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| Praxis

Nachbericht Jahresauftakttagung "Krisen im Netz"

Krisen, Katastrophen, Kriege. Solche schrecklichen Ereignisse gab es schon immer, und schon immer berichteten die Medien darüber. Auch Kinder und Jugendliche kamen mit negativen Nachrichten schon immer in Berührung. Im Unterschied zu heute sind solche Krisen dauerpräsent, weil sich die Zahl der Medienkanäle potenziert und das Mediennutzungsverhalten von jungen Menschen massiv gewandelt haben.

Bilder, Videos – aber auch Texte oder Podcasts über die Krisen, Katastrophen und Kriege dieser Welt – sind immer und überall abrufbar. Noch mehr: Sie dringen als Push-Nachrichten und abonnierte Stories automatisch, direkt und ungefiltert zu Kindern und Jugendlichen vor; landen auf dem Smartphone. Plattformen wie TikTok spülen dabei ungeprüfte Informationen im Sekundentakt auf die Geräte. Und wer mehr von diesen Inhalten konsumiert, wird vom Algorithmus mit noch mehr solcher Inhalte „belohnt“.

Die achte Jahresauftakttagung des JFF – Institut für Medienpädagogik widmete sich diesem Thema unter dem Titel „Krisen im Netz – Herausforderungen und Chancen für die pädagogische Praxis“.

In Kooperation mit dem Bayerischen Jugendring (BJR) und der Aktion Jugendschutz (aj) stand dabei im Mittelpunkt, wie pädagogische Fachkräfte Kinder und Jugendliche dabei begleiten können, Krisenthemen in den Medien einzuordnen und sowohl kritisch als auch aktiv damit umzugehen. Die Tagung wurde vom Bayerischen Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales gefördert und fand als hybrides Format statt.

„Trübe digitale Suppe“

In ihrem Grußwort hatte zunächst Staatsministerin Ulrike Scharf darauf verwiesen, dass Kinder und Jugendliche – aber auch Erwachsene –  sich der Flut der Bild- und Videoinformationen nicht mehr entziehen können. Das Problem dabei sei nicht nur die schiere Menge der Informationen, sondern insbesondere deren Wahrheitsgehalt und die Erkennbarkeit der Absender*innen. Gleichzeitig steigt der Druck auf junge Menschen, immer online zu sein und solche Informationen zu konsumieren. 44 Prozent der befragten Jugendlichen gaben in einer Studie an, dass sie befürchten, etwas Wichtiges zu verpassen, wenn sie nicht auf TikTok und anderen Plattformen dauernd präsent wären. Dort, so Scharf, treffen sie jedoch zunehmend auf eine „trübe digitale Suppe“.

Damit war der Einstieg in die Behandlung des Themas gelungen. Entwicklungspsychologisch gesehen kommt diese Informationsflut zu einer Zeit, in der sich Weltbilder bei jungen Menschen herausbilden. Dabei bestehe die Gefahr, dass einfache und vereinfachende Antworten auf die Krisensituationen in der Welt antizipiert werden. Das Digitale sorgt für Unmittelbarkeit – aber auch Manipulierbarkeit von Inhalten. Dieser Entwicklung sei u. a. durch medienpädagogische Angebote zu begegnen. Grundsätzlich sich aber auch Eltern und Lehrkräfte gefordert, sich Zeit zu nehmen, um mit den Kindern und Jugendlichen ins Gespräch zu kommen – ehrlich, auf Augenhöhe und empathisch.

