Georg Seeßlen
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- Seeßlen, Georg/Jung, Fernand: Horror. Grundlagen des populären Films
Seeßlen, Georg/Jung, Fernand: Horror. Grundlagen des populären Films
„Das Grauen ist immer und überall“ – „Horror“ von Georg Seeßlen und Fernand Jung
Der Horrorfilm stellt ein Genre dar, das Jugendschutz, Justiz, Klerus, Medienpädagogik, Cineasten und Jugendliche gleichermaßen beschäftigt. Was die einen abstößt, ekelt oder entsetzt, bringt andere dagegen in wohliges Erschaudern und vielleicht sogar in Ekstase. Liebevoll gestaltete Horrorfanseiten im Internet und geharnischte Anträge von Staatsanwaltschaften zeugen nachhaltig von diesem Spannungsfeld. Das neue Buch „Horror“ von Georg Seeßlen und Fernand Jung – erschienen im Schüren Verlag in der Reihe „Grundlagen des populären Films“ – geht diesem Spannungsverhältnis und den Implikationen des Horrorgenres mit vielfältiger Analyse differenziert auf den Grund. Zum einen wird hier eine kenntnisreiche historisch literarische Genese des Begriffs Horror ausgebreitet, zum anderen versuchen die Autoren, die psychologischen und gesellschaftlichen Hintergründe und politischen Bezugnahmen von Horrorfilmen auszuloten. Seeßlen und Jung machen dabei immer wieder deutlich, mit welchen Ambivalenzen Zuschauerinnen und Zuschauer konfrontiert werden: Vom Eintauchen in psychoanalytische Abgründe menschlicher Angst bis zum Infragestellen familiärer Grundstrukturen unserer westlichen Gesellschaftsordnung.
Von wütender politisch-gesellschaftskritischer Kapitalismuskritik junger wilder Filmemacher bis hin zum perfiden Spiel mit bis dahin noch nie gezeigten Ekel-Bildern und dem Zurschaustellen von Gewalttätigkeiten und Monstrositäten jenseits jeglicher bürgerlicher Vorstellungskraft, all dies findet sich in den Analyse in Seeßlen und Jungs Werk wieder. Daher zitieren die beiden Autoren folgerichtig den Filmemacher Georg a. Romero, der treffenderweise diesen Konflikt in seinen frühen Zombie-Filmen folgendermaßen zuspitzte: „Wenn es in der Hölle zu eng wird, kehren die Toten auf die Erde zurück“. So gesehen sind Horrorfilme immer der filmische Reflex auf gesellschaftliche Realität. Banal umformuliert, bedeutet dies, dass jede Gesellschaft mit dem Horror im Film konfrontiert wird, den sie letztlich verdient. Doch die Revolution frisst ihre Kinder, auch davon wird in „Horror“ berichtet – von der Kommerzialisierung der Gesellschaftskritik und dem Verkümmern des Narrativen in Horrorfilmen.Das Werk ist insofern einzigartig, als dass kaum ein Film der Filmgeschichte unerwähnt bleibt, der sich diesem Genre, unabhängig von seinem Entstehungsdatum oder seiner filmischen Qualität, zuordnen lässt – selbst Nebenströmungen werden aufgegriffen. Ein besonderer Verdienst der beiden Autoren ist es, sich dabei weitgehend moralisierender Wertungen zu enthalten. Seeßlen und Jung versuchen vielmehr zu verstehen, was hinter den Filmbildern und Geschichten liegt und auf welche gesellschaftlichen Grundmuster und Mythen die gezeigten Bildwelten prallen oder aus welchen soziokulturellen Mustern die Filme ihren jeweiligen Thrill beziehen. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass, egal ob nach einem bestimmten Film gesucht wird oder Entwicklungsstränge verfolgt werden, bei „Horror“ kundige Informationen und fundierte Analysen in verständlicher und mit Genuss zu lesender Art und Weise gefunden werden. Mit über 1000 Seiten kann von einem absoluten Standardwerk der Filmliteratur gesprochen werden. Ein umfangreicher Anhang mit umfassender Bibliografie, Filmografie und einem opulenten Register sind auch für Leserinnen und Leser, die das Werk lediglich quer oder lexikalisch nutzen möchten, umfangreiche Hilfen gegeben. Der einzige Wermutstropfen ist der, dass das Werk eben leider ein Buch und kein Film ist!
