jan (2017). Die gar nicht so verlorene Generation. In: Süddeutsche Zeitung, Nr. 183, 10. August 2017, S. 11.
Kultusministerkonferenz (KMK). Bildung in der digitalen Welt. mk.org/fileadmin/Dateien/veroeffentlichungen_beschluesse/2018/Strategie_Bildung_in_der_digitalen_Welt_idF._vom_07.12.2017.pdf [Zugriff: 20.05.2018]
Lankau, Ralf (2017). Kein Mensch lernt digital. Über den sinnvollen Einsatz neuer Medien im Unterricht. Weinheim und Basel: Beltz.
Lembke, Gerald/Leipner, Ingo (2018). Die Lüge der digitalen Bildung. Warum unsere Kinder das Lernen verlernen. München: Redline Verlag.
McElvany, Nele/Schwabe Franziska/Bos, Wilfried/Holtappels, Heinz Günter (Hrsg.) (2018). Digitalisierung in der schulischen Bildung. Chancen und Herausforderungen. Münster: Waxmann.
Meckel, Miriam (2018). Mein Kopf gehört mir. Eine Reise durch die schöne neue Welt des Brainhacking. München: Piper.
Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (Hrsg.) (2017). JIM 2017. Jugend, Information, (Multi-)Media. Basisstudien zum Medienumgang 12- bis 19-Jähriger in Deutschland. Stuttgart: Landesanstalt für Kommunikation Baden-Württemberg (LFK).
Milzner, Georg (2016). Digitale Hysterie. Warum Computer unsere Kinder weder dumm noch krank machen. Weinheim: Beltz.
Muuß-Merholz, Jöran (2018). Freie Unterrichtsmaterialien – finden, rechtssicher einsetzen, selbst machen und teilen. Weinheim, Basel: Beltz.
Netzwerk Digitale Bildung.de (2018). www. netzwerk-digitale-bildung.de [Zugriff: 10.05.2018]
Netzwerk Digitale Bildung (Hrsg.) (2015). Zwischen analog und digital. Lernen und Lehren an Schulen und Hochschulen. www.netzwerk-digitale-bildung.de/wp-content/uploads [Zugriff: 10.04.2018]
Rossbauer, Maria (2017). Machen Smartphones dumm und dick? In: DIE ZEIT, Nr. 28, 6. Juli 2017, S. 60.
Schaumburg, Heike (2018). Empirische Befunde zur Wirksamkeit unterschiedlicher Konzepte des digital unterstützen Lernens. In: McElvany, Nele (Hrsg.), a. a. O., S. 27–40.
Schorb, Bernd/Wagner, Ulrike (2013). Medienkompetenz – Befähigung zur souveränen Lebensführung in einer mediatisierten Gesellschaft. In: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.), Medienkompetenzförderung für Kinder und Jugendliche. Eine Bestandsaufnahme. Berlin, S. 18–23.
Spitzer, Manfred (2014). Digitale Demenz. Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen. München: Droemer.
Spitzer, Manfred (2017). Cyberkrank! Wie das digitalisierte Leben unsere Gesundheit ruiniert. München: Droemer.
Zierer, Klaus (2018). Lernen 4.0. Pädagogik vor Technik. Möglichkeiten und Grenzen einer Digitalisierung im Bildungsbereich. Baltmannsweiler: Verlag Hohengehren, 2., erw. Aufl. zu Dohna, Jesko (2018), Goldene Finger. In: Der Spiegel, Nr. 22, 17. März 2018, S. 94–96.
- Hans-Dieter Kübler: Medienfreiheit verkehrt
Hans-Dieter Kübler: Medienfreiheit verkehrt
Längst verklungen sind die Schalmeien über das demokratische Potenzial des Internets: Zwar kann jede bzw. jeder mit jeder bzw. jedem noch direkt – ungehindert von den professionellen Gate Keepern – kommunizieren und seine Meinungen frei vertreten, aber das ermöglichen mächtige Provider und Plattformen, die alle Daten nebenbei verhökern und mit solch werbeträchtigen Filterblasen enorm verdienen. Durchkommerzialisiert und von den IT-Giganten dominiert hat das Internet längst seine emanzipatorischen Verheißungen verloren. In der öffentlichen Wahrnehmung wird es – womöglich zu einseitig – verstärkt als unkontrolliertes Forum für Hasstiraden, Diffamierungen, Promiskuität und Fake News wahrgenommen. Der Rechtspopulismus nutzt es für seine Propaganda, in seinen dunklen Ecken vernetzen sich sexuelle Abnormitäten, Terrorismus und organisierte Kriminalität. Da dürfte es auf breite Zustimmung stoßen, wenn sich nun auch die EU-Kommission auf Drängen des EU-Parlaments aufmacht, um die wachsende Desinformation, wie sie Fake News übersetzt, einzudämmen. Wie schon 2016 beim Thema Hassrede, ließ sie den Verhaltenskodex Code of Practice on Online Desinformation ausarbeiten, der Mitte Oktober von Betreibern führender Onlineplattformen sowie Sozialer Netzwerke und über 50 weiteren Firmen unterzeichnet wurde. Das umfangreiche Memorandum umfasst fünf Kompetenzbereiche: Werbeeinnahmen von Unternehmen, die falsche Informationen verbreiten, sollen gestoppt, gefälschte Accounts und Bots unterbunden, politische Werbekampagnen transparenter, Meldungen von Fake News-Fällen für Userinnen und User vereinfacht und die Verbreitung von Desinformationen strukturell besser überwacht werden. Schon Ende des Jahres will die Kommission einen ersten Rechenschaftsbericht abliefern. Viel Aufmerksamkeit hat diese Maßnahme in der deutschen Öffentlichkeit nicht gefunden, obwohl sie recht gravierend werden könnte: Zwar kritisierten Medien- und Plattformvertreter, dass der Kodex keinen gemeinsamen Ansatz, keine sinnvollen Verpflichtungen, keine messbaren Ziele und Durchsetzungsinstrumente und damit keine Möglichkeit zur Überwachung des Umsetzungsprozesses enthalte. Aber die viel grundsätzlichere Frage, wie das Internet die überkommene Meinungs- und Pressefreiheit notwendig oder arbiträr verändert, wird kaum diskutiert. Dem feudalen Staat vom Bürgertum seit 1848 abgerungen, in der Weimarer Verfassung erstmals anerkannt, vom Nazi-Regime sogleich kassiert, in der BRD von den Besatzungsmächten zugestanden und im Grundgesetz als Grundrecht verankert, in der DDR nur deklamiert, derzeit in anderen europäischen Staaten von „illiberalen“ und rechtspopulistischen Autokraten bedroht, überträgt die EU den Schutz und die Einhaltung der digitalen Medienfreiheit nun mächtigen Online-Giganten in Form einer Selbstverpflichtung. Abgesehen davon, dass es wohl nie konsensfähige Definitionen für Fake News in einem derart ideologisch zerstrittenen Europa geben wird, zeigt diese unverbindliche Bitte, wie ohnmächtig inzwischen (quasi) staatliche Instanzen gegenüber dem globalen, vermachteten Internet geworden sind.
Beitrag aus Heft »2019/01 Medien, Wohlbefinden, gelingendes Leben«
Autor: Hans-Dieter Kübler
Beitrag als PDF - Hans-Dieter Kübler: Computer installiert - (Medien-)Pädagogik passé?
Hans-Dieter Kübler: Computer installiert - (Medien-)Pädagogik passé?
Die Ausstattung deutscher Schulen mit Computern und Internetanschlüssen hat sich in den letzten Jahren deutlich verbessert.
Doch haben sich damit auch die Erwartungen bezüglich neuer Lernformen und medienpädagogischer Erfolge erfüllt, die damit verbunden waren? Dieser Beitrag untersucht, wie es um die Entwicklung der Medienpädagogik und kompetenz derzeit bestellt ist.
(merz 2005-2, S.9-16)
- Hans-Dieter Kübler: Was ist denn da (so) lustig...?
Hans-Dieter Kübler: Was ist denn da (so) lustig...?
Das Forschungsfeld Medienkomik und Rezipientenhumor ist so komplex, dass es von einer Wissenschaftsdisziplin allein gar nicht erfasst werden kann.
Alle einschlägigen Forschungsarbeiten beklagen bis heute, dass dieses Feld weitgehend unerforscht ist, so dass sich noch kaum überzeugende theoretische Erklärungen finden lassen und erst recht wenig empirische Befunde vorliegen.
(merz 2005-04, S.29-34)
- Hans-Dieter Kübler: Mythos Wissensgesellschaft. Gesellschaftlicher Wandel zwischen Information, Medien und Wissen. Eine Einführung.
Hans-Dieter Kübler: Mythos Wissensgesellschaft. Gesellschaftlicher Wandel zwischen Information, Medien und Wissen. Eine Einführung.
Die Etiketten „Wissens-“ und „Informationsgesellschaft“ spielen in den derzeitigen politischen und wissenschaftlichen Diskursen eine nicht zu vernachlässigende Rolle. Aber was an substanzieller Diagnosekraft, welches analytische Potenzial steckt hinter diesen Begriffen? Angesichts des häufigen Gebrauchs dieser zeitdiagnostischen Formeln ist es ein Verdienst des Bandes von Hans-Dieter Kübler, in der Form einer Einführung sich genau mit dieser Frage auseinanderzusetzen. Für die Medienwissenschaften von Belang ist dabei, dass er sich auch intensiv dem Stellenwert der Medien im Gefüge des sozialen Wandels widmet. Insgesamt gesehen betätigt sich der Autor als Mythenjäger, ganz im Geiste von Norbert Elias, welcher den Sozialwissenschaften ja nicht zuletzt diese Aufgabe zugeschrieben hatte. Produktive DekonstruktionKübler tut dies nach einer problemorientierten Einführung in folgenden Schritten: Zuerst handelt er wichtige Diagnosen des gesellschaftlichen Wandels ab, lässt in einem Intermezzo die Entwicklung der Informations- und Kommunikationstechnologien Revue passieren, um sich dann eingehend und kritisch mit den beiden Schlüsselkategorien Informations- und Wissensgesellschaft auseinanderzusetzen.
Schließlich bietet er einen aktuellen Überblick zu Trends und Segmenten der Wissensgesellschaft, bevor er ein, wie ich meine, (hyper-)kritisches Resümee zieht. Von der ersten Zeile des Buches an wird sichtbar, dass der Autor ein großes Un-behagen gegenüber den Diagnosen hat – es ist durchzogen von zum Teil beißender Kritik, von Nachweisen an beliebiger Verwendung der beiden Schlüssel- und Hoffnungskonzepte in manchen sozialwissenschaftlichen Schriften. Dies gehört zweifellos zu den Verdiensten dieser Zusammenstellung. Sie sensibilisiert gegenüber den Funktionen der euphorischen Semantik des gesellschaftlichen Fortschritts, macht die Instrumentalisierung für andere politische Zwecke deutlich. Damit handelt es sich im besten Sinne um eine Dekonstruktion, einer wichtigen Aufgabe sozialwissenschaftlicher Diskursanalyse.Gleichzeitig ist damit die Schwäche der Argumentation angesprochen. Aufgrund der hyperkritischen Auseinandersetzung kommt das zu kurz, was man sich von einer Einführung eben auch erwartet: Wissensvermittlung, die klare Schneidung von Diskurslinien, das Aufzeigen von Zusammenhängen und die Herstellung von Bezügen zur Lebenswelt der Rezipienten.