In einem ersten Impulsvortrag bestätigte auch Dr. Nicole Rieber (Berghof Foundation), dass es für Kinder, Jugendliche und Erwachsene kein Entrinnen aus der Informationsflut gibt. Bereits vor dem Ausbruch der Pandemie war sichtbar geworden, dass sich Angstzustände gerade bei Heranwachsenden ausweiten und verstärken. Die aktuellen Krisen in der Welt verstärken nun diese Tendenzen. An dieser Stelle sei Pädagogik gefragt. Eine beruhigende Nachricht in diesen Zeiten ist, dass sich Heranwachsende der Informationsflut bewusst sind. Aktuelle Befragungen ergaben, dass 45 Prozent der Kinder und Jugendlichen nicht nur Informationen aus digitalen Plattformen wie TikTok beziehen, sondern auch klassische lineare Medien nutzen. Dabei verschmelzen die digitale und die analoge (Nachrichten-)Welt. Um mit der Menge und der vermeintlichen Qualität der Informationen umgehen zu können, sie einzuordnen und zu bewerten, bedarf es schlicht Bildungsangebote, die frühzeitig greifen müssen und die junge Menschen dabei unterstützen, sich in der Welt zu orientieren und damit auch mit Krisenzeiten umzugehen lernen. In ihrem Arbeitsfeld – der digitalen Friedenspädagogik – versucht man nun, im Internet eine gewaltfreie digitale Diskussionskultur zu schaffen. Solche Angebote wirken präventiv und können junge Menschen dabei unterstützen, sowohl selbstbewusst an Diskursen im Internet teilzunehmen als auch den Wahrheitsgehalt von Informationen zu erkennen. Im Ergebnis entsteht Resilienz, die u. a. vor psycho-sozialen Folgen des Medienkonsums schützen soll. Im Zuge dieses pädagogischen Angebots sei es wichtig, digitale Räume und Gelegenheiten zu schaffen, in denen Kinder und Jugendliche Platz finden, teilzuhaben und aktiv ihre mediale Umwelt zu gestalten. Dabei spielen auch die Eltern eine zentrale Rolle. Deren Medienkompetenz sei oft auch begrenzt und sie wissen nicht, in welchen Welten sich ihre Kinder bewegen. Hier besteht Aufklärungs- und Qualifizierungsbedarf.

Selbstwert steigern

Im Anschluss daran referierte Sabine Finster (Aktion Jugendschutz, Landesarbeitsstelle Bayern e.V.) zum Thema „Jungsein in Umbruchzeiten“. Sie berichtete aus entwicklungspsychologischer Sicht, welche Herausforderungen bei dem Bewältigen von Entwicklungsaufgaben von Kindern und Jugendlichen zu meistern sind. Die aktuellen Befunde zeigten, dass jeder siebte Jugendliche manifeste psychische Erkrankungen aufweise. Diese Entwicklung hatte lange vor Corona eingesetzt und wurde durch die Zunahme von Belastungsmomenten ausgelöst. Dazu gehört nicht zuletzt die mediale Dauerpräsenz von negativ konnotierten Themen. Die Beschäftigung mit den Entwicklungsaufgaben sei dadurch massiv gestört.

Krisen seinen jedoch schon immer Teil des Erwachsenwerdens gewesen – und nicht jede erlebte Krise würde sich in negativ auswirken. Dennoch liege der Anteil von Jugendlichen mit depressiven Stimmungen bei knapp 20 Prozent. Die Krankheitsbilder und deren Folgen verstärken sich gegenseitig und führen – ohne Hilfsangebote – zu einer dramatischen Verschlechterung der psycho-sozialen Gesundheit von Heranwachsenden.

Bei der Bewältigung dieser Krisen sollte ein ressourcenorientierter Ansatz in Zentrum stehen, der bei den persönlichen Stärken der Heranwachsenden ansetzt. Im Rahmen der Entwicklungspsychologie müssten Pädagog*innen das Selbstbewusstsein der jungen Menschen stärken. Dabei können Medien durchaus unterstützend wirken. Das hatten die Corona-Pandemie gezeigt, in der neue Online-Formate geschaffen wurden, die sich direkt an die Lebenswelt junger Menschen angedockt hatten – z. B. das Konzept der digitalen Streetworker*innen.

Psychologische Krisensituationen treten dann auf, wenn internale psychische Bedürfnisse auf die Realität prallen, in der sich nicht erfüllt werden können. Analog der Bedürfnispyramide nach Klaus Grawe sind solche Bedürfnisse Orientierung und Kontrolle, Lust/Unlustvermeidung, Bindung sowie Selbstwertschutz und Selbstwerterhöhung. Während der Pandemie waren diese Bedürfnisse nur bedingt einlösbar. Dabei bieten Medien durchaus Ansätze dafür: Bindung kann über soziale Kontakte im Netz hergestellt werden, Selbstwirksam/Selbstwert kann geschaffen werden, indem Videos, Bilder oder ein Poetry Slam erstellt wird. Eine Vernetzung ist nicht zuletzt durch Angebote des digitalen Streetworks zu erreichen. Ziel der Pädagogik muss es nun sein, gegenseitiges Verständnis für die Grundbedürfnisse der Menschen – insbesondere der Jugendlichen – zu schaffen. Der generationenübergreifende Ansatz ist am erfolgversprechendsten.