- Georg Seeßlen: No Future in Digital Reality
Georg Seeßlen: No Future in Digital Reality
Gewiß: Seit es das Kino gibt, gibt es darin apokalyptische Visionen. Nichts, so scheint es, macht in der populären Kultur so viel Vergnügen wie die Zukunft als Katastrophe stattfinden zu lassen: die große Bombe hat die Zivilisation zerstört, außerirdische Invasoren wollen die Menschheit unterjochen, unterwandern oder schlicht auslöschen, Mensch und Maschine sind in einen ewigen Krieg miteinander gefallen, Viren bedrohen Computer und Körper, Kometen rasen unaufhaltsam auf die Erde zu, die Umwelt ist endgültig ruiniert, und während die Menschen sich in blutigen Fernsehspielen buchstäblich zu Tode amüsieren, sind die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Medientraum immer weniger zu bestimmen. Und wenn uns all das noch nicht unheimlich genug ist, dann lässt das Kino auch den Teufel persönlich wieder auf die Erde los.
(merz 2000-01, S. 22-26)
- Georg Seeßlen, Fernand Jung: Science Fiction
Georg Seeßlen, Fernand Jung: Science Fiction
Wie kaum einem anderen Genre der nunmehr über 100-jährigen Filmgeschichte oblag es der Science Fiction von Anfang an, die Visionen und Wünsche, vor allem aber auch die Zukunftsängste einer Gesellschaft widerzuspiegeln. So sind die großen Themen des utopischen Films – wie etwa Invasionsangst in den USA der Ära McCarthy oder erstarkende Furcht vor atomarer Bedrohung und deren monströse Auswirkungen zur Zeit des kalten Krieges – immer auch Reflexion über eine Epoche und können losgelöst von diesem Hintergrund nicht vollständig erfasst werden. Die Hypothese vorangestellt, es sei nicht das Problem der Science Fiction, die Zukunft vorherzusehen, sondern vielmehr, die Gegenwart zu bewältigen, beschreiben Georg Seeßlen und Fernand Jung Science Fiction somit auch als „Hort der Katastrophenphantasie“, als das Genre, das „Zukunft eher vermeiden als erreichen will“. Ihr neuestes, zweibändiges Buch, mithin das wohl ambitionierteste aus der Reihe „Grundlagen des populären Films“, ist damit als gesellschaftskritischer, gleichwohl kulturanalytischer Diskurs zu verstehen, der weniger die bloße Faszination des Fantastischen in den Mittelpunkt stellt, sondern sich des Phänomens vielmehr aus filmgeschichtlicher Sicht annähert. Die Basis für wesentliche Kernaussagen bildet das einleitende, knapp 80 Seiten umfassende Kapitel „Mythologie der Science Fiction“, das sich auf die Suche nach den Ursprüngen und Einflüssen in Reise- und Trivialliteratur macht, Elemente, Themen und Bausteine sowie Aspekte des Utopischen in der Science Fiction herausgreift. Neben den mehr oder weniger bekannten Vertretern der Pulps und Magazinformate kommen hier mit Werkbeschreibungen von E. A. Poe bis H.G. Wells auch jene namhaften Schriftsteller zur Geltung, die das Genre nachhaltig geprägt haben.