Sie geht zuweilen unter, was auch den kunstvollen und zu langen Satzkonstruktionen geschuldet sein mag. Aber: Diese kleinen Schwächen werden mehr als wettgemacht durch die Aktualität der verwendeten Quellen und die Breite der abgegrasten wissenschaftlichen Felder. Ganz im Sinne eines offenen Kunstwerkes sollte man diese Einführung als Impuls verstehen, zum einen die sozialstrukturelle Verteilung von Wissen und Information näher zu untersuchen und zum anderen die Schlüsselrolle der Medien in Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit für die Verbreitung und Akzeptanzbeschaffung zu sondieren. Auf diese Weise könnte das Konzept der Wissensgesellschaft von einer primär politisch-öffentlich konstruierten Leitsemantik zu einem präziser operationalisierbaren sozial- und medienwissenschaftlichen Konstrukt werden.
- Hans-Dieter Kübler: Konjunkturen medienpädagogischer Paradigmen
Hans-Dieter Kübler: Konjunkturen medienpädagogischer Paradigmen
‚Medienpädagogik‘ ist nicht nur ein schillernder Sammelbegriff, son¬dern auch eine (Teil-)Disziplin, die in verschiedenen Wissenschaftsbe¬reichen beheimatet ist und ihre Theoreme primär von diesen entleiht. Ihre Theoriegeschichte lässt sich daher am besten anhand historisch-populärer Paradigmen rekonstruieren. Von praktischer Medienerzie¬hung über Mediendidaktik hin zu modernen, intentionalen Konzepten der Medienkompetenz und Medienbildung – ihre Geschichte ist geprägt von gesellschaftliche Entwicklungen, medientechnischen Innovationen und zahlreichen Begriffsbezeichnungen, die es zu reflektieren gilt.
Literatur:
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Baacke, Dieter/Kübler, Hans-Dieter (Hrsg.) (1989). Qualitative Medienforschung. Konzepte und Erprobungen. Tübingen: Niemeyer.
Bentele, Günter/Brosius, Hans-Bernd/Jarren, Otfried (Hrsg.) (2013). Lexikon Kommunikations- und Medienwissenschaft. 2. überarb. u. erw. Aufl. Wiesbaden: Sprin¬ger VS.
Berger, Peter L./Luckmann, Thomas (1969). Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt am Main: Fischer.
Groeben, Norbert/Hurrelmann, Bettina (Hrsg.) (2002). Medienkompetenz. Voruaussetzungen, Dimensionen, Funktionen. Weinheim/München: Juventa.
Hartung, Anja/Lauber, Achim/Reissmann, Wolfgang (Hrsg.) (2013). Das handelnde Subjekt und die Medienpä¬dagogik. Festschrift für Bernd Schorb. München: kopaed.
Hartung, Anja/Schorb, Bernd/Niesyto, Horst/Moser, Heinz/Grell, Petra (Hrsg.) (2014). Jahrbuch Medienpäda¬gogik 10. Methodologie und Methoden medienpädagogischer Forschung. Wiesbaden: Springer VS.
Hüther, Jürgen/Podehl, Bernd (1997). Geschichte der Medienpädagogik. In: Hüther, Jürgen/Schorb, Bernd/ Brehm-Klotz, Christiane (Hrsg.), Grundbegriffe Medienpädagogik. München: kopaed, S. 116–126.
Kommer, Helmut (1979). Früher Film und späte Folgen. Zur Geschichte der Film- und Fernseherziehung. Berlin: Basis Verlag.
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Kübler, Hans-Dieter (2013). „…ein ausgezeichnetes Mittel der Belehrung und Unterhaltung...“ Einige historische Stationen der Medienpädagogik bzw. Medienkompetenzförderung in Hamburg. In: Maurer, Björn/Reinhard-Hauck, Petra/Schluchter, Jan-René/von Zimmermann, Martina (Hrsg.), Medienbildung in einer sich wandelnden Gesellschaft. Festschrift für Horst Niesyto. München: kopaed, S. 115–146.
Kübler, Hans-Dieter (2014). Ansätze und Methoden medienpädagogischer Forschung. Erträge und Desiderate. Versuch einer Zwischenbilanz. In: Hartung, Anja/Schorb, Bernd/Niesyto, Horst/Moser, Heinz/Grell, Petra (Hrsg.), Jahrbuch Medienpädagogik 10. Methodologie und Me¬hoden medienpädagogischer Forschung. Wiesbaden: Springer VS, S. 27–53.
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Paus-Haase, Ingrid/Schorb, Bernd (Hrsg.) (2000). Qualitative Kinder- und Jugend-Medienforschung. Theorie und Methoden: ein Arbeitsbuch. München: kopaed.
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Sander, Uwe/von Gross, Friedericke/Hugger, Kai-Uwe (Hrsg.) (2008). Handbuch Medienpädagogik. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
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Stückrath, Fritz/Schottmayer, Georg (1967). Fernsehen und Grossstadtjugend. Braunschweig: Westermann.
Süss, Daniel/Lamper, Claudia/Wijnen, Christine W. (2010). Medienpädagogik. Ein Studienbuch zur Einführung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Tulodziecki, Gerhard (2011). Zur Entstehung und Ent¬wicklung zentraler Begriffe bei der pädagogischen Aus¬einandersetzung mit Medien. Moser, Heinz/Grell, Petra/ Niesyto, Horst (Hrsg.), Medienbildung und Medienkompetenz. Beiträge zu Schlüsselbegriffen der Medienpäda¬gogik. München: kopaed, S. 11–40.
Beitrag aus Heft »2016/02: 60 Jahre merz – 60 Jahre Medienpädagogik«
Autor: Hans-Dieter Kübler
Beitrag als PDF - Hans-Dieter Kübler: Domestizierung 2.0 oder: Beziehungskiste Medien
Hans-Dieter Kübler: Domestizierung 2.0 oder: Beziehungskiste Medien
Massenkommunikation, so lehrte man einst, ist prinzipiell durch die Einseitigkeit des Informationsflusses von der Kommunikatorin bzw. vom Kommunikator zum Rezipierenden gekennzeichnet. Sicher gab es einige wenige, meist technisch verstandene Rückkoppelungen wie Leserbriefe oder Telefonanrufe. Mit SMS, Mail und vor allem durch die sozialen Netzwerke haben sich die Verhältnisse jedoch (fast) grundlegend geändert; soviel Austausch, Interaktivität, Einflussnahme zwischen Medienund Publikum gab es noch nie, mindestens nicht so permanent, vielfältig und effektiv. Repräsentative Daten und solide Interpretationen liegen dafür kaum vor; aber Indizien finden sich genug: Schon von der Lokalpresse wird erwartet, dass jedes kleinste Ereignis vor Ort und meist auch die eigene Teilnahme gebührend berichtet werden, sonst hagelt es Proteste über Ignoranz. Leserbriefe sollen unbedingt ganz abgedruckt werden, und für alle Fragen erwartet man fundierte Auskünfte. Verwunderlich ist dieser direkte Umgang gewiss nicht: Denn alle Medien fordern unentwegt in allen digitalen Kanälen zu Anregungen, Beteiligungen sowie Reaktionen auf und biedern sich als ,ihre‘ unentbehrliche Familien- und Gruppenmitglieder an. Kaum eine Meldung bleibt heute ohne Kommentar. Faktische Fehler und Ungenauigkeiten werden umgehend angekreidet, Sendungen bereits in Echtzeit kritisiert, Protagonistinnen und Protagonisten verhöhnt oder hochgelobt, manche Talkshows holen sich das Echo explizit in die Sendung.
Shitstorms brechen nicht nur über Prominente oder bloßgestellte Mauerblümchen rücksichtslos herein, sondern auch Redaktionen bekommen prompt ihr Publikumsfett ab, wenn sie politisch nicht gefallen. Wieviel Aufwand sie inzwischen in diese weit reichende ‚Beziehungsarbeit‘ stecken, wie sie womöglich unter der Resonanzlast – zumal bei abgespecktem Personal – stöhnen, ist kaum eruiert. Denn die Beziehungen reichen oftmals noch tiefer: Kürzlich wurde beim erstmaligen (!) Lesertreffen von Der Spiegel in Hamburg etwa die Chefredaktion von Bekenntnissen nicht nur Älterer überrascht, wie wichtig selbst der (einst) unnahbare Spiegel als lebenslanger persönlicher Kompass sei, wie genau seine Fehltritte beäugt werden und wie vertraut man mit einzelnen Autorinnen und Autoren sei. Diese sozioemotionalen Phänomene sind nicht einmal genügend benannt. Wenn der inzwischen eingedeutschte Begriff der domestication nicht schon für die anhaltende Verhäuslichung der neuen Medien sachlich schief reserviert wäre, könnte er als Domestizierung in der ursprünglich doppelten Semantik gelten: nämlich als ständig sich intensivierende Einvernahme bzw. Familiarisierung der etablierten Medien durch das Publikum bis hin zu persönlichen Ansprüchen Einzelner, aber zugleich als fortschreitende Zähmung und Kontrolle ihrer Macherinnen und Macher bis hin zu massiven Interventionen. Luhmann hat noch die Massenmedien als funktionale Selbstbeobachtung der Gesellschaft zweiter Ordnung charakterisiert. Mit den sozialen Netzwerken verbreitet sich eine unaufhörliche, prompte Beobachtung dritter Ordnung der Medien selbst durch eine ständig aufmerksame, auch mosernde und oft empörte Zivilgesellschaft.