Strukturen und Inhalte schneller anpassen

In einem Gespräch unter den Veranstaltenden (BJR, aj, JFF) wurden noch einmal die wichtigsten Impulse aus pädagogischer Sicht zusammengetragen.

Beatrix Benz (Aktion Jugendschutz) sieht zwar die Gefahr, dass Kinder und Jugendliche in einer Informations-Bubble verharren. Diese Gefahr bestehe aber auch für Erwachsene. Außerdem stimme sie es zuversichtlich, dass über 40 Prozent der Jugendliche auch Qualitätsmedien nutzen. Das bildet ein Gegengewicht zu TikTok und Co. Gleichzeitig bleibe das Gespräch mit den Eltern wichtig für die Orientierung von Heranwachsenden. Dem stimmte auch Kathrin Demmler (JFF) zu. Die Eltern haben zwar einen Einfluss – man müsse aber auch beachten, dass die Eltern auch eine eigene Haltung haben, die ggf., problematisch sein kann. Deshalb müssten Bildungseinrichtungen ein weiteres Korrektiv sein. Sie sehe durchaus positive Entwicklung im Medienkonsum von Jugendlichen.

Matthias Fack (BJR) betonte in dem Zusammenhang, dass Kinder und Jugendlichen die Möglichkeit des Zusammenseins und des Austauschs mit Gleichaltrigen haben. Jugendlichen werden oft unterschätzt, inwieweit sie Medieninhalte einordnen können. Sie hätten schon gelernt, sich in diesen Welten der digitalen Plattformen zu bewegen.

Eltern müssen befähigt werden, sich in Medienwelten zurechtzufinden. Die Aktion Jugendschutz bietet mit dem Elterntalk ein solches Format, das auch pädagogische Fachkräfte anspricht, so Beatrix Benz.

Für Kathrin Demmler ist der Dialog mit Kindern und Jugendlichen ein unverzichtbares Instrument der Aufklärung und Orientierung. Die Aufgabe der Pädagogik sei es in dem Zusammenhang, Räume zu schaffen, die diesen Austausch ermöglichen – quer über Generationen hinweg. Dabei darf es keine Tabuthemen geben und der Prozess muss als gegenseitiges Lernen begriffen werden. Zudem braucht es Zeit, um Medieninhalte zu verstehen und einzuordnen.

Matthias Fack sieht einen erweiterten Fachkräfte-Begriff – und schließt darin auch Ehrenamtliche ein. Für junge Menschen ist es wichtig, sich selbst erfahren zu können und nicht überbehütet zu sein. Eltern und Fachkräfte sind in dem Zusammenhang Vorbilder – das muss sich bewusst gemacht werden. Im Moment dauern jedoch strukturelle Veränderungen im Bereich (Medien)Pädagogik viel zu lang. Die Einrichtung von digitalen Streetwork*innen wurde erst durch Corona möglich, obwohl das schon früher nötig gewesen sei. Die Veränderungen im Bildungsbereich erfolgen leider nicht bedarfsorientiert und hinken der Realität hinterher.

Kathrin Demmler wirbt auch für eine Kultur des Ausprobierens. Wenn erst alle gesetzlichen Rahmenbedingen geklärt werden müssten, würde man ständig von der Realität überholt. Man müsse auch einmal ausprobieren und scheitern können; und immer das ernst nehmen, was Kinder und Jugendliche interessiert.

Beatrix Benz unterstrich, dass man nicht auf die Verabschiedung von Gesetzen warten könne – neue Strukturen in Schule und Jugendhilfe entstünden sonst viel zu langsam. Zudem müssten pädagogische Fachkräfte kontinuierlich für die medialen Herausforderungen sensibilisiert werden, damit sie gemeinsam mit Kindern und Jugendlichen Handlungsoptionen erarbeiten können. Schließlich kämen noch Themen wie Partizipation oder Inklusion hinzu. Der Bedarf der jungen Menschen muss den Diskurs bestimmen.

Am Nachmittag konnten die Teilnehmenden in vertiefenden Online- und Präsenz-Workshops diskutieren und sich austauschen. Mit über 200 Teilnehmenden war die Veranstaltung ein gelungener Auftakt in das medienpädagogische Jahr 2023.

Als Tagungsabschluss schrieb die junge Künstlerin @miriamalisa einen Song zum Tagungsthema und rückte mit diesem die derzeitigen gesellschaftlichen Krisen sowie den Umgang junger Menschen mit diesen Krisen ins Zentrum.

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