Im Anschluss widmen sich die Autoren dem Hauptteil ihres Werkes, der einen fast lückenlosen, in seiner umfassenden Form derzeit beispiellosen, geschichtlichen Überblick zum Thema vorsieht. Ausgehend von der Stummfilmzeit und ihren berühmten Vorreitern wie Georges Méliès oder Fritz Lang unterteilen sich die Kapitel zunächst chronologisch in ein dekadenspezifisches Bild des Science Fiction Films bis in die 1970er Jahre. Die „Super Serien“ Star Wars und Star Trek werden mit einem eigenen Kapitel bedacht, anschließend Produktionen bis nach der Jahrtausendwende unter thematischen Gesichtspunkten zusammengefasst: „Aliens“, „Virtual Reality“ und „Zeitreisen“, um nur einige der Schwerpunkte zu nennen, denen die Autoren interessante Gesetzmäßigkeiten abgewinnen können, die selbst eingefleischten Fans wertvolle Anregungen liefern dürften. Besonders einflussreichen Werken wie 2001 oder dem ersten Teil der Alien-Quadrologie wird der hierfür notwendige Platz eingeräumt. Äußerst positiv bleibt an dieser Stelle zu vermerken, dass die Autoren nicht nur die millionenschweren und opulenten Publikumsmagneten in Augenschein nehmen, sondern sich stets eines breiten Spektrums der populären Science Fiction annehmen.
Das Kapitel „Science Fiction universal“ beispielsweise widmet sich neben Filmen aus Japan und den Ostblockländern auch den Produktionen der DEFA und fördert mit Filmen wie Der schweigende Stern die unvergessenen, wenn auch relativ unbekannten Juwelen des phantastischen Films zu Tage. Ebenso wird an seinen Schnittstellen zu Horror und Fantasy auch den B-Filmen des Genres Beachtung geschenkt. Den Werken Jack Arnolds etwa oder auch der Trashkultur in ihrer Reinform am Beispiel der zahlreichen Produktionen von Roger Corman. Neben ausführlicher Beschreibung und Analyse jener Filme, die die Thesen der Autoren unterstützen, finden viele Werke dabei zwangsläufig nur parenthetisch Erwähnung. Mit Kritik an manchen der unbestritten kruden bis stumpfsinnigen Werke halten sich die Autoren indes vornehm zurück, was ihrem Anliegen nur zu Gute kommt: Nicht filmkritischer sondern filmwissenschaftlicher Art ist ihre Intention, Tendenzen und Paradigmen des Genres herauszuarbeiten, Entwicklungslinien nachzuzeichnen und aufgelistete Filme in einen Bezugsrahmen von gesellschaftlichem Gesamtkontext einzuordnen. Ein derartiges Werk, gerade über den populären Film, hat von vorneherein mit dem Problem zu kämpfen, eigentlich schon am Tag seiner Veröffentlichung überarbeitet werden zu müssen. Nach ihrem facettenreichen Blick zurück in die Zukunft und auf aktuelle Tendenzen des Kinos ersparen sich die Autoren demzufolge einen Ausblick auf die kommende Entwicklung des Genres. Eine ihrer Kernthesen zu Beginn besagt: „Die Technik verlangt nach einem neuen Menschen, und das kann nur der sein, der sie auch hervorgebracht hat [...]“. Diesem vorab postulierten Kreisschluss analog verlangt auch Science Fiction als Spiegelbild der Gesellschaft nach immer neuen Filmen.
Dabei sind es einmal mehr die technisch aufwändigen Remakes, die, angepasst an ein neues Weltbild, eine ursprüngliche Intention aufgreifen und ihr damit wiederum neue Aspekte verleihen. Konsequenterweise findet das Buch mit der Besprechung der aktuellsten Neuauflage des Films Solaris seinen plausiblen Abschluss und sein gewissermaßen offenes Ende. Die Geschichte des Science Fiction Films wird fort geschrieben werden ...In punkto Lesefreundlichkeit macht es der Aufbau des Buches leicht, sich über bestimmte Themen oder Dekaden zu informieren. Auch einzelne Filme zu finden ist dank Registerteil problemlos möglich. Neben ausführlicher Bibliografie mit umfangreichen Literaturempfehlungen rundet eine detaillierte Filmografie den Anhang schließlich ab. Schade nur, dass von einem – für die lexikalische Form eigentlich unverzichtbaren – Personenregister abgesehen wurde. Zudem sind manche der überaus zahlreichen und ansonsten recht anschaulichen Standbilder von Filmszenen leider etwas zu dunkel geraten. Was dann aber auch schon alles wäre, was man an Abstrichen in Kauf nehmen muss. Ansonsten dürfte „Science Fiction“ von Seeßlen und Jung, nicht nur seiner ungeheuren Vielzahl an verarbeiteten Filmen wegen, die neue Referenz zum Thema und ein Standardwerk werden. Sorgfältige Recherche und kompetente Herangehensweise machen ihre Genrebeschreibung empfehlenswert für alle, die sich intensiver mit Science Fiction auseinander setzen wollen.