- Hans-Dieter Kübler: Digitale Gesellschaft – klammheimlich verabschiedet
Hans-Dieter Kübler: Digitale Gesellschaft – klammheimlich verabschiedet
Hat es jemand bemerkt zwischen Euro-Krise, Energiewende, Syrien-Krieg, US-Haushaltsdefizit, Homo-Ehe und Schavans Plagiats-Debakel? Wohl kaum. Am 28. Januar 2013 hat der Deutsche Bundestag offiziell, aber kaum vernehmbar die „digitale Gesellschaft“ verabschiedet. Nein, nicht die wohl noch kommende reale, sondern die parlamentarische Reflexion von 34 Mitgliedern seit Mai 2010 darüber. Und fast schon erwartungsgemäß – wie schon bei den Enquete-Kommissionen davor (zur „Informationsgesellschaft“ (1998) und zur „Globalisierung“ (2002)) – kommt politisch wohl nichts heraus. Doch „erfolgreich“, so der Vorsitzende Axel E. Fischer (CDU/CSU), war die Arbeit allemal: Viele hochkarätigen Experten wurden gehört, unzählige Gutachten, umfassende „Zwischenberichte“ und gut gemeinte Empfehlungen geschrieben, endlose Sitzungen abgehalten und langwierige Diskussionen geführt: Auf „insgesamt 2.000 Seiten“, so Fischer stolz, ist ein „umfassendes Bild der digitalen Gesellschaft“, ihrer „Potenziale, Problemfelder und Lösungsansätze“ notiert, sogar „regelrechte Nachschlagewerke für einzelne Themen“ sind entstanden, bilanziert das Gremiumsmitglied, Prof. Christof Weinhardt von der Universität Karlsruhe. Mithin: Willkommen in der alten, analogen Welt, die Archive werden traditionsgemäß für Nachkommende und neugierige Forscher auf Papier speichern, was Anfang des 21. Jahrhunderts zu „Internet und digitale(r) Gesellschaft“ höchstoffiziell gedacht, erörtert und projektiert wurde. Mehr nicht.Denn politisch tat und tut sich (fast) nichts; Regierungsfraktionen und Opposition konnten sich nicht einigen, Tagespolitik und Wahltaktik obsiegen wieder einmal. Immerhin, weitere Diäten und Ausgaben sind gesichert: Denn einhellig gefordert werden ein ständiger Ausschuss zu digitalen Themen und sogar ein Staatsminister im Bundeskanzleramt. Die können dann all die strittigen Fragen weiter traktieren – währenddessen die mächtigen IT-Konzerne wie Microsoft, Google, Amazon, Facebook längst Fakten schaffen und ihre digitale Gesellschaft nach ihren Interessen und Geschäftsmodellen formen: „Informationskapitalismus“ nennt man diese Politstrategien inzwischen sinnig, und selbst der FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher verdammt sie als recht verwerfliches Ego-Spiel.
In Berlin stritt man sich hingegen höchst konventionell über ein kontroverses Verbraucherbild, also darüber, wie mündig diese Spezies vom und im Netz sei und ob es Schutz vom Gesetzgeber brauche. Oder über das Unterbinden von Massenabmahnungen, an denen sich findige Anwaltskanzleien bereichern. Oder über den Dauer-Casus ‚öffentlich-rechtlicher Rundfunk‘, den private Medienunternehmen und natürlich ihre parlamentarische Lobby endlich stutzen wollen: „Vollversorger“ oder „Qualitätsversorger“ – heißt die neue (Schein-)Alternative, die je nach Belieben und Interessen ausgelegt werden kann. Über alles andere und ungleich Relevantere wie Netzneutralität, Urheberrecht, Datenschutz, Green-IT, E-Government und Online-Bürgerbeteiligung lassen die Schlussberichte entweder nur Unverbindliches oder Dissonantes verlauten.Immerhin will man mehr Geld für die „Digitalisierung des kulturellen Erbes“ locker machen. Dazu zählen dann wohl auch die 2.000 Seiten dieser Enquete, womit sich der Kreis schließt. Und als wohl wichtigstes Resultat verkündet das Mitglied Manuel Höferlin (FDP), „viele [hätten nun] erkannt, dass Netzpolitik nicht nur ein Orchideenthema ist“. Na, wenn das kein (später) Lernerfolg ist, den sich die Volksvertreter wieder einmal teuer und ausgiebig abgerungen haben. Aber jeder einschlägige VHS-Kurs wäre billiger und mindestens so ertragreich gewesen.
- Hans-Dieter Kübler: Medienwandel und Medienpädagogik
Hans-Dieter Kübler: Medienwandel und Medienpädagogik
An Exempeln wie MySpace werden die raschen Veränderungsprozesse von Social Media beschrieben. Weiter wird beispielhaft an medienanalytischen Begriffen wie Konvergenz, Mediatisierung, Digitalisierung, Domestizierung aufgezeigt, dass kaum ein Definitionsversuch das halten kann, was er vorgibt. Dies vor dem Hintergrund, dass kommende mediale Trends wohl immer erst in der Retrospektive analysierbar werden. Abschließend wird die Medienpädagogik in den Blick genommen und auf deren Verbesserungswürdigkeit, besonders im digitalen Kontext, hingewiesen.Dr. Hans-Dieter Kübler ist Professor für an der Hochschule für angewandte Wissenschaften in Hamburg.
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Beitrag aus Heft »2012/05: Medienkonjunkturen - Medienzukunft«
Autor: Hans-Dieter Kübler
Beitrag als PDF - Dagmar Hoffmann und Hans-Dieter Kübler: Editorial
Dagmar Hoffmann und Hans-Dieter Kübler: Editorial
„Mehr als die Vergangenheit interessiert mich die Zukunft, denn in ihr gedenke ich zu leben.“ (Albert Einstein) Wissenschaften setzen sich seit jeher mit vielfältigen Fragen zur Zukunft auseinander. Es geht dabei in der Regel um die Chancen und Risiken der Entwicklung des menschlichen Daseins, des sozialen Miteinanders, also der Gesellschaft, sowie um den Erhalt der Umwelt, des Planeten und vieles mehr. Sich Gedanken und Vorstellungen über zukünftige Gegenwarten zu machen, ist eigentlich selbstverständlich. Bisweilen scheint es auch schwierig zu sein, aber es ist nicht unmöglich, denn die Bilder, die wir von der Zukunft haben, knüpfen grundsätzlich an vielfältig vorhandene Konstruktionen sowie Ängste, Sehnsüchte und Wünsche der Gegenwart an. Es ist die Sorge um uns selbst und die Verantwortung für nachfolgende Generationen, die uns veranlasst, über Zukunft zu sinnieren. Allerdings lässt sich die Zukunft schwer vorhersagen, aber es lohnt, über die mögliche zukünftige Gegenwart und damit auch über Alternativen des Möglichen zu reflektieren.Seit geraumer Zeit sind insbesondere Medien-und Sozialwissenschaftlerinnen und –wissenschaftler (auf-)gefordert, sich verstärkt mit der Zukunft der Kommunikation auseinanderzusetzen, da die Präsenz und der Gebrauch neuer Medientechnologien zunehmend die Alltagskommunikation bestimmen und verändern.
Neue Technologien und Anwendungen generieren neue Informations- und Wissensmanagementsysteme die zeitökonomischer und zielgruppenspezifisch sein sollen, es aber de facto nicht immer sind. Die Fähigkeit, angemessen und zeitgemäß zu kommunizieren sowie letztlich Kommunikation effektiv und nutzenorientiert zu gestalten, wird zu einer Schlüsselqualifikation im sogenannten digitalen Zeitalter. Es scheint, als wären Medien- und Kommunikationssysteme einem grundlegenden Wandel ausgesetzt, dessen Folgen im Moment nur schwer abschätzbar sind. Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht wieder eine neue Anwendung im Netz ‚gehypt‘ wird, die einem Unterhaltung, Lebenserleichterungen oder neue, vielversprechende Möglichkeiten der Selbstinszenierung verspricht. Gleichwohl setzen sich die wenigsten Anwendungen durch und finden eine massenhafte Verwendung. Im Grunde rekurrieren die meisten Erfindungen auf den üblichen psycho-sozialen Bedürfnissen und verweisen zumeist auf altbekannte Mediensysteme. Viele Anwendungen sind nur temporär populär.Allgemein lässt sich beobachten, dass das Entwicklungs- und Diffusionstempo jeweils neuer Medientechnologien rasant ist und immer schneller wird.
Dabei multiplizieren und erweitern sich die vorhandenen Medienkonfigurationen einerseits und konvergieren bestehende Mediensysteme andererseits. Allerdings lassen sich diese Entwicklungen aus verschiedenen Perspektiven bewerten: als Innovationen oder auch nur als Diversifikationen des schon längst Vorhandenen, je nachdem, welchen Fokus man wählt. In der öffentlichen Wahrnehmung jagt ein Medienhype den nächsten, und es scheint, dass medienpädagogische Theorien und Forschung diesen immer kürzeren Medienkonjunkturen weitgehend abhängig hinterherhecheln. Festzustellen ist, dass es an zeit- und kulturunabhängigen Theorien (was vermutlich auch unmöglich ist) und an dynamischen, präventiv angelegten Medienkompetenzmodellen (was legitim, aber dennoch für die Praxis bedauerlich ist) fehlt. Ferner bleibt meist weitgehend unklar bzw. uneinheitlich, mit welchen Kriterien, Instrumenten und Methoden jene Entwicklungen oder gar der Fortschritt der Medien gemessen und erst recht bewertet werden kann. Vielfach gewinnt man den Eindruck, je grandioser, abstrakter und damit unverständlicher die gemeinhin monokausal angelegte ‚Theorie‘ ausfällt, umso attraktiver und willkommener ist sie in der besorgten Öffentlichkeit, wohingegen sich wissenschaftliche Konzepte kaum mehr auf solche high levels wagen. Entsprechend werden zahlreiche Trends extrapoliert, die die Zukunft der Medien und damit die öffentliche wie private Kommunikation bestimmen (sollen). Sicherlich werden sich – wie schon in der Vergangenheit – Kommunikationsbeziehungen weiter verändern, aber womöglich auch so, dass sich neben generellen Standardisierungen vielfältige Spezialisierungen und Partikularsierungen herausbilden.
Wenn professionelle, vor allem kommerzielle Mediensysteme immer komplexer, ‚globaler‘ und mächtiger werden, dürften zugleich auf der Gegenseite viele kleine, amateurhafte, spontane, kollaborative Kommunikationsformen sprießen, die Entwicklungen werden also ebenso heterogener als auch homogener.Die vorliegende merz-Ausgabe kann nicht zu allen, zumindest aber zu einigen zentralen Aspekten des Diskurses über die Zukunft der Medien und damit die Zukunft der Kommunikation Orientierungen, Klärungen und zum Teil aber auch nur Fragestellungen präsentieren, die sich daraus für die medienpädagogische Forschung und Praxis ergeben. So nimmt zunächst der Soziologie Michael Jäckel eine Rückschau auf vorhergesagte Medientrends vor und setzt sie in Beziehung zu gegenwärtigen Entwicklungen. Zudem zeigt er auf, wie derzeit medienöffentlich und wissenschaftlich die Zukunft der Mediennutzung diskutiert und vor allem problematisiert wird. Er erklärt, inwieweit sich Medienangebote in räumlicher und zeitlicher, in sachlicher bzw. inhaltlicher sowie sozialer und funktionaler Hinsicht erweitern und verändern (werden). Menschen moderner hochtechnisierter Gesellschaften sind heute mehr denn je gefordert, sich mit den vielfältigen Funktionen und dem Nutzen von Medien auseinanderzusetzen. Nach wie vor haben Medien die Aufgabe, Orientierung in einer immer komplexer werdenden Welt zu vermitteln sowie Partizipation und Mitgestaltung an gesellschaftlichen Entwicklungen zu ermöglichen.