- Georg Seeßlen: Die Moral der digitalen Bilder
Georg Seeßlen: Die Moral der digitalen Bilder
Die alltägliche Realität unsererBilderkultur mag uns erscheinen, als hätten sich Adorno und Horkheimer, Philip K. Dick und Vilém Flusser gegenseitig ihre schlimmsten Albträume erzählt. Und nun ist ganz offensichtlich mit der virtual reality ein neues Kapitel in dieser Präsenz der überwältigenden Bilder eröffnet: Das Bild, das nicht mehr die Wirklichkeit als Material benötigt, um 'real' zu wirken. Nichts muss mehr gespielt, inszeniert und aufgenommen werden in Filmen wie "Final Fantasy", in denen mehr oder minder reale Menschen auftreten, denen man die Herkunft aus dem Computer zwar gerade noch ansieht, die aber vielleicht auch schon verweisen auf eine nächste Generation von Bildern , in denen in der Tat nicht mehr zwischen einem menschlichen Schauspieler und einem "Synthespian" zu unterscheiden wäre. Haben Synthespians eine Seele? Oder um es profaner zu sagen: Wo beginnt da etwas, was über das Programm selber hinausgeht? Von einer anderen Seite her versucht Steven Spielbergs das in "A.I." zu untersuchen. Er erzählt (mit realen Schauspielern) die Geschichte eines Jungen, der in Wahrheit nichts als ein Computerprogramm und ein täuschen ähnliche menschliche Maske ist, geschaffen um die emotionalen Bedürfnisse realer menschen zu befriedigen.
Aber diese Maschine oder, wenn man so will: dieses Bild, (das Bild unserer Sehnsucht nach Liebe, an anderem Ort das Bild unseren sexuellen Begierde, das Bild unserer Agression etc.), das so "auf Liebe eingestellt" ist, muss, um die Liebe in seinem Programm zu verwirklichen , den unbändigen Wunsch danach hegen, "als wirkliches Kind" angesehen zu werden. Natürlich ist das zunächst nichts anderes als eine SF-Version des Pinocchio-Märchens, und das wiederum nichts anderes als eine metaphorische Einkliedung der Frage: Wie werde ich Mensch?So haben die alten Phantasien in unseren Bildermaschinen die Formen gewechselt. Und trotzdem reichen solche Filme, so unterschiedlich sie ansonsten sein mögen, sehr viel tiefer in unser Verhältnis zu den Bildern. Wir ahnen, dass sie nicht länger in der alten Weise zu kontrollieren sind, in den Fernseh-Kanälen nicht, in den wuchernden Welten der Videogames nicht, und schon gar nicht im Internet. Die Phase der apokalyptischen Angstbilder, der Monster, die aus dem Fenster kommen oder Bildschirme, die Kinder fressen, Roboter, die Kriege gegen ihre menschlichen Erbauer führen, ist vielleicht vorbei. Selbst auf der Ebene der populären Kultur können wir ein wenig ernsthafter über das Verhältnis zwischen den Menschen und seiner zweiten Schöpfung nachdenken. Es genügt nicht mehr, die Bilder kaputtzumachen, die uns lästig geworden sind. In den Datennetzen und dem selbstreferentiellen System der populären Kultur kann man Bilder nicht mehr zerstören.
Im elektronischen Zeitalter sind Bilder Wesen, die sich mit rasender Geschwindigkeit vermehren.Je mehr sich die Bilder von der materiellen Realität und je mehr sie sich von der Kontrolle in der eigenen Kultur entfernen, desto mehr verlangt es nach einer neuen Art der Verantwortung unserer Bilder. Sie werden immer mehr von Spiegelungen zu wirklichen 'Schöpfungen'. Der Unterschied zeigt sich in der Materiallosigkeit ebenso wie in der Globalisierung des Bilder ´markts und der Bilderfabrikation. Eine priäre Moral der Bilder betraf gerade das Vor-Bild und die Art, wie es zu 'erbeuten' ist. Ein 'unmoralisches Bild' ist in der traditionellen Technik zunächst ein Bild, das etwas Unmoralisches abbildet. Uns ein unmoralisches Bild ist eines, das auf unmoralische Weise zustande gekommen ist, zum Beispiel gegen den Willen der Abgebildeten oder gegen die Abbildungscodes einer Kultuer. Ein unmoralisches Bild ist sodann eines, das unmoralisch bearbeitet, etwa gefälscht oder etwas als falsches 'Argument' missbraucht wird. Und schließlich ist ein unmoralisches Bild eines, das an den falschen Blick gerät, zum Beispiel an den eines Kindes. In dieser Kette der Moral von der Produktion des Bildes über die Vermittlung bis zum Konsum kann man auf der einen Seite durchauss so etwas wie ein Bilderverbrechen konstruieren, einen Bildweg, der in seinen verschiedenen Etappen Menschenrecht und Zivilisationsabsicht verletzt.
Und auf der anderen Seite gibt es wohl auch einen nützlichen und sogaar heielnden Bildweg. Aber dazwischen liegt ein ungeheurer Bereich der Gleichgültigkeit, der alltäglich gewordenen Bilderdummheit.Das digitale und das globalisierte Bild verkürzen und verschleiern diesen Bildweg. Ist das digitale Bild einer Tierquälerei 'moralischer' als ein authentisches? Verschieben sich, zum Beispiel, was das Pornografische anbelangt, die moralischen Grenzen vom realen fotografischen Bild zum Cybersex? Und wie verhält es sich mit Bildern, die alle kulturellen Schranken auf den elektronischen Wegen überschreiten, aber in den Kulturen sehr verschiedene Bedeutungen haben?Je weniger uns 'das Abgebildete' als moralischer Maßstab bleibt, je weniger das 'Tabu' als territoriale Kultur den entorten Bildern entgegensteht, desto mehr muss uns die Abbildung selbst als 'moralisches Wesen' erscheinen, im Guten wie im Bösen. Arbeiten wir an der Philosophie, die sich um die Seele unserer Bilder kümmert.
- Georg Seeßlen: Der Tag, als Mutter Beimer starb. Glück und Elend der deutschen Fernsehfamilie
Georg Seeßlen: Der Tag, als Mutter Beimer starb. Glück und Elend der deutschen Fernsehfamilie
Georg Seeßlen: Der Tag, als Mutter Beimer starb. Glück und Elend der deutschen Fernsehfamilie. edition TIAMAT, Berlin 2001, 286 Seiten, DM 36,00Seeßlen parallisiert die Geschichte der westdeutschen Familienserien mit dem Niedergang des Kleinbürgertums. Während das Bildungsbürgertum (und das, was sich dafür hielt) in den fünfziger Jahren noch starke Vorbehalte gegen das neue Medium hatte ("Fernsehen lenkt nur von den Hausaufgaben ab"), bot dieses damals nachgerade Bildung pur (z.B. Theaterübertragungen). In den wenigen unterhaltenden Serien der Zeit (Die Schölermanns, ab 1954) dominierte meist ein netter Patriarch über folgsame Kinder und eine besorgte, aber eher einfältige Mutter. Schon die Familie Hesselbach (ab 1960 als Fernsehserie) geriet gelegentlich in ernste Turbulenzen, Die Unverbesserlichen (ab 1965) waren bereits mitten in einem letzlich vergeblichen Kampf gegen Auflösung und sozialen Abstieg.