Auch Hans-Dieter Kübler setzt sich in seinem Beitrag mit dem tiefgreifenden und tendenziell universell sich vollziehenden Wandel der Medien und den Konsequenzen für gesellschaftliche Verhältnisse auseinander. Ein besonderes Anliegen ist es ihm zu verdeutlichen, welche Dilemmata sich aus den rasanten Veränderungsprozessen für medienpädagogisches Handeln ergeben. Er hebt bekannte und altbewährte Paradigmen zum Erwerb von Medienkompetenz und zur Medienbildung auf den Prüfstand und arbeitet heraus, inwieweit diese Modelle in Teilen überholt sind, modifiziert und erweitert werden müssten, um den Anforderungen der komplexen Mediengesellschaft gerecht werden zu können. Gleichwohl verzichtet der Autor darauf, eigene („kurzatmige“) Rezepte zu liefern, die hier aussichtsreich Abhilfe schaffen könnten. Demgegenüber betont Manuela Pietraß im Anschluss, dass traditionelle Modelle der Medienkompetenz für neue Phänomene, das heißt, für eine intendierte, verantwortungsbewusste und kritische Mediennutzung und Medienaneignung durchaus nutzbar gemacht werden könnten. Dabei scheint es hier besonders bedeutsam zu sein, Medien vorrangig als Instrumente für Kommunikation zu verstehen und Medienkompetenz als eine Ausdifferenzierung kommunikativer Kompetenz. Unerlässlich sei der Bedarf, so die Autorin, einerseits die Operationalisierung von Medienkompetenz an aktuelle technische Gegebenheiten anzupassen und andererseits deutlich zu machen, dass die Medienpädagogik mit dem Begriff der Medienkompetenz eine einheitsstiftende Deutungskraft in der Vielheit der Medienkonjunkturen bieten kann.
Im Beitrag von Manuela Pietraß wird der Begriff der digital literacy aufgegriffen und werden die Basiskompetenzen zur Kommunikation mit den digitalen Medien erörtert, wie sie für die Gegenwart unabdingbar zu sein scheinen. Im letzten Schwerpunktbeitrag des Kommunikationswissenschaftlers Jeffrey Wimmer geht es um die neuen Publikumsansprüche, die im Zuge der digitalen Bedingungen der Medienkonvergenz und der Ausweitung der individuellen Medienrepertoires neue Formen der Teilhabe an Öffentlichkeit induzieren. Der Autor hat sich zum Ziel gesetzt, das Ausmaß medialer Partizipation im Kontext der Diagnose der zunehmenden Verbreitung neuer Medien im Alltag zu analysieren und sieht Partizipation in einem engen Bezug zum umfassenden Wandel von Kommunikations- und Medienkulturen. Er erörtert zunächst den demokratierelevanten Zusammenhang von Öffentlichkeit, Medien und Partizipation und erklärt, inwieweit sich dieses Konglomerat derzeit neu konstituiert und zueinander verhält. Dann geht er auf konkrete Formen mediatisierter Teilhabe an Öffentlichkeit ein und nimmt einige Implikationen für Medienpolitik und Medienpädagogik vor. Zusammenfassend konstatiert er, dass sich durch die Digitalisierung und Mediatisierung von Partizipation auch der Wert und das Verständnis politischer Partizipation ändern und die Potenziale für einen emanzipatorischen Gebrauch insbesondere von jungen Menschen auch genutzt werden.Allen Beiträgen gemein ist, dass ihre Gegenwartsdiagnosen Aussagen über die Zukunft der Medien und zu erwartenden Medienkonjunkturen erlauben, wobei sie kaum Destablisierungs- oder Desorganisationsprozesse wohl aber Modifikationen traditioneller Sozialgefüge prognostizieren.
Deutlich wird auch, dass die medienpädagogische Praxis sich nur bedingt an etablierten Medienkompetenzmodellen orientieren kann, sondern die Akteurinnen und Akteure in der Praxis und aus der Wissenschaft deren Weiterentwicklung vorantreiben sollten, sodass diese für die gegenwärtigen und zukünftigen Herausforderungen einer immer komplexer werdenden Mediengesellschaft besser genutzt werden können. Auch wenn viele Dynamiken der Kommunikation nicht vorhersehbar sind und einfach geschehen, gilt es weiterhin und auch verstärkt in vielen Bereichen medienpädagogische Begleitung und Unterstützung anzubieten, sodass digitale Klüfte minimiert und allen Menschen sowohl gesellschaftliche als auch kulturelle Teilhabe ermöglicht werden können.
Beitrag aus Heft »2012/05: Medienkonjunkturen - Medienzukunft«
Autor: Dagmar Hoffmann
Beitrag als PDF - Hans-Dieter Kübler: Digitale Bildung auf dem Prüfstand
Hans-Dieter Kübler: Digitale Bildung auf dem Prüfstand
McElvany, Nele/Schwabe/Bos, Wilfried/Holtappels, Heinz Günter (Hrsg.) (2018). Digitalisierung in der schulischen Bildung. Chancen und Herausforderungen. Münster und New York: Waxmann.
Schlagwort, ja zur Leerformel geworden, die fast in keiner öffentlichen Rede zur Zukunftsfähigkeit des Landes fehlen darf. Doch was sie theoretisch wie praktisch meint, wozu sie führen soll und – noch wichtiger – wie sie zu erreichen ist, das ist noch weitgehend disparat bis nebulös. Zahlreiche Positionspapiere und Ankündigungen einerseits und die Erklärung der Kultusministerkonferenz (KMK) zur „Bildung in der digitalen Welt“ von 2016 andererseits haben zu keinen echten Fortschritten geführt. Begriffliche Klärungen, wissenschaftliche Fundierung, empirische Grundierung sowie praktische Erfahrungen aus den Arbeitsfeldern wollte deshalb der 2. Bildungsdialog des Dortmunder Instituts für Schulentwicklungsforschung 2017 beisteuern, dessen Beiträge in diesem schmalen Sammelband publiziert werden. Nach einem grundlegenden, instruktiven Überblick der Schulpädagogin Birgit Eickelmann, der zum einen auf der Grundlage der ICILS-Studie (International Computer und Information Literacy Study) von 2013 (!) den bescheidenen Stand und die Defizite der bundesdeutschen Entwicklung im internationalen Vergleich widergibt, zum anderen die vier von der KMK postulierten prinzipiellen Zielsetzungen und Anforderungen der Digitalisierung in der schulischen Bildung abhandelt, folgen fünf kürzere Beiträge zu „Chancen, Voraussetzungen und Risiken der Digitalisierung“ sowie drei weitere zu „Perspektiven […] aus Sicht der Bildungsforschung und -praxis“.
Zur Lernwirksamkeit digitaler Medien liegen besonders im angloamerikanischen Raum zahlreiche Studien vor, in Deutschland dagegen nur einige wenige. Mittels verfügbarer Meta-Analysen findet die Berliner Lernforscherin Heike Schaumburg heraus, dass die Lernwirksamkeit eher positiv, aber sehr gering ausfällt. Über diese vor allem technikzentrierte Perspektive hinaus lässt sich erkennen, dass schüler-, problemorientierte, offene – mithin „konstruktivistische“ – Unterrichtsformen ungleich bessere und vielfältigere Ergebnisse erzielen als traditionelle lehrerzentrierte. Kompetente Lehrkräfte werden aber dadurch nicht überflüssig; im Gegenteil: sie müssen noch besser qualifiziert sein und schülerorientiert handeln. Diese differenzierten Erkenntnisse bestätigt exemplarisch der Praxisbericht über das Projekt eXplorarium des Berliner Trägervereins Life e. V., das an einem Gymnasium in Berlin-Neukölln mit vielen Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund durchgeführt wurde. Selbständiges Lernen und Medienkompetenz waren die zentralen Zielsetzungen in unterschiedlichen Fächern; gerade die Lernplattform Moodle erweist sich als geeignet, um unterschiedliche digitale Formate einzubinden und selbstständiges Lernen zu befördern, sofern Lehrkräfte sie zu formatieren und aktiv zu gestalten wissen. Technische und organisatorische Bedingungen, Einstellungen und Kompetenzen der Lehrkräfte können als Voraussetzungen, aber auch als Qualitätsmaßstäbe für den Einsatz digitaler Medien gelten. In der dreijährigen Studie Schule digital – der Länderindikator am Dortmunder Institut (2015 bis 2017) sind bundesweit Lehrkräfte dazu befragt worden. Sie zeigten sich großenteils – erstaunlicherweise – mit der IT-Ausstattung ihrer Schulen und dem Support zufrieden. Im Vergleich zu früheren Befragungen betonten sie stärker die positiven Potenziale des digitalen Lernens, wobei viele ihre eigenen medienpädagogischen Kompeten
zen und die Wahrnehmung von Fortbildungsangeboten als noch entwicklungsbedürftig einschätzten, um einen schüler- und fachgerechten, digitalen Unterricht zu bewerkstelligen.
Mit den „Schattenseiten“ der Internetnutzung beschäftigen sich die beiden Artikel zu „Cyberbullying“, deutsch auch: Cybermobbing, und zu „Internetsucht“. Beide zählen eher zum Erziehungsauftrag von Schulen, weniger zur Fachdidaktik. Entsprechend gering oder zögerlich ist die Wahrnehmung fachdidaktischer Problemstellungen, obwohl die schädlichen Folgen nicht ohne Einfluss auf den Erfolg und das Verhalten der Lernenden in der Schule sind. Die beiden Beiträge liefern deshalb auch viele Ratschläge für die Prävention, aber auch für die Bekämpfung dieser dissozialen und subjektbedrohenden Aspekte – freilich ohne empirische Belege über ihre Effektivität.
Im Abschnitt II werden Perspektiven für Bildungsforschung und -praxis thematisiert. Zunächst rekapituliert die geschäftsführende Direktorin des Instituts für Schulentwicklungsforschung und Herausgeberin Prämissen und Desiderate der Bildungsforschung für das digitale Lernen in der Schule. Entgegen eilfertiger Postulate zeigt sie auf, dass eine Fülle von Fragen und didaktischen Aufgaben wissenschaftlich noch nicht einmal angegangen sind und dass ihre Erforschung in jedem Fall nicht leichter ausfällt als früher; eher komplexer und grundsätzlicher müsse sie werden, so dass nur interdisziplinäre und multimethodische Ansätze angemessen sind. Auch der bereits zum dritten Mal eingesetzte Monitor Digitale Bildung der Bertelsmann-Stiftung, der im nächsten Beitrag vorgestellt wird, verlangt, dass traditionelle didaktische Ansätze nicht lediglich digitalisiert werden, sondern auch als Auftrag für neue, umfassende Veränderungsoptionen verstanden werden müssen. Wie diese aussehen sollen, bleibt allerdings vage oder wieder einmal eher technikorientiert. Schließlich wird am Beispiel des Franz-Stock-Gymnasium in Arnsberg über die bereits seit fünf Jahren betriebene Schulentwicklung berichtet. Die tiefgreifende Umstrukturierung von Unterrichtsprozessen kann nur gelingen, wenn alle Beteiligten daran mitgestalten und sich damit identifizieren können. Dies gelinge nur mit ständiger „systematischer Kommunikation“, so das Fazit.
Wieder einmal erweist sich in der Bildungsforschung, Didaktikkonzeption und im konkreten Unterrichten und Lernen, sei es weiterhin analog oder digital, dass es mit schnellen Lösungen und wohlfeilen Rezepten nicht getan ist, sondern sorgfältiger und gründlicher Planung und Evaluation bedarf, und zwar anhaltend und systemimmanent. Mit digitalem Lernen werden Schule und Unterricht gewiss nicht einfacher; dafür haben Medien noch nie getaugt. Wer sie als essenzieller, unentbehrlicher Bestandteil und Motor künftigen Lernens haben will, und das müssen sie infolge der allseitigen Digitalisierung in Beruf und Alltag sein, wird sich dieser Problematik und dieses Anspruchs stellen müssen. Die nächste ICILS-Studie für 2018 wurde von Birgit Eckelmann schon angekündigt. Und ihr werden noch viele andere folgen.
Dr. Hans-Dieter Kübler war Professor für Medien-, Kultur- und Sozialwissenschaften an der Hochschule für angewandte Wissenschaften Hamburg und Privatdozent an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Von 2004 bis 2014 war er als Gutachter und im Beirat von merz | medien + erziehung tätig.
- Hans-Dieter Kübler: Die Medien der ganz Kleinen
Hans-Dieter Kübler: Die Medien der ganz Kleinen
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Beitrag aus Heft »2010/06: Mediengebrauch von Kindern im Alter von 0 bis 6 Jahren«
Autor: Hans-Dieter Kübler
Beitrag als PDF - Hans-Dieter Kübler: Editorial
Hans-Dieter Kübler: Editorial
Datenschutz – ein Menschenrecht?
Als im Dezember 1983 das Bundesverfassungsgericht nach mehr als 1.600 Beschwerden gegen die 1978 durchgeführte Volkszählung sein Grundsatzurteil fällte und darin als neues Grundrecht die informationelle Selbstbestimmung begründete, wurde diese Entscheidung als Erweiterung, mindestens als moderne Anpassung der unverletzlichen, vom Staat prinzipiell zu schützenden Menschenrechte gefeiert. Die Karlsruher Richter bezogen sich bei ihrem Urteil auf Art. 1 (1) (Menschenwürde) und Art. 2 (1) GG (allgemeine Handlungsfreiheit) und schufen so ein neues Persönlichkeitsrecht, zu dem neben dem Recht am eigenen Bild, dem Schutz der Privat- und Intimsphäre auch die informationelle Selbstbestimmung zählt. Und – aus heutiger Sicht recht vollmundig – begründeten sie: „Mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung wäre eine Gesellschaftsordnung und eine diese ermöglichende Rechtsordnung nicht vereinbar, in der Bürger nicht mehr wissen können, wer was wann und bei welcher Gelegenheit über sie weiß“ – eine Maxime, die man bis heute gründlich genug bedenken muss.
Übrigens: Eine förmliche Einfügung eines Datenschutz-Grundrechtes in den Grundrechte-Katalog fand seither unter den jeweils politisch Handelnden keine Mehrheit. Vielmehr wurden in allen Ländern und im Bund Datenschutzgesetze erlassen und Datenschutzbeauftragte eingesetzt, deren jährliche – meist öffentlich unbeachtete – Berichte gemeinhin besorgte Auskunft über den tatsächlichen Stand des Datenschutzes hierzulande geben und jener Maxime des Bundesverfassungsgerichts häufig hohnsprechen. Die Widersacherinnen und Widersacher und diejenigen, die Beschwerde gegen die Volkszählung führten, die der damalige Innenminister Zimmermann sogleich als Verfassungsfeindinnen und Verfassungsfeinde diffamierte, argumentierten mehrheitlich noch eher mit inzwischen fast naiven Kategorien des Orwell‘schen Überwachungsstaates, stellten die staatlich beauftragten Fragestellerinnen und Fragesteller mit ihren umständlichen Fragebögen unter Generalverdacht und plädierten dafür, sie nicht ins Haus zu lassen oder allenfalls nur die amtlich schon bekannten Daten zu bestätigen. Die ‚normale’ Bürgerin und der ‚normale’ Bürger mussten hingegen – trotz des erheblichen, seither nicht mehr vergleichbar lauten Protestes, auch von Informatikern – erst allmählich lernen, dass es „personenbezogene“ Daten gibt, die sie erfassen, kenntlich machen und die deshalb geschützt werden müssen. Die häufige Reaktion damals lautete noch, man habe doch nichts verbergen, oder man gebe nichts preis, was der Staat und die Ämter nicht ohnehin schon wüssten.
Staatliche und private Datensammelwut
Aus heutiger Sicht muten diese Auseinandersetzungen recht rührend an – trotz oder gerade wegen der vielen öffentlichen Bekundungen darüber, wie umfassend und gründlich der Datenschutz hier gewahrt wird, wie sie etwa anlässlich des 25-jährigen Bestehens verlautbart wurden. Denn seiner verfassungsrechtlichen Aufgabe des umfassenden und wirksamen Datenschutzes ist der Staat seither kaum nachgekommen, ganz zu schweigen von einem offensiven Einstehen für die politische Ausgestaltung der informationellen Selbstbestimmung. Diese Kritik äußern Expertinnen und Experten des Daten- und Verbraucherschutzes trotz einiger Verbesserungen erneut anlässlich des am 1. September 2009 in Kraft tretenden neuen Datenschutzgesetzes. Allenfalls wirken die bestellten Datenschützerinnen und Datenschützer in diese Richtung; sie sind aber weitgehend machtlos angesichts eines unwillentlichen Gesetzgebers und einer oft bedenkenlos agierenden Bürokratie, und meist bleiben ihnen nur wirkungslose öffentliche Appelle. Vollends nach 09/11 und der seither grassierenden Terrorismusphobie hat sich der Staat mit dem Anspruch der Gewaltprävention vom Schützer zum Täter gewandelt und weitet unter dem vom Bundesverfassungsgericht zugestandenen Kriterium des Allgemeininteresses Einschränkungen oder (auch heimliche) Unterhöhlungen des Datenschutzes konsequent aus: Wer weiß heute denn noch wirklich, wer, was, wo, über wen sammelt. Die juristisch subtile Unterscheidung zwischen personalisierbaren und anonymisierten Daten, die man getroffen hat, um die Persönlichkeit zu schützen und zugleich der Statistik und formellen Datenerfassung freien Lauf zu lassen, hat die moderne Computertechnologie weitgehend unterlaufen: Mit der automatischen Rekonstruktion und Registrierung von Datenströmen lässt sich zwar noch nicht das einzelne Individuum eindeutig identifizieren, aber Typologien und Profile erstellen, die sehr präzise Populationen umkreisen und für die jeweiligen Zwecke oft sogar aussagekräftiger sind. Banken deklassieren so ganze Viertel, deren Bewohnerinnen und Bewohner keine Kredite bekommen oder für die sie zumindest teurer bezahlen müssen. Datenspuren werden mit jedem Griff an Tastatur und Maus angelegt, rasant und perfekt kombiniert, letztlich niemals gelöscht und inzwischen vielfach vermarktet. Mit Musterkennungen und visuellen Registriermethoden via Videokameras werden diesen Daten mittlerweile mehr und mehr Gesichter, Fingerabdrücke und andere optische Kennzeichen verliehen, die sich umstandslos mit den formellen Daten verknüpfen lassen und dann letztlich jeden und jede identifizieren. Diese neuen Phänomene sind rechtlich noch kaum erfasst, und ob sie es jemals zureichend werden, daran lässt sich angesichts der laufenden Gesetzgebung zweifeln. Auf Kredit-, Rabatt-, Kunden-, Mitglieds- und Gesundheitskarten werden längst persönliche ‚Datenbanken’ angelegt, die mit jeder Berührung einer Schnittstelle ausgelesen und weiterverbreitet werden können, ohne dass die Besitzerin oder der Besitzer dies möchte oder gar merkt. Vielen sind diese Entwicklungen inzwischen zwar vage bewusst, aber dagegen tun können sie wenig, selbst wenn die einschlägigen Gesetze Einsprüche und Widerstandsoptionen eröffnen. Womöglich rührt daher die häufig bekundete Hilflosigkeit der meisten, aber auch die Sorglosigkeit vieler, nicht nur Jugendlicher darüber, dass sie ihre Daten nicht nur heimlich entfleuchen lassen wollen, sondern absichtlich selbst auf Plattformen und bei Social Communitys einstellen – nach dem Motto: Wenn es schon überall und fortwährend passiert, dann will ich es zumindest auch mal selbst tun. Die vielen, nur zufällig aufgedeckten Skandale in Unternehmen, öffentlichen Räumen und staatsnahen Organisationen, die womöglich nur die Spitze des Datendeals und -missbrauches markieren, belegen erschütternd, dass es dagegen keinen wirksamen rechtlichen und politischen Schutz mehr gibt. Allein zivilgesellschaftliches Bewusstsein und öffentliche Wachsamkeit bis hin zum kollektiven Ungehorsam können langfristig noch etwas bewirken. Auch wenn es schmerzt und betrübt: Nur die Einzelnen können sich dafür sensibilisieren, wappnen und etwas dagegen tun. Mit dieser Erkenntnis ist Pädagogik gefragt und Medienpädagogik muss sich auf dieses sicherlich schwierige, weil rechtlich komplizierte und politisch verminte Territorium wagen. Die folgenden Beiträge geben dazu vielfältige, auch inhaltlich und argumentativ unterschiedliche Orientierungen.
Zu den Beiträgen
Grundlegend führt Friedrich Krotz in die komplexe Thematik ein: Zum einen zeigt er in einer kompakten Skizze auf, wie sich Öffentlichkeit und Privatheit im Laufe der jüngeren Geschichte verändern, diffus aufeinander beziehen und auch überlappen. Dabei ist ihm wichtig, gesellschaftliche Bedingungsgefüge herauszuarbeiten und nicht einer simplen Verursachung durch technologische Zwänge das Wort zu reden. Zum anderen stellt er energisch in Frage, ob Jugendliche allein für ihren vorgeblich sorglosen Umgang mit ihren Daten verantwortlich gemacht werden sollen und warum der Staat seine Schutzfunktion nicht mehr genügend wahrnimmt. Seine Hoffnung, mit Kreativität und Solidarität dieser fatalen Entwicklung zu begegnen, werden viele teilen, auch wenn sie nicht sehr zuversichtlich klingt. Aus rechtlicher Sicht erläutert Marc Liesching als einschlägig spezialisierter Rechtsanwalt die rechtlichen Regelungen des Datenschutzes, insbesondere bezogen auf Online-Communitys; er expliziert die relevanten Begriffe und Sachverhalte, weist aber auch auf Grauzonen und Schwachstellen hin. So erkennt er etwa den allgemeinen Grundsatz der Datenvermeidung und -sparsamkeit, dem amtliche Stellen verpf lichtet sind, als„stumpfes Schwert“. Damit zeugt er von einem juristischen Problembewusstsein, das man auch gesetzgeberischen Kreisen wünscht.
Wie Jugendliche selbst das Spannungsfeld zwischen Privatheit und Öffentlichkeit bzw. ihre Privatsphäre in Online-Communitys sehen und dabei bewährte, auch juristisch normierte Setzungen konterkarieren – das wird im einem Forschungsprojekt am JFF authentisch erkundet und im Beitrag von Niels Brüggen anschaulich dargestellt. Offensichtlich erfahren Jugendliche diese virtuellen Räume mit ihren vielfältigen Mitmach- und Darstellungsofferten, mit ihren Foren für Austausch und Freunde als jugendautonome Interaktionsoptionen, ohne dabei zu bedenken, dass ihnen die gesamte Internetwelt zuschaut und dass diese Social Communitys aus recht durchsichtigen ökonomischen Interessen bereitgestellt und auch ausgebeutet werden. Wenn Tagebücher, Poesie- und Fotoalben, Briefe, selbst Telefonate in veränderter Form ins Netz wandern, werden Jugendliche insgeheim ihrer Privatheit beraubt, die sie in diesem Alter als Entwicklungsaufgabe gerade erst erobern und gegenüber Eltern und Schule behaupten müssen. Diese (un-)heimliche Dialektik mit ihnen zu erarbeiten, nicht von oben herab zu vermitteln, bedeutet sicherlich eine überaus anspruchsvolle Aufgabe für Medienpädagogik. Von Erfahrungen der medienpraktischen Arbeit aus beleuchten Sebastian Ring und Kati Stuckmeyer abschließend das Spannungsverhältnis zwischen Partizipation und Datenschutz, in das Jugendliche beim „Mitmach-Web“ ständig hineingeraten. Vier Problemfelder identifizieren sie: Durch Speicherung und Steuerung der Daten bei Dritten geht die „Kontrollmacht“ über die eigenen Daten verloren. Ferner können sich durch diverse Zugänge verschiedene Akteure der Daten bedienen. Drittens werden durch unbedachte Aktivitäten im Netz Personen und deren Recht beschädigt. Und endlich führt die leichte Zugänglichkeit von Daten zur Verletzung von Urheberrechten mit oft erheblichen Folgen. In zwei medienpädagogischen Projekten bearbeiten sie diese Probleme mit Jugendlichen und können zeigen, dass solche Initiativen durchaus kognitive und sensibilisierende Wirkungen zeitigen. Abschließend gibt Elisabeth Jäcklein einen Überblick über Good Practice-Angebote zum Thema Datenschutz.
Beitrag aus Heft »2009/04: Informationelle Selbstbestimmung?!«
Autor: Hans-Dieter Kübler
Beitrag als PDF - Hans-Dieter Kübler: Außenorientiert, ‚mediogen’, narzisstisch – Medienkonstrukte oder neue Sozialisationstypen?
Hans-Dieter Kübler: Außenorientiert, ‚mediogen’, narzisstisch – Medienkonstrukte oder neue Sozialisationstypen?
Das Verhältnis zwischen Öffentlichkeit und Privatheit in modernen Gesellschaften scheint prekär oder gar wechselseitig porös geworden zu sein. Welche Funktionen und Bedeutungen die Medien dabei haben, wird unterschiedlich gesehen. Jugendlichen nehmen die Angebote der Medien, (öffentliche) Aufmerksamkeit zu erhalten, offensichtlich besonders gern an. Offen ist, inwiefern dies ihre Identitätsbildung beeinflusst. LiteraturBaacke, Dieter und Heitmeyer, Wilhelm (Hg.) (1985): Neue Widersprüche. Jugendliche in den achtziger Jahren. MünchenBeck, Ulrich (1986): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt/M.Böhme-Dürr, Katrin und Sudholt, Thomas (Hg.) (2001): Hundert Tage Aufmerksamkeit. Das Zusammenspiel von Medien, Menschen und Märkten bei „Big Brother“. KonstanzElias, Norbert (1979): Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogeneti-sche Untersuchungen. 2 Bde. Frankfurt/M.Ferchhoff, Wilfried und Neubauer, Georg (1997): Patchwork-Jugend: eine Einführung in postmoderne Sichtweisen. OpladenFromme, Johannes u.a. (Hg.) (1999): Selbstsozialisation, Kinderkultur und Mediennutzung. OpladenHabermas, Jürgen (1969): Strukturwandel der Öffentlichkeit. 4. Aufl. Neuwied und BerlinHorkheimer, Max und Adorno, Theodor W. (1944; 1969): Dialektik der Aufklärung. Philoso-phische Fragmente. Frankfurt/M.Hurrelmann, Klaus (2006): Einführung in die Sozialisationstheorie. 9. Aufl., Weinheim und BaselHurrelmann, Klaus; Grundmann, Matthias und Walper, Sabine (Hg.) (2008): Handbuch Sozi-alisationsforschung. 7., vollständig überarb. Aufl., Weinheim und Basel Jugendwerk der deutschen Shell (1982): Jugend ´81. Lebensentwürfe, Alltagskulturen, Zu-kunftsbilder. OpladenKrüger, Heinz-Hermann (Hg.) (1988): Handbuch der Jugendforschung. OpladenLévi-Strauss, Claude (1989): Das wilde Denken. Frankfurt/M: Mikos, Lothar u.a. (Hg.) (2000): Im Auge der Kamera. Das Fernsehereignis „Big Brother“. BerlinMühler, Kurt (2008): Sozialisation. Eine soziologische Einführung. PaderbornNegt, Oskar und Kluge Alexander (1972): Öffentlichkeit und Erfahrung. Zur Organisations-analyse von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit. Frankfurt/M.Riesman, David (1958; 1982): Die einsame Masse. Eine Untersuchung der Wandlungen des amerikanischen Charakters. Mit einer Einführung von Helmut Schelsky. Reinbek bei Ham-burgSchulze, Gerhard (1992): Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. Frank-furt/M. und New YorkSennett, Richard (1986): Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimi-tät. Frankfurt/M. Weber, Frank (Red.) (2000): Big Brother: Inszenierte Banalität zur Prime Time. MünsterWillis, Paul u.a. (1991): Jugendstile. Zur Ästhetik der gemeinsamen Kultur. Hamburg u.a.Ziehe, Thomas (1975): Pubertät und Narzissmus. Frankfurt/M.Zinnecker, Jürgen (1996): Soziologie der Kindheit oder Sozialisation des Kindes? Überlegun-gen zu einem aktuellen Paradigmenstreit. In: Honig, Michael-Sebastian; Leu, Hans-Rudolf und Nissen, Ursula (Hg.): Kinder und Kindheiten. Soziokulturelle Muster – sozialisationstheoretische Perspektiven. Weinheim und München, S. 31 – 54
Beitrag aus Heft »2009/02: Selbstentblößung und Bloßstellung in den Medien«
Autor: Hans-Dieter Kübler
Beitrag als PDF - Hans-Dieter Kübler: Die alltägliche Widerständigkeit des Abbildes
Hans-Dieter Kübler: Die alltägliche Widerständigkeit des Abbildes
„Faktizitätsmaschine“Seit die Bilder technisch reproduziert werden können, also mit dem Aufkommen, vor allem mit der raschen Verbreitung und gesellschaftlichen Diffusion der Fotografie seit Mitte des 19. Jahrhunderts, vollends seit die Bilder gegen Ende jenes Jahrhunderts dynamisiert wurden, mithin ‚das Laufen lernten’ und damit eine Produktionsindustrie und Präsentationsmaschinerie für visuelle Kultur (als Film und Kino) ohnegleichen hervorbrachten, räsonieren Kulturkritik und Medienphilosophie über die Vorstellungen und Begrifflichkeiten von Realität, zugespitzt in der überkommenen, aber bis heute prekären Dualität von Bild und Abbild. Denn seit jeher schuf Kunst das imaginierte und gestaltete Bild von Wirklichkeit, gebunden an die verfügbaren Materialien und kontextuiert von jeweils geltenden Normen und Stilen. Mit der Fotografie stand erstmals eine mechanisch-chemische Technologie zur unmittelbaren, weitgehend authentischen Abbildung vorfindlicher Realität zur Verfügung, auf die sich bereits viele Zeitgenossen kaprizierten: Als „Faktizitätsmaschine“ bezeichnete sie etwa William Fox Talbot, einer der Fotopioniere, der 1835 eine erste Salzpapierkopie erstellte; aber auch noch über 80 Jahre spä-ter konnte der Soziologe und Filmkritiker Siegfried Kracauer in ihr nicht mehr als eine „kahle Selbstanzeige der Raum- und Zeitbestände“ erkennen.
Und in der Tat: Weit präziser und direkter als jede naturalistische Malerei und auch als die Techniken der früheren Druckreproduktion wie Kupferstich, Holzdruck und Lithografie in der Presse wurde die Fotografie nun als faszinierende Technik zur Entdeckung und Reproduktion vielfältiger, bis dahin kaum erfasster Wirklichkeiten eingesetzt, erst recht als sie seit Ende des Jahrhunderts mit der Autotypie unmittelbar auf Papier gedruckt und damit publizistisch verbreitet werden konnte. Sie befreite zunächst die Malerei von ihrer vielfach nachgefragten Abbildfunktion, insbesondere hinsichtlich persönlicher Porträts, und befriedigte sodann die wachsende naturwissenschaftliche Neugier sowie die sich verbreitenden positivistischen Registrierbestrebungen, wiewohl sie selbst niemals nur pures Abbild, sondern – wie auch immer – subjektiv wie technisch gestaltete Nachbildung ist: Neben der bald boomenden Porträtfotografie ist es vor allem die Reise-, aber auch die medizinische und polizeiliche Fotografie, die auf je spezielle Weise in alle Poren der Wirklichkeit eindrang, sie vor allem dokumentierte und damit kollektive Vorstellungen von bis dato unbekannten Welten popularisierte. Nicht zu vergessen die florierende Aktfotografie, die namentlich dem so genannten kleinen Mann den nackten weiblichen Körper zumal auch in anzüglichen Posen offenbarte und ihn zur sexuellen Stimulation anbot. Das eigene Ich bis hin zur Anatomie, auch das fremde ebenso faszinierende wie unheimliche Ich und entfernte Wirklichkeiten waren nun plastisch anzuschauen und bis in ihre letzten Geheimnisse auszukundschaften – kein Wunder, dass man die Bilder buchstäblich für bare Münze hielt. Neues SehenWohl nur in der philosophischen, kulturkritischen Theorie wurden für die Fotografie (und später auch für den Film) zudem neue Dimensionen von Sinnlichkeit, Sinnerweiterung und Weltwahrnehmung postuliert, wie es etwa Walter Benjamin in seiner „Kleinen Geschichte der Photographie“ (1931) und später Roland Barthes in „Die Fotografie als Botschaft“ (1961) und in anderen Essays taten. Zwar kommt aus der Sicht Benjamins dem fotografischen Abbild, da es massenhaft reproduzierbar, also nicht mehr einmalig und flüchtig ist, nicht mehr die Aura des (gemalten) Bildes – jenes „sonderbare Gespinst von Raum und Zeit: einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag“ – zu, aber zugleich erzeugt wie repräsentiert sie – zumal in Form der gezielt gestalteten Montage – eine neue Form des Sehens, adäquat für das widersprüchliche Industrie- und Massenzeitalter; sie ist gewissermaßen die mediale Option für eine sich potenziell de-mokratisierende Wahrnehmung, um die noch nicht politisch bewussten Betrachter mit „Chocks“ auf die Antagonismen der sich brachial entwickelnden, kapitalistischen Gesellschaft hinzuweisen.Doch solch politische, wenn nicht utopische Funktionszuweisungen gehen in der weiteren Debatte zusehends verloren, wofür etliche Faktoren nicht nur die massenhafte Verbreitung und Veralltäglichung der Fotografie, vielmehr gewiss auch politische Demontagen und das Versiegen gesellschaftlicher Utopien verantwortlich sind. Wie bei allen anderen visuellen, und erst recht inzwischen bei den digitalen Medien obsiegt nun zunehmend die (zirkuläre) Situierung der reproduzierten Bilder in abstrakten, realitätsentkeimten Referenzsystemen. So spricht der Semiotiker Barthes der Fotografie in den 1960er Jahren jedwede originäre Semantik ab und kennzeichnet sie als platt und banal, weshalb sie nur durch Sprache Bedeutung erlange; sie sei ein Instrument, das „sich über die Realität im Imaginären“ vergewissert, ge- wissermaßen „das lebendige Bild von etwas Totem“. Allein das Subjekt verleihe ihr mit seiner Sprachmächtigkeit Sinn, und zwar – erwartungsgemäß – dann einen jeweils individuell unterschiedlichen.Welt als ScheinLängst haben solch pauschale Negationen Konjunktur, ob als radikal-konstruktivistische oder als poststrukturalistische: Da Realität von der menschlichen Wahrnehmung prinzipiell nicht erkennbar sei, sondern jeweils nur als Konstrukt subjektiver Wahrnehmung, postulieren Konstruktivisten jeglicher Couleur, erübrige es sich, noch länger über die Beschaffenheit und Erkennbarkeit von Realität zu spekulieren.
Ohne-dies böten Medien eine Fülle und Vielzahl von (re-)konstruierten oder auch fungierten Wirklichkeiten, die es wert seien, aber es auch herausfordern, sich mit ihnen auseinander zu setzen, ohne nach ihrer vermeintlichen Realitätsreferenz zu fragen. Doch solch erklärte Ignoranz gegenüber der Realität klärt letztlich nicht einmal das agnostische Problem, wie selbst Konstruktivisten einräumen müssen: Wenn nämlich Realität unerkennbar ist, wie soll dann erkennbar sein, dass sie nicht zu erkennen ist?Diverse Simulacren, so genannte „wirklichkeitsmächtige Kulturmuster, mit denen die soziale Welt semantisch beschrieben und vorgestellt wird“ – erkennt der französische Philosoph Jean Baudrillard in verschiedenen Stadien der Kultur- und Mediengeschichte – nämlich das der Ordnung, der Imitation und der Simulation: Die heutige Medienwelt gilt ihm als bloße Simulation, in der die allmächtigen (medialen) Zeichen ein eigenständiges, tendenziell universales Sondersystem bilden, das auf keine Realität, sondern nur noch auf sich selbst verweist. Die objektive Realität, die realen Ereignisse und Dinge lösen sich gewissermaßen aus ihren materialen Gegebenheiten, denn in die Dinge schlüpfen die konfektionierten Bilder, so dass sie sich nicht mehr voneinander trennen lassen: Abbild und Objekt wird quasi eins und obendrein Bild, weil sich die medialen Reproduktionsmechanismen nicht mehr durchschauen lassen, zumindest nicht vom Laien – wie prototypisch CNN im Golfkrieg 1991, immer noch das symptomatische Beispiel für die tendenzielle Totalität der Medienwelt, vorexerziert hat.Wahrheit der BilderDoch woran hält sich dann der sprichwörtliche Laie bei seiner alltäglichen Welterkundung, Information und Orientierung – wenn selbst Theorien für Nachrichten die kopernikanische Wende ihrer Bewertung fordern, wonach auch die Nachrichten primär ihrer Eigenlogik und Autoreferenzialität gehorchen und die Realität allenfalls gefiltert, gestaltet oder gänzlich verzerrt durchlassen? „Lügen Bilder [nach wie vor] nicht“, wie er sich noch gern einredet, oder repräsentieren sie längst eigene, eben technische oder intendierte ‚Wahrheiten’? Selten klaffen alltägliche Annahmen und Erfahrungen gegenüber theoretischen Visionen so weit auseinander. Denn wenn wir auch um die Gemachtheit, womöglich sogar um die Tendenz von Bildern wissen (oder uns sie umstandslos bewusst machen können), wenn wir selbst sogar Lust und Kompetenz haben, sie entsprechend zu gestalten oder gar zu manipulieren, wie es inzwischen die digitale Fotografie und Bildbearbeitungsprogramme ermöglichen – im einzelnen Bild erkennen wir noch immer das Abbild, seine mindestens partielle Referenz zur Realität. Anders hätten Fotografien für eine Biografie, die Familie und Verwandtschaft, für Feiern und wichtige Anlässe, anders hätten ambitionierte Aufnahmen wie spontane Schnappschüsse vom Urlaub und von Reisen, wo immer noch die meisten Fotos geschossen werden, keinen wirklichen, nämlich realitätsbewahrenden Sinn.
Wir wollen festhalten, wie wir, unsere Umgebungen etc. früher gewesen sind, wie es anderswo aussieht, wo wir waren. Natürlich spielen auch Stimmungen, Emotionen, besondere Blickwinkel mit hinein, und wenn die meist laienhafte Fotografie davon etwas bewahrt und übermittelt, ist es ein glücklicher Umstand. Meist tut sie es für Außenstehende nicht, weshalb es für diese bekanntlich wenig Langweiligeres gibt, als einen Dia- oder Videoabend über die letzte Ferienreise goutieren zu müssen.
Womöglich trägt sogar die inzwischen weit verbreitete digitale Fotografie entgegen ihren technischen Potenzialen erneut zur Stärkung des Abbild-Denkens bei. Denn das Display zeigt ja unmittelbar den Realitätsausschnitt, der dokumentiert werden soll, gewissermaßen so, wie er sich auch dem Auge darbietet, in einer Eins-zu-Eins-Relation. Und da die fotografischen Aufnahme-, genauer Produktionsmechanismen wie Belichtung, Kamerawinkel, Perspektive von der Kamera weithin automatisch erledigt werden, könnte sich solche Abbildsuggestion noch erhärten, nicht zuletzt weil man die vorfindliche Realität in unendlich vielen Fotos festhält. Allein die Auswahl danach, am häuslichen Computer, suggeriert, Herr und Macher über die Abbilder zu sein, vollends dann, wenn sie nachbearbeitet werden und nun sukzessive zu persönlichen Bildern werden. Aber wer tut dies und zudem bewusst?
Öffentliche Bilderflut
Auch die professionelle Bildproduktion fasziniert und verführt lieber mit brillanten Abbildversprechen, als dass sie ihre Gemachtheit oder gar Selbstreferenz betont (wie sie die besagten Theorien unterstellen). Ohnedies überschlagen sich die mächtigen, allgegenwärtigen Bilderfluten in den Medien, so dass das Subjekt sich nur noch mit Mühe und Irritation durchfindet und wohl nur noch die wahrnimmt, zu denen es einen persönlichen Bezug entwickeln und in denen es Referenzen zu seiner Realität entdecken kann. Diese ist natürlich nicht nur materieller, sondern auch gedanklicher, psychischer und emotionaler Natur, weshalb auch Spielfilme und fiktionale Wirklichkeiten und deren jeweiligen visuellen Präsentationen unterschiedlich ‚gelesen’ und auf solche Realitätsverweise hin abgetastet werden. Dies geschieht auch, wenn Filme etwa im Genre der Animation gar keine reale Referenz mehr haben, sondern ausschließlich als bits und bytes im Rechner, als Pixel am Bildschirm generiert werden – wie es Star Wars-Erfinder George Lucas seit den siebziger Jahren in seinen Studios erprobt und mit ihm inzwischen auch Steven Spielberg, James Cameron oder jüngst Robert Zemecki mit Der Polarexpress.
Foto als justiabler Beweis
Doch auch – oder gerade – als polizeiliches oder justiables Indiz lebt das fotografische Abbild fort, und mit den immensen Aufnahme- und Speicherpotenzialen zudem in ständig steigendem Umfang: Ob Videoüberwachung im Kaufhaus oder an öffentlichen, vorgeblich gefährdeten Plätzen, Fotografien bei Pass- und Sicherheitskontrollen, Aufnahmen bei Un- und Schadensfällen und endlich bei Verkehrsüberwachungen – etwa in Form der berüchtigten Starenkästen bei Geschwindigkeitsbegrenzungen: Überall werden Fotos und Videobilder angefertigt, die hernach als untrügliche Beweise für die Präsenz, eine Handlung oder ein Vergehen firmieren. Doch theoretisch-technisch lassen sich all solche Bilder heute problemlos im Computer generieren, sofern die benötigten Daten vorhanden sind, was bei der expandierenden amtlichen Überwachung und Speicherung der Behörden im Zuge vorgeblicher Sicherheitsprävention immer weniger auszuschließen ist. Welche Beweiskraft hat dann noch das berüchtigte, ohnedies meist schlechte, kaum konturierte Foto mit dem Fahrerporträt, mit aufnotierten Zeitangaben und Geschwindigkeitsdaten, das wohl die meisten Autofahrer schon einmal in der Hand hielten? Denkt man die These von der visuellen Autonomie und Selbstbezüglichkeit der reproduzierten Bilder, im systemtheoretischen Jargon Niklas Luhmanns als „Autopoiesis“ bezeichnet, zu Ende, beinhalten sie keine stichhaltigen Referenzen und dürften erst recht keine darauf rekurrierenden Sanktionen rechtfertigen. Denn mit Fotos lässt sich nun einmal kein Realitätsbeweis mehr antreten. Mindestens Polizei und Justiz müssten daher fast sämtliche Entscheidungs- und Strafroutinen einstellen oder zumindest anders legitimieren.
Differenziertere TheorienAn solchen noch vielfach zu multiplizierenden alltäglichen Selbstverständlichkeiten wird offenkundig, dass die totalitären Behauptungen moderner Medientheorie sich übernommen haben, mindestens nicht hinreichend alltägliche Realität berücksichtigen. Sie haben sicherlich zentrale Tendenzen eines potenziell universellen Abkoppelns und Selbstreferierens des Mediensystems ins Visier genommen, seine Eigenlogik und Dynamik aufgezeigt, seine Risiken und Verzerrungen markiert; doch in der Faszination, wo-möglich Selbstsuggestion über den – zugegeben – ungeheuren Sinnesapparat der Medien haben sie das Subjekt weitgehend eskamotiert, selbst wenn es sich partiell selbst täuscht. Aber noch in diesem Tun vermag es – wenn auch partiell – diverse Bedeutungs- und Sinnschichten in der visuellen Bilderflut zu erkennen und sie – we-nigstens rudimentär – mit seiner erfahrbaren und mental verarbeiteten Realität abzugleichen. Die Welt ist ihm nicht nur Simulation, sondern nach wie vor und stets auch buchstäblich begreifbare Realität, die es immer wieder neu wahrzunehmen, zu erforschen, zu dokumentieren, aber auch zu gestalten und zu imaginieren gilt. Da-raufhin die theoretischen Modelle und pauschalen Thesen zu differenzieren ist Aufgabe künftiger theoretischer Arbeit – ohne allerdings in einen platten (Abbild-)Realismus oder gar vermeintlichen Objektivismus zurückzufallen. Wenn „ein Bild immer noch mehr sagt als (1000) Wörter“, so sind in diesem Sprichwort diverse Bedeutungsschichten bereits avisiert: jene abstrakten, die sich in symbolischer Sprache sedimentieren und aus ihr rekonstruiert werden müssen, aber auch jene, die sich unmittelbar, gewissermaßen authentisch dem Betrachter ergeben, die aber er gleichwohl mit seinen Sensorien erschließen und deuten muss.
Beitrag aus Heft »2006/05: 50 Jahre merz - 50 Jahre Medienpädagogik«
Autor: Hans-Dieter Kübler
Beitrag als PDF - Hans-Dieter Kübler: Die „blaue Blume“ der Medienpädagogik – sie blühte anfangs eher unscheinbar
Hans-Dieter Kübler: Die „blaue Blume“ der Medienpädagogik – sie blühte anfangs eher unscheinbar
Als merz vor 50 Jahren aus der Taufe gehoben wurde, steckte auch die Medienpädagogik noch in den Kinderschuhen. Von Anfang an war es das Bestreben von merz, die Entwicklung dieser jungen Disziplin aufmerksam und kritisch zu begleiten.
(merz 2006-05, S. 14-21)
Beitrag aus Heft »2006/05: 50 Jahre merz - 50 Jahre Medienpädagogik«
Autor: Hans-Dieter Kübler
Beitrag als PDF - Hans-Dieter Kübler: Wozu noch eine Tageszeitung?
Hans-Dieter Kübler: Wozu noch eine Tageszeitung?
Es ist immer noch ein (eigentlich) unentbehrliches, angenehmes Ritual: Zu Frühstücksei, Kaffee und Brötchen gehört die Lokalzeitung. In zehn bis 15 Minuten ist sie auch schnell geschafft. Im überregionalen Teil gilt das Interesse nur Schlagzeilen und Artikeln, die nicht schon in Fernseh- und Radionachrichten waren und den regionalen Blick bestreiten, dann noch ein Blick auf Seite zwei und drei, knappe, wohl abgewogene Kommentare und einige eilige Reportagen, eine Karikatur und ein paar Fotos. Regionale Nachrichten etwa über das Bundesland: Fehlanzeige, stattdessen lieber rührende Tiergeschichten, dazwischen etwas Gruseliges über Verkehr und Verbrechen, Heimeliges über Land und Leute. Auf zwei Wirtschaftsseiten verlautbarte Informationen von Firmen und Konzernen, Jahresbilanzen oder gar PR-Lancierungen.
Immer noch wird Platz für Börsenkurse verschwendet, die schon vor der Drucklegung überholt sind. Alles in allem brauche ich acht Minuten, mit Kaffee und Brötchen dazwischen vielleicht zehn. Der lokale Teil ist schnell überflogen. Mehr und mehr wird er zur Plakatwand für die Vereine und deren Repräsentanten, die sich gern in einer Art von Familienfotos ablichten lassen. Politische Themen oder gar Konflikte finden sich äußerst spärlich, zumal über die Ratssitzungen hinaus. Bleibt noch der Blick über das ein- bis zweiseitige Feuilleton, halbiert zwischen überregionalen, meist von Agenturen übernommenen Artikeln und wenigen selbst geschriebenen aus der Stadt. Wer sich nicht noch bei Familien-, Kontakt- und Werbeanzeigen aufhalten will, dem reicht besagte Zeit. Sie liegt fast um die Hälfte unter dem Durchschnitt, den die Deutschen immer noch für die Zeitungslektüre in den letzten Jahren aufbrachten, und genügt dennoch, das Informations- und Orientierungspotenzial seiner Lokalzeitung ausgeschöpft zu haben. Wenn nun wieder einmal das Wehklagen – professionell vom BDZV verbreitet und von den Reflexionsgazetten dankbar aufgenommen – über das schleichende Absterben der immer noch am üppigsten entfalteten Zeitungslandschaft anhebt, dann müsste man mehr über das Informationsangebot und vor allem den Lesernutzen der Tageszeitung wissen. Viel Geld und Ressourcen haben die Verlage in Online-Offerten, die obligatorischen Websites, aber auch in E-Papers gesteckt, wenig scheinen sie hingegen in ihr redaktionelles Kerngeschäft investiert zu haben, im Gegenteil; Redaktionen wurden massiv gekürzt, verschlankt oder sogar ganz outgesourct.
Fragt man Jugendliche, dann reagieren sie erstaunt oder lächeln überheblich: Ja, natürlich interessieren sie sich noch für Nachrichten, Politik, Sport, sogar für Kultur, aber warum dafür bezahlen, eine sperrige Zeitung kaufen oder gar abonnieren, wenn sie im Internet doch alles kostenlos bekommen. „It´s the content, stupid“, muss man Verlegern wie dem Springer-Vorstand Döpfner vorhalten, die die Zukunft der Zeitung allein in Online-Formaten sehen. Dort haben sich längst andere Kommunikationsformen wie Weblogs, Foren und Portale etabliert, die keine festen, ressortspezifisch professionalisierten Redaktionen brauchen. Den kommunikativen Mehrwert der Tageszeitung müssen die Verleger schon selbst erbringen, und er kann nicht nur in Mitmach-Aktionen und allerlei Zusatzgeschäften liegen. Jedenfalls: Ein Frühstück zwischen Tastatur und Display kann ich mir (noch) nicht vorstellen, und wenn die ältere Bevölkerung auf absehbare Zeit in ganz Europa und darüber hinaus anwächst, dann ist das immer noch die Leserschaft, die ihre Tageszeitung täglich vermisst. Und was in 50 Jahren sein wird, das können selbst die optimistischsten Online-Apologeten nicht prognostizieren.
Beitrag aus Heft »2007/04: Stimmungsregulation durch Medien«
Autor: Hans-Dieter Kübler
Beitrag als PDF - Hans-Dieter Kübler: Lebst du noch – oder bist du online?
Hans-Dieter Kübler: Lebst du noch – oder bist du online?
Mehr als vier Stunden – so schätzen Zwölf- bis 19-Jährige laut JIM-Studie 2018 selbst – sind sie täglich im Netz, allerdings in den Altersgruppen und Bildungsniveaus recht unterschiedlich. Zu über 90 Prozent tun sie dies mit dem Smartphone oder Laptop, stationärer Computer und Tablet erreichen erst recht deutlich geringere Werte. Und in der Tat: Trifft man Jugendliche irgendwo, sind sie ständig mit ihrem Smartphone beschäftigt, nehmen andere und ihre Umgebung kaum mehr war, leben gewissermaßen in einer virtuellen Blase. Bei den Sechs- bis 13-Jährigen zeigen sich laut KIM-Studie 2018 ähnliche Trends. Da kann es Eltern und Erziehenden schon bang werden, wenn sie an die Realitätswahrnehmung ihrer Sprösslingen denken, an die möglichst ausgewogene Entwicklung ihrer Fähigkeiten, an deren Kontaktkultur und Empathie. Entsprechend häufen sich Warnungen, Hilfsangebote und Ratgeber, wie man im ‚digitalen Leben‘ richtig oder falsch leben soll. Die Kontroversen polarisieren zwischen Beschränkung und Verbot, weil körperliche und psychische Schäden drohen, und euphorischen Zustimmungen und Appellen, um die Welt endlich digitaler und künftige Generationen dafür fit zu machen. Ob bei Arbeit, Medizin, Pflege, Verkehr, Haustechnik, Kultur und natürlich Bildung – überall sind Digitalisierung 4.0 und KI zu faszinierenden Zauberwörtern für Fortschritt und Wohlstand avanciert. Politik und Wirtschaft überbieten sich im permanenten Wettbewerb mit Investitionsforderungen und kühnen Szenarien dazu.
Plakativ sind viele Behauptungen und Vorwürfe auf beiden Seiten: Seit der milliardenschwere Digitalpakt zwischen Bund und Ländern beschlossen ist und erste Gelder – allerdings viel zu wenige – abgerufen werden können, schwärmen die Befürworter*innen vom Ende der schulischen Kreidezeit. Eilends verbreitete Erhebungen, wie etwa die ICLS, weisen allerdings nach, dass sich die ‚Computerkenntnisse‘ von Achtklässler*innen zwischen 2013 und 2018 kaum verbessert haben. Und die jüngste PISA-Studie vermeldete sogar Rückgänge der allgemeinen Lese- und Rechenfähigkeiten. Kritiker*innen wie der Mediengestalter Lankau (2017) versichern, dass „kein Mensch digital“ lernen könne und fordern die Schule als „Schutzraum“ für alle IT-Risiken. Der Schweizer Sachbuchautor Dobelli landete sogar einen paradoxen Coup: Seine Kunst des digitalen Lebens (2019) propagiert die totale Medien- und Online-Askese – und wurde damit Bestseller.
Fragt man genauer nach, was denn digitale Bildung konkret im Unterricht bedeutet, bleibt es noch immer recht vage: Dann sollen Schüler*innen etwa „algorithmisch denken“, also Problemlösungen konzipieren, aus Webseiten und mittels Internetrecherchen Informationen erarbeiten und bewerten, Bilder gestalten, Grafiken erstellen lernen, sich in komplexen Computersimulationen zurechtfinden – alles Aufgaben und Fähigkeiten, die auch schon in der analogen Welt bildungswertig waren, und nun mit IT-Techniken womöglich neue Formatierungen erfahren. Doch wenn sie vor der Digitalisierung von vielen nicht gelernt wurden, wie dann mit digitalen Medien? Da kommt erneut der uralte Traum von Lernmaschinen auf, die stets automatische Lernfortschritte versprachen und hernach scheiterten. Jener Technikdeterminismus dürfte auch beim nächsten digitalen Schub eine Zeitlang vorhalten. Anstatt zu erproben, was, wie, in welchem Alter und mit welchen Hilfs- und Motivationsmitteln gelernt wird, wird zuerst ein gigantischer Markt für IT- und Lernsoftware-Industrie aufgemacht, zumal er im privaten Konsum längst etabliert ist und derzeit an seine Grenzen stößt.