Gleichzeitig beginnt der Vater sich aus den Serien zu verabschieden. Übrig bleibt ein armseliges, oft komisches Relikt, das aber wie Alfred Tetzlaff in "Ein Herz und eine Seele" (ab 1974) keineswegs ungefährlich ist.Die siebziger und achtziger Jahre sind die Blütezeit sozialkritischer Serien (z.B. Faßbinders "Acht Stunden sind kein Tag", 1972). Auf die vaterlosen Familien folgen zunehmend Patchworkfamilien, die weniger hierarchisch, sondern vielmehr vertikal organisiert sind, wobei es neben einer sozialliberalen Variante (Die Lindenstraße, ab 1985) eine konservative (Schwarzwaldklinik, ab 1986; Forsthaus Falkenau, ab 1989) gibt. Als vorläufig letzte Phase sieht Seeßlen die Daily -soap (Gute Zeiten, schlechte Zeiten, ab 1992), die von Sexualisierung und Atomisierung geprägt ist.
Noch in dieser holzschnittartigen Zusammenfassung wird das Anregende von Seeßlens Buch deutlich, das einige sinnvolle Schneisen in die unübersichtliche massenmediale Produktion geschlagen hat. Andererseits übergeht seine Konzentration auf die Inhalte Umbrüche in der Medienlandschaft - die Einführung des Privatfernsehens - und in den Produktionstechniken. Auch Einflüsse sozialer Bewegungen - z.B. des Feminismus - bleiben ausgespart. Zudem fehlt ein Literaturverzeichnis und Zitate werden nicht belegt.
- Georg Seesslen: Wie deutsch ist es?
Georg Seesslen: Wie deutsch ist es?
Patriotismus ist eine Empfindung, womöglich nicht viel weniger fundamental als Impulse des Erotischen, des Religiösen, des Kulturellen, aber offenkundig dynamischer, instabiler und in gewissem Sinne ungenauer. Vom Nutzen solcher Impulse ist genug die Rede, von ihrer Gefährlichkeit muss man niemanden überzeugen, der sich je ein paar Geschichtsbücher vorgenommen hat. Das Subjekt von "Patriotismus" ist so wenig eindeutig wie das Objekt; ICH kann nur patriotisch sein, sofern WIR es sind.
Die schöne Idee vom "Verfassungspatriotismus", also die mehr oder weniger glühende Zuneigung und Verteidigung eines Textes, in dem Rechte und Pflichten der Menschen in einem bestimmten staatlichen Zusammenhang geregelt sind, erscheint daher als eine etwas karg-utopische Idee eines Ich-Patriotismus. Und das Objekt des Patriotismus - nennen wir es "Deutschland" – wie sollten wir das definieren?Zwei widersprüchliche Möglichkeiten bieten sich schon im Kern an: die Nation als ein historischer Zusammenschluss mit Interessen und Grenzen, als kontrollierter Wirtschaftsraum einerseits, und das Volk als Zusammenhang von "Rasse", Kultur, Sprache und Religion (machen wir uns nichts vor: einen "deutschen Muslim" können wir uns immer noch schwer vorstellen, auch wenn es genügend und ausgesprochen freundliche Beispiele dafür gibt). Patriotismus, so scheint es, funktioniert als nützlich-gefährlicher Impuls nur, wenn uns der Widerspruch zwischen beiden Konstruktionen, einer rationalen und einer mythischen, nicht recht zu Bewusstsein kommt.
Vielleicht ist Patriotismus auch eines der vielen Mittel, eben diesen Widerspruch zu lösen: Der Impuls richtet sich auf ein Sowohl-als-auch. Aber zur gleichen Zeit trägt er wohl die Gefahr der Spaltung in sich, und der völkische Patriotismus, der zum deutschen Faschismus geführt hat, dürfte seinen Schrecken in der Geschichte nie verlieren. Eine "normale Nation" zu werden ist daher für Deutschland nicht allein deswegen so schwierig, weil eine "normale Nation" nirgendwo auf der Welt existiert, sondern auch, weil die völkische Perversion des Patriotismus noch nicht einmal aufgearbeitet, geschweige denn überwunden ist. Immer noch, und im Gegensatz zu anderen "normalen" Nationen definieren unsere Gesetze und unsere Gebräuche das Deutschsein eher völkisch als national, durch "Blut" statt durch Entscheidung, eher durch Gefühl als durch Wissen...
( merz 2002/06, S. 356 - 359